Dissertant:innentagung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 2021

Dissertant:innentagung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 2021

Organisatoren
Fachbereich Geschichte, Paris-Lodron-Universität Salzburg
Ort
digital (Salzburg)
Land
Austria
Vom - Bis
19.04.2021 - 20.04.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Marlene Horejs, Fachbereich Geschichte, Paris-Lodron-Universität Salzburg

Die Gastgeber:innen Martin Knoll, Robert Moretti, Katharina Scharf und Georg Stöger vom Fachbereich Geschichte der Paris-Lodron-Universität Salzburg hatten in Kooperation mit Austrian Economic and Social Historians (AESH), Environmental History Cluster Austria (EHCA) und European Society for Environmental History (ESEH) zu einem diversen Programm aus Vorträgen und Diskussionen über laufende Dissertationsprojekte eingeladen. Außerdem war ein Roundtable zum Austausch über den aktuellen Stand der dahingehenden österreichischen Forschung organisiert. Das letzte Panel und die Keynote von Anna-Katharina Wöbse schließlich bildeten auch einen Beitrag zur internationalen rEnvironmental History Week. Auf die Vorstellung der jeweiligen Dissertationsprojekte folgten die bewährten Feedbackrunden durch „Peers“ und „Seniors“ auf der Grundlage vorab zur Verfügung gestellter Papers. Vor allem dank der intensiven Auseinandersetzung der Kommentator:innen und ihrer konstruktiven Rückmeldungen wurde die Diskussion durch vertiefende Besprechung bereichert und die Konferenz damit ihrem primären Ziel der Vernetzung und der Diskussion von Forschungsergebnissen gerecht.

Einführenden Worten von Martin Knoll (Salzburg) folgte ein wirtschaftshistorisches Panel mit zwei Vorträgen, die – wenngleich räumlich und thematisch unterschiedlich – methodisch ein quantitativer Zugang verband. TOMAZ MESARIC (Budapest) referierte über die Finanzmarktentwicklung in den sogenannten Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie in der Zwischenkriegszeit. Anhand einer statistischen Auswertung unterschiedlicher Parameter umfangreicher Finanzdaten an den österreichischen, ungarischen, tschechoslowakischen und jugoslawischen Börsen arbeitet Mesaric in seiner Dissertation diesen wirtschaftshistorisch „vergessenen Markt“ auf. In seiner Präsentation zeigte er am Beispiel der Tschechoslowakei, wie die Vernetzung der nationalen Aktiengesellschaften mit dem „alten Zentrum“ Wien auch über das Bestehen der Monarchie hinaus bestand. Trotz des Trends hin zu einer globalen Ausrichtung vor allem in Richtung New York behielt die Wiener Börse bis zum Zweiten Weltkrieg ihre Funktion als Drehscheibe. Die anschließende Diskussion widmete sich unter anderem der Frage, wie dieser Befund für die „Nachfolgestaaten“ insgesamt geltend gemacht werden könne.

Das präsentierte Paper – Teil eines breiteren Forschungsprojektes – von LAURA WURM (Belfast) fokussierte die allgemeine Presse- und Medienlandschaft als fruchtbare Quelle für die Analyse von Spekulationsblasen. Dafür wurde „bubbly language“ in Artikeln ausgewählter Zeitungen wie der „Times“ identifiziert, anhand derer auch bislang übersehene Wirtschaftsblasen des Vereinigten Königreichs von 1824 bis 1913 erkannt, systematisiert und erklärt werden. Wurm stellte die methodische Herangehensweise aus quantitativer Erhebung narrativer Strukturen und qualitativer Interpretation vor, ebenso wie Teilergebnisse, die zu einer revidierten Chronologie von „bubbles“ und „near-bubbles“ führen könnten. Verschiedene methodische Fragen beispielsweise zur Gewichtung von Artikeln wurden im Anschluss ebenso diskutiert wie erweiterte Forschungsperspektiven, die das Projekt ermöglicht.

In seinem sozialgeschichtlichen Dissertationsprojekt nimmt sich ALEXANDER KLEISS (Salzburg) der (auch in der Forschung) marginalisierten Gruppe jüdischer Psychiatriepatient:innen im nationalsozialistischen Österreich an. Für seinen Vortrag konzentrierte er sich auf jenen Teil der Arbeit, der sich auf das große Quellenkorpus der Krankengeschichten und Krankenakten in Wiener und Oberösterreichischen Archiven stützt. Die präsentierten Quellenauszüge veranschaulichten die vorgelegte These, dass Euthanasie nicht lediglich als Vorstufe des Genozids zu betrachten sei, sondern einen integrativen Bestandteil desselben bilde. Außerdem verdeutlichten die von Kleiß analysierten Quellen die multiple Diskriminierung, denen jüdische Psychiatriepatient:innen ausgesetzt waren. Vor allem der gewinnbringende Einsatz von Intersektionalitätstheorien, gerade für die Psychiatriegeschichte, wurde daraufhin debattiert.

