Historische Grundlagen der mobilen Gesellschaft: Die Entwicklung von Verkehrsinformationssystemen vom analogen Verkehrsfunk zur digitalen Navigation

Historische Grundlagen der mobilen Gesellschaft: Die Entwicklung von Verkehrsinformationssystemen vom analogen Verkehrsfunk zur digitalen Navigation

Organisatoren
DFG-Projekt „Historical Fundaments of the Mobile Society: Path (Inter-)Dependencies in Traffic Information Systems“, Universität Siegen
Ort
digital (Siegen)
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.07.2021 - 02.07.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Matthias Röhr / Isabella Willeke, Universität Siegen

Die technik- und wirtschaftshistorische Konferenz hatte das Kernanliegen, Verkehrslenkung als zentralen Bestandteil einer mobilen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen. Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem historischen Wandel und den wechselnden Zielen von Verkehrslenkungsmaßnahmen – von den frühen Versuchen, die Autofahrenden mittels Verkehrswarnungen im Rundfunk zu lenken bis hin zu Visionen des autonomen Fahrens und den heute verfügbaren digitalen Navigations- und Stauwarnungssystemen.

In ihrer Begrüßung führten CHRISTIAN HENRICH-FRANKE und VEIT DAMM (beide Siegen) aus, dass Mobilität heute ein selbstverständlicher Bestandteil des modernen Lebens in Europa ist. Dabei habe insbesondere der Siegeszug des privaten PKWs die europäischen Gesellschaften seit den 1960er-Jahren mobil gemacht. Doch mit ihm wurden auch Erfahrungen von Immobilitäten in Form von Staus, Unfällen und Verkehrsstörungen zum allgegenwärtigen Phänomen. Die ökonomischen Schäden sind immens; im Zeitalter der „Just-in-time-Produktion“ können Staus auf Autobahnen oder auch kleinste Störungen im Schiffs-, Flugzeug- oder Bahnverkehr hohe finanzielle Verluste nach sich ziehen. Bereits in den 1960er-Jahren hatten Verkehrsplaner einen drohenden Kollaps aller Verkehrsträger prognostiziert, der kostengünstig vor allem mit Maßnahmen der Verkehrslenkung verhindert werden könne. In der Folge wurde die Lenkung der unterschiedlichen Verkehrsströme zu einem zentralen Baustein der Verkehrspolitik. Zur historischen Analyse dieser Entwicklung schlugen Damm und Henrich-Franke das theoretische Konzept der Pfadabhängigkeit vor. Die Wechselwirkungen technischer, institutioneller und medialer Entwicklungspfade könnten damit sichtbar gemacht werden.

Zu Beginn der ersten Sektion zu Verkehr und mobiler Gesellschaft an der Schwelle zur digitalen Wende ordnete WEERT CANZLER (Berlin) den aktuellen Stand der Verkehrsentwicklung historisch ein. Vor allem der Individualverkehr sei in hohem Maße von Routinen, Habitus sowie den Bedürfnissen nach Eigenraum und Eigenzeit geprägt, wodurch sich Veränderungen nur langsam vollziehen können. Der private PKW sei dabei seit der Mitte des 20. Jahrhunderts durch Projekte wie die autogerechte Stadt zum Mittelpunkt und Symbol eines mobilen und auf Autonomie bedachten Lebensstils geworden, seine Bedeutung habe in den letzten Jahren allerdings abgenommen.

OLIVER MICHLER (Dresden) legte den Schwerpunkt auf die technische Entwicklung der Verkehrsnavigation. Vor allem die Entwicklung der Mikroelektronik habe seit den 1960er-Jahren dazu geführt, dass sich die mobile Verfügbarkeit von Verkehrsinformationen deutlich verbessert habe. Musste der Autofahrer in den Anfangsjahren noch mühselig mit Karte und Kompass navigieren, wurde er später vom Autoradio unterstützt, das Verkehrsnachrichten im Rundfunk automatisch identifizieren und lautschalten konnte. Seit den 1980er-Jahren gewann die digitale Übertragung von Verkehrsdaten an Bedeutung, die automatisiert von GPS-basierten Navigationssystemen ausgewertet werden konnten. Michler betonte, dass sich Verkehrsnavigation nicht allein auf die Straßen beschränken dürfe. Um die spezifischen Vorteile der verschiedenen Verkehrsträger wie Schiene, Luft und Wasser zu nutzen, müssten neuere Systeme die intermodalen Übergänge stärker in den Blick nehmen.

Einen anderen Fokus setzte JENS IVO ENGELS (Darmstadt), der mit seinem theoretisch-konzeptionellen Vortrag die Temporalität von Verkehr in den Vordergrund rückte. Wie die meisten Ausformungen menschlichen Lebens folge auch Verkehr gewissen Rhythmen, was sich in dem An- und Abschwellen täglicher, saisonaler oder konjunktureller Verkehrsströme zeige. Verkehrslenkung bedeute daher ebenso, diese Zyklen zu berücksichtigen und Verkehrsströme auch temporal zu entzerren.

Die zweite Sektion widmete sich der Geschichte der Verkehrsplanung und Verkehrslenkung und dehnte den zeitlichen Horizont bis in die 1930er und 1940er-Jahre aus. Zunächst thematisierte CHRISTIAN HENRICH-FRANKE (Siegen) die Verkehrslenkung am Rhein. Eine Herausforderung des Rheinverkehrs bestand in der räumlichen Enge des Verkehrsweges: Störungen konnten nicht einfach umfahren werden, sondern legten oftmals den gesamten Schiffsverkehr lahm. Das Problem immer wieder auftretender Havarien wurde 1957 – zunächst allerdings unintendiert – mit dem in Brüssel von den Rheinanliegerstaaten unterzeichneten Abkommen über die Errichtung eines internationalen UKW-Rheinsprechfunknetzes angegangen. Als Instrument der Verkehrslenkung wurde der Rheinsprechfunk allerdings erst allmählich entdeckt und folgte dabei dem Vorbild des Straßenverkehrs.

Das Verkehrsmittel Bahn und seine politische Verkehrslenkungsfunktion standen bei CHRISTOPHER KOPPER (Bielefeld) im Mittelpunkt. Wie Kopper ausführte, geriet die Bahn in der Zeit des Wirtschaftswunders gegenüber der Straße verkehrspolitisch ins Hintertreffen und wurde mit teilweise widersprüchlichen politischen Funktionen überlastet. So sollte die Bundesbahn Überschüsse für den Bundeshaushalt erwirtschaften, durch Sozialtarife und Beschäftigungspolitik aber gleichzeitig auch innen- und sozialpolitische Funktionen übernehmen. Als Folge dieser Überlastung konnte die Bahn in den 1950er- und 1960er-Jahren nur unzureichend in Modernisierung investieren, wodurch immer mehr Verkehr auf die zunehmend überlastete Straße verlagert wurde. Erst Ende der 1960er-Jahre wurde die Bahn, etwa durch den Bau von S-Bahnen, als Instrument einer gestaltenden Verkehrspolitik wiederentdeckt.

BERND KREUZER (München), in der Vergangenheit selbst als Verkehrsplaner tätig, legte mit seinem Vortrag zur Verkehrsplanungsgeschichte der oberösterreichischen Autobahnen den Schwerpunkt auf die Geschichte der Verkehrslenkung zu touristischen Zwecken. Touristische Reisen stellten für die Verkehrslenkung ein Schlüsselproblem dar, da sie seit den 1960er- und 1970er-Jahren zunehmend mit der Überlastung von Straßen in den Ferien und daher mit Staus und Unfällen verbunden waren. Infolge des Booms des Massentourismus versprachen straßenbauliche Investitionen allerdings weder kurz- noch langfristig eine Lösung der Probleme, da das Verkehrsaufkommen ebenso schnell anwuchs. In den Planungen der oberösterreichischen Autobahnen in den 1930er- und 1940er-Jahren wurden Überlegungen zur Verkehrslenkung und Möglichkeiten, potenzielle Überlastung abzumildern, jedoch nicht einbezogen, wie Kreuzer ausführte. Im Gegenteil: Eine verkehrstechnische Notwendigkeit für die Straßenneubauten gab es nicht. Vielmehr verfolgten die Bauvorhaben vor allem das Ziel, Arbeitslosigkeit zu reduzieren; außerdem sollten möglichst wohlhabende Touristen mit dem Automobil in die Region gelockt werden, um einen Autotourismus überhaupt erst zu etablieren. Kreuzers Beitrag verwies insofern auch auf die Bedeutung wechselnder Ziele der Verkehrsplanung bei der historischen Erforschung von Mobilität und Verkehrsstörungen.

Im ersten von drei Vorträgen der dritten Sektion, die sich der Geschichte des Verkehrsfunks als Instrument der Verkehrssteuerung zuwandte, rekapitulierte VEIT DAMM (Siegen) zunächst die Entstehungsgeschichte von Verkehrsnachrichten im deutschsprachigen Raum und deren europäische Ausbreitung. Mit einer per Rundfunk übertragenen „nationalen Autofahrerwelle“ sollten die Autofahrer vor Staus und Unfällen gewarnt und diese – so die ursprünglichen Hoffnungen des Bundesverkehrsministers – weitestgehend vermieden werden. In der bundesdeutschen Rundfunklandschaft der späten 1960er-Jahre war ein bundesweit einheitlicher Sender für Autofahrer allerdings nicht durchsetzbar, stattdessen nahmen die regionalen Landesrundfunkanstalten Verkehrsnachrichten in ihr Programm auf. Mit der Entwicklung des ARI-Systems (Autofahrer-Rundfunk-Informationssystem) wurde der Verkehrsfunk ab 1974 allerdings technisch vereinheitlicht. Mit dem System konnten neuere Autoradios beim Wechsel von Sendegebieten automatisch auf den nächsten Verkehrsfunksender umschalten und bei wichtigen Durchsagen das Radio einschalten.

Anschließend widmete sich JÖRG WEHLING (Berlin) der Geschichte und dem Wandel von Verkehrsnachrichten beim Deutschlandfunk von der ersten Verkehrsmeldung 1964 bis zur letzten Meldung 2020. Wehling betonte, dass die ersten Verkehrsmeldungen noch auf langen Informationsketten beruhten und nur in Kombination mit den Nachrichten gesendet wurden. In den 1970er-Jahren gab es an verschiedenen Autobahnraststätten dann Infotheken, in denen die Meldungen nachträglich abgehört werden konnten. Obwohl Verkehrsnachrichten lange eine wichtige Rolle im Programm eingenommen hatten, wurden sie schließlich auf der Basis von Hörer-Umfragen abgesetzt.

RÜDIGER MALFELD (Köln), FRITZ BOLTE (Bergisch Gladbach) und THOMAS KUSCHE-KNEŽEVIĆ (Köln) befassten sich mit der Entwicