Alles begann mit einem Tweet. Sein Urheber war CHRISTIAN BUNNENBERG (Bochum), der im März 2020 auf Twitter darüber nachsinnte, wie die „Situation (historischer) Offenheit”, die der Ausbruch der Pandemie und die Verhängung eines ersten Lockdowns bereits damals zweifelsohne darstellten, für spätere Generationen möglichst nachvollziehbar vermittelbar sei. Daraus entfaltete sich in den Kommentaren eine lebhafte Diskussion, wie man es schaffen könnte, „eine größtmögliche Breite an Erfahrungen” (Bunnenberg) zu dokumentieren. So kristallisierte sich der Wunsch nach einem Archiv heraus, an dem sich jede:r beteiligen kann. Kurz darauf wurde aus der Idee ein digitales Projekt: Christian Bunnenberg, THORSTEN LOGGE (Hamburg), BENJAMIN ROERS (Gießen) und NILS STEFFEN (Hamburg) initiierten das coronarchiv. Innerhalb von drei Tagen schafften sie es, mit dem digitalen Archiv online zu gehen; zum Zeitpunkt des Workshops waren bereits über 3.000 Beiträge zusammengekommen, und viele große Medien hatten über das Projekt berichtet. Auf Einladung der AG Geschichtstheorie, eines Diskussionsforums von Historiker:innen der Universitäten Bielefeld, Gießen und Frankfurt am Main, organisierte das coronarchiv-Team einen Workshop, um das Projekt vorzustellen und archivgeschichtlich zu diskutieren. Auch hier war die Resonanz groß: Gut 50 Interessierte nahmen an dem via Webex veranstalteten Video-Meeting teil. Dass dieser Workshop digital stattfinden musste, war den Pandemie-Beschränkungen geschuldet – und zeigte, wie sehr auch das gegenwärtige Nachdenken zum coronarchiv im Zeichen der Krise stand und steht.
KATHARINA STORNIG (Gießen) eröffnete den Workshop mit dem Anstoß, den folgenden Austausch nicht nur als Diskussionsforum über die Möglichkeit eines vielstimmigen zukünftigen Erinnerns an unsere Gegenwart zu betrachten, sondern auch, um über die Art und Weise zu reflektieren, wie das Digitale die Geschichtswissenschaft und Archive in allen Bereichen des Forschens, Lehrens und Vermittelns verändert. In ihrer kurzen Projektvorstellung betonten die vier Initiatoren den partizipativen Aspekt des coronarchivs: Es biete in erster Linie eine Plattform, und die Beitragenden entschieden selbst, was sie wann und wie für die Nachwelt hinterlegen und somit dokumentieren wollten. Ein Kernanliegen sei dabei, den Beitragenden die Relevanz ihrer Alltagserfahrungen für die zukünftige Geschichtsforschung aufzuzeigen. Dass das coronarchiv noch keine „fertige” Dokumentationsstätte ist, ist den Initiatoren sehr wohl bewusst. So ist etwa die Langzeitarchivierung aufgrund datenschutzrechtlicher Herausforderungen noch nicht gesichert. Um dieses Problem zu lösen, stehen die Initiatoren bereits in Kontakt mit diversen Kooperationspartnern. Darüber hinaus ist das coronarchiv Teil eines sich im Aufbau befindenden internationalen Netzwerks. Aufgrund der Prozesshaftigkeit des Projekts ist eine inhaltliche Auswertung der Beiträge noch nicht möglich, aber Trends sind durchaus sichtbar. Dafür ist auch der Zeitpunkt der Einreichung der Beiträge wichtig: Am Anfang bestand die Dokumentation der Krise vor allem aus Abbildungen von Mangelerscheinungen einer Überflussgesellschaft (Stichwort: leere Supermarktregale). Mit anhaltenden Einschränkungen veränderte sich die gesellschaftliche Reaktion. Die Beitragenden reflektierten nun häufiger; insbesondere ihre Gefühlswelt in den ersten Wochen der Pandemie rückte verstärkt in den Fokus. Das coronarchiv dokumentiert damit den sich verändernden Umgang mit der Krise.
Im Anschluss an die Projektvorstellung folgten zwei Kommentare von Forscherinnen, die unterschiedliche Aspekte der Archivgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts untersuchen und das coronarchiv aus ihrer jeweiligen Forschungsperspektive reflektierten. Für SINA STEGLICH (London) ist das Archiv als „disziplinbildendes Imaginarium” auch von Vergessen geprägt. Vor allem sei wichtig zu fragen: Was wird vergessen? Werden nicht nur arbiträre Spuren archiviert? Auch im weiteren Verlauf ihres Kommentars näherte sie sich dem Projekt fragengeleitet: Welche Art von Archiv kann das coronarchiv sein? Was macht es besonders? Sie interessiert sich vor allem für den Themenkomplex „Zeit” und stellte auch das Verhältnis von außer- und innerarchivischer Zeitlichkeit in den Mittelpunkt.
Mit ihrem englischsprachigen Beitrag weitete RILEY LINEBAUGH (Gießen) nicht nur den sprachlichen, sondern auch den räumlichen Rahmen der Veranstaltung aus, indem sie den eurozentrischen Fokus verließ und das dokumentarische Potential neuer Technologien thematisierte. Einleitend referierte sie über Verfassungsproteste in Kenia, bei denen die Polizei die Mobilgeräte der Demonstrant:innen konfiszierte und somit eine Dokumentation des Protestes verhinderte. Linebaugh verwies darüber hinaus auf wichtige Veränderungen in der Archivgeschichte und den Archivierungspraktiken des 20. Jahrhundert und schlug vor, diese in engem Zusammenhang mit sozialen und politischen Entwicklungen zu sehen. Ihr zufolge sollte die Funktion der Archive auch sein, die Gesellschaft und ihre Ungerechtigkeiten widerzuspiegeln und Geschichte nicht nur im Sinne der Herrschenden zu dokumentieren. So stellte sie lobend heraus, dass das coronarchiv die Gesellschaft zur Gestaltung und Dokumentation ihrer eigenen Vergangenheit befähige, kritisierte aber gleichzeitig eine fehlende Reflexion sowohl der zugrundeliegenden Muster von Teilhabe und Nicht-Teilhabe als auch der Einbettung in bestimmte soziale Netzwerke und akademische Strukturen. Sie forderte die Initiatoren auf, eine Konservierung möglichst diverser Erfahrungen in der Pandemie zu ermöglichen.
Der Workshop näherte sich der Materie nicht nur aus wissenschaftlicher Sichtweise. Mit der Saxophonistin Anne La Sastra (Hamburg) ließ man gewissermaßen auch eine Zeitzeugin zu Wort kommen. Sie sprach sowohl über ihre persönlichen Erfahrungen als Berufsmusikerin, z.B. die Fensterkonzerte, als auch über ihre Motivation, zum coronarchiv beizutragen – vor allem mit Videos von kreativen, coronakonformen Musikdarbietungen.
Fragen der Diversität waren auch in der abschließenden Diskussionsrunde in unterschiedlichen Kontexten präsent: Wer trägt zum Archiv bei? Wer kann beitragen bzw. wer hat die Kraft oder überhaupt die Möglichkeit beizutragen? Diese Fragen wurde am Beispiel der sogenannten Risikogruppen erörtert; in der Tat sind die Perspektiven von Senior:innen und von Menschen mit Beeinträchtigungen und chronischen Erkrankungen im coronarchiv bisher eher unterrepräsentiert. Die Problematik ist den Initiatoren sehr wohl bewusst. Es entspräche nicht der Zielsetzung des coronarchivs, nur die „weiße Wohlstandsgesellschaft“ (Logge) abzubilden, sondern Veränderungen im Alltag der Breite der Gesellschaft. Vereinzelte Beiträge gewähren zwar schon Einblick in prekäre Situationen, die Menge soll aber noch erhöht werden. So versuche das coronarchiv-Team z.B., über unterschiedliche Kanäle diversere gesellschaftliche Gruppen zu erreichen. Die sozialen Medien spielen dabei eine wichtige Rolle – das coronarchiv ist neben Twitter auf Facebook, Instagram und TikTok aktiv. Auch wurden gezielt Interessenverbände jener bisher noch Unterrepräsentierten zur Beteiligung aufgerufen.
Ein zweiter großer Komplex, der die Diskutierenden interessierte, sind die Selektionskriterien und die Natur des Archivs. Prinzipiell nimmt das coronarchiv alles an, was mit der Pandemie zu tun hat – Diskriminierungen und Hate Speech werden jedoch keine Bühne geboten. Gespeichert werden solche Beiträge allerdings sehr wohl – auch sie sollen den Historiker:innen der Zukunft als Orientierungshilfe dienen, um die Pandemieerfahrungen gesamtgesellschaftlich einzuordnen. Die „Natur“ des coronarchivs wurde kontrovers diskutiert. Insbesondere ging es um die Frage, welche Art Dokumente es beinhaltet und in welchem Verhältnis das Archiv mit seinen Inhalten zu Social-Media-Plattformen steht. Oder anders gefragt: Handelt es sich um ein Archiv oder eine Verarbeitungsmöglichkeit? Laut den Initiatoren gehe es bei den Exponaten tatsächlich oft um eine erfahrungsbasierte Verarbeitung der Krise, aber diese Verarbeitung werde eben auch archiviert. Zusätzlich gab es Austausch im Hinblick auf die technische Umsetzung des coronarchivs, etwa alternative Digitalisierungsformate und die dringliche Frage der Langzeitspeicherung.
Projekten dieses Maßstabs geht in der Regel eine sehr lange Planungsphase voraus, entsprechend groß ist auch das Organisationsteam. Umso bemerkenswerter ist die Leistung der vier Initiatoren (die durch ein neunköpfiges, anfangs ehrenamtlich tätiges studentisches Team unterstützt wurden), das coronarchiv in gerade einmal drei Tagen ins Netz gebracht zu haben – und das mit großem Erfolg. Neben vielfachen Beiträgen gibt es zahlreiche Kooperationen (darunter eine Mitmach-Aktion für Kinder und Jugendliche in Zusammenarbeit mit der Körber-Stiftung) und eine mediale Präsenz auch außerhalb der wissenschaftlichen Community. Darüber hinaus scheint das coronarchiv ein relevanter Lern-/Lehr- und Forschungsort für ein systematisches Nachdenken über Wandlungsprozesse der (digitalen) Geschichtswissenschaft zu sein. Thorsten Logge betonte beispielsweise, die Natur des Archivs zeichne sich durch Transformation, nicht durch Konservierung aus. Dieses Spannungsfeld spiegele sich auch im Namen des Projekts wider; das definitive Urteil über den Namen und somit auch die Gattung des coronarchivs müsse zukünftigen Generationen überlassen werden. Es handele sich bei dem Archiv schließlich um eine Quellensammlung für zukünftige Historiker:innen. Somit sei es ebenfalls deren Aufgabe, die Relevanz und Authentizität dieses Archivs zu bestimmen. Wie in der Diskussion angeklungen, wären vielfältigere Beiträge im coronarchiv wünschenswert. Es gilt jedoch hervorzuheben, dass es sich dabei um ein Anliegen der Initiatoren handelt, die sich dieser Mammutaufgabe mit viel Eifer stellen. Klar ist aber auch: Die Steigerung der Diversität dieses digitalen Archivs wird auch in der Zukunft eine Herausforderung bleiben. Das liegt hauptsächlich daran, dass es sich bei dem coronarchiv zwar um ein an alle gerichtetes Angebot handelt, eine Partizipation aber eben nicht erzwungen werden kann.
Das coronarchiv zeigt wieder einmal die Chancen und Grenzen von Citizen-Science-Projekten auf. Und aus den gemachten Erfahrungen wird bereits gelernt: Die Initiatoren sind schon dabei, mit ihren Kooperationspartner:innen weiterführende Vorhaben zu planen und umzusetzen.
Konferenzübersicht:
Einführung: Katharina Stornig (Justus-Liebig-Universität Gießen)
Projektvorstellung: Christian Bunnenberg (Ruhr-Universität Bochum), Thorsten Logge / Nils Steffen (Universität Hamburg), Benjamin Roers (Justus-Liebig-Universität Gießen)
Kommentare: Riley Linebaugh (Justus-Liebig-Universität Gießen) und Sina Steglich (Deutsches Historisches Institut London)
Zeitzeuginbericht: Anne La Sastra (Hamburg)
Abschlussdiskussion