Den Abschluss des ersten Tages bildete eine Reise quer durch die österreichische Forschungslandschaft der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte. Am virtuellen Roundtable trafen sich Vertreter:innen der kooperierenden Forschungsinstitute (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Institut für Soziale Ökologie und Zentrum für Umweltgeschichte der Universität für Bodenkultur Wien, Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Linz, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Innsbruck, Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg) und stellten laufende Projekte vor. Auch der Umstand, dass Interdisziplinarität zwar wissenschaftlicher Segen, aber in der institutionellen Praxis mitunter bürokratischer Fluch sein kann, wurde anhand aktueller Beispiele von Ausbildungsmöglichkeiten für Nachwuchswissenschafter:innen thematisiert.

Der zweite Nachmittag begann mit einem Vortrag zur Pornographiegeschichte Österreichs. PAUL HORNTRICH (Wien) stellte als erstes Fallbeispiel seiner Doktorarbeit die Diskursgeschichte rund um den Film „Die Sünderin“ (1951) von Willi Forst vor. Anhand der Skandalisierung des zugleich überaus populären Films machte er die Notwendigkeit deutlich, Pornographie innerhalb des jeweiligen zeitlichen wie gesellschaftlichen Kontextes zu analysieren. Der Diskurs zur „Sünderin“ legte nahe, dass weder Nacktheit noch Sex Voraussetzung dafür sind, damit etwas als anstößig gilt. Über den Vortrag hinaus boten die Verbindung des österreichischen Opfernarrativs der frühen Nachkriegszeit mit der Pornographiedebatte über das filmische Beispiel ebenso wie die spezifische Rolle der katholischen Kirche Diskussionsstoff.

Im Rahmen der Environmental History Week widmete sich der letzte Teil der Tagung der Umweltgeschichte. Die beiden Vorträge verband die Thematisierung von Ernährung und Nahrungsmittelproduktion; sie spannten einen Bogen von Lateinamerika bis ins Weltall. Mit seiner Präsentation zu Spin-Off-Projekten der NASA holte ALWIN CUBASCH (Innsbruck) Weltraumessen zurück auf die Erde. In seinem Dissertationsprojekt beleuchtet er das Thema „space food“ aus mehreren Richtungen – für seinen Vortrag konzentrierte er sich auf jenen Teil, der den Weg der einstigen „Astronautennahrung“ auf die Tische der Amerikaner:innen und damit in den Alltag der 1970er-Jahre analysiert. Bildreich veranschaulichte Cubasch, wie „space food“ – geprägt von Vorstellungen technologischen Fortschritts und gesellschaftlicher Zukunft – über diverse Projekte als Convenience-Produkte vermarktet wurde. Die Frage, ob die gesellschaftliche Einstellung zu Gesundheit und Natürlichkeit von Nahrungsmitteln den Umgang mit dem Weltraumessen änderte, wurde danach ebenso diskutiert wie eine Bandbreite an thematischen Anknüpfungspunkten – von Männlichkeitsbildern bis zu konkreten Verbindungen zum Militär.

Um eine gänzlich andere Art der Lebensmittelproduktion ging es PETRA MACHOLD (Wien), die ihr Dissertationsprojekt zur Zuckerproduktion im kolonialen Quito des 18. Jahrhunderts vorstellte. Dass der Zuckerrohranbau relativ komplexen Voraussetzungen unterlag und der Erfolg der Produktion unterschiedlicher Güter von diversen sozialen und ökologischen Bedingungen abhing, zeigte Machold am Beispiel einer großen Hazienda. Die Auswertung von detaillierten Quellen wie Inventarlisten ermöglicht dabei einen genauen Blick auf den gesamten Produktionsprozess, von der Einsetzung von Sklaven bis zur Frage der Energieversorgung. Dadurch wurde deutlich – das unterstrich auch der Peer-Kommentar –, wie stark der globale Lebensmittelmarkt mit den spezifisch regionalen Bedingungen bereits im 18. Jahrhundert verwoben war (und bis heute ist).

Zum Abschluss der Tagung stellte ANNA-KATHARINA WÖBSE (Gießen) in ihrer Keynote die Verknüpfung von Geschlechtergeschichte und Umweltgeschichte ins Zentrum, die – wie sie betonte – nicht schlichtweg eine Geschichte der Frauen innerhalb umweltgeschichtlicher Forschung abbilden solle. Vielmehr appellierte sie für die Etablierung einer „entangled history of gender and environmental history“, die beiden Dimensionen gleichermaßen gerecht werden sollte. Um Probleme und Möglichkeiten des Themas zu demonstrieren, führte Wöbse beispielhaft Überlegungen zu einzelnen sozialen Bewegungen aus. Eine eingangs vorgelegte Fotografie der britischen „Royal Society for the Protection of Birds“ aus dem 19. Jahrhundert verbildlichte dabei eine grundlegende Schwierigkeit der Geschlechtergeschichte: Auf den ersten Blick sind nur die abgelichteten Männer als Akteure der Umweltbewegung sichtbar, während die Aktivität der maßgeblich mitwirkenden Frauen erst nach genauerer Analyse des historischen (Entstehungs-)Kontextes der Fotografie zu Tage tritt. Auch bei der Erforschung der Naturschutzbewegung im Alpenraum müssen Frauen vielfach erst gesucht werden, mit Gender History ist jedoch auch diese Umweltgeschichte unweigerlich verknüpft. Wöbse legte zum Beispiel dar, dass sich mit der Erweiterung der wissenschaftlichen Betrachtung über die offiziellen Handlungsräume hinaus die soziale Diversität beteiligter Personen vergrößere. Auch könne über narrative Verknüpfungen von Natur und Geschlecht der gesellschaftliche Umgang mit der Umwelt und ihrer Geschichte erklärt werden, beispielsweise anhand der „wilden Natur“ als Ort für Abenteu(r)er im Gegensatz zu einer Ästhetisierung der „Schönheit der Natur“.

Wöbses Vortrag und die darauffolgende Diskussion, die bis zur gegenwärtigen geschlechterspezifischen Vermarktung ökologischer Hygieneprodukte reichte, führte die Fülle an Forschungsperspektiven vor Augen und rundete so mit einem weiteren Aspekt der WSU die thematisch breite Tagung ab. Die Tagungsreihe wird im nächsten Jahr fortgesetzt.

Konferenzübersicht:

Tomaz Mesaric (Budapest): Der vergessene Markt. Kurswechsel an den Börsen Österreichs,
Ungarns, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens in der Zwischenkriegszeit, 1918-1938

Senior Kommentar: Walter Iber (Graz)
Peer Kommentar: Laura Wurm (Belfast)

Laura Wurm (Belfast): Spekulation und deren Auswirkungen: „Bubbles“ im Vereinigten
Königreich, 1824-1913

Senior Kommentar: Clemens Jobst (Wien)
Peer Kommentar: Tomaz Mesaric (Budapest)

Alexander Kleiß (Salzburg): Jüdische Psychiatriepatient:innen in Österreich im
Nationalsozialismus 1938-1945

Senior Kommentar: Maria Elisabeth Heidegger (Innsbruck)
Peer Kommentar: Paul M. Horntrich (Wien)

Roundtable

Maria Stella Chiaruttini (Wien), Verena Winiwarter (Wien), Walter Iber (Graz), Thomas Krautzer (Graz), Ernst Langthaler (Linz), Maria Elisabeth Heidegger (Innsbruck), Martin Knoll (Salzburg), Georg Stöger (Salzburg)

Paul M. Horntrich (Wien): Porno im Wiederaufbau: Die Rezeption sexualisierter Medien im
Nachkriegsösterreich am Beispiel von Willi Forsts „Die Sünderin“ (1951)

Senior Kommentar: Alfred Weiß (Salzburg)
Peer Kommentar: Alexander Kleiß (Salzburg)

Alwin Cubasch (Innsbruck): From Space to Home: NASA's spin-off projects to establish space food on American dining tables in the 1970s

Senior Kommentar: Verena Winiwarter (Wien)
Peer Kommentar: Petra Machold (Wien)

Petra Machold (Wien): Colonial sugar production in the periphery of Quito, Ecuador in the late 18th century. An environmental history of provision management

Senior Kommentar: Martina Kaller (Wien)
Peer Kommentar: Alwin Cubasch (Innsbruck)

Keynote

Anna-Katharina Wöbse (Gießen): The place of gender in contemporary Austrian and European environmental history


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Deutsch
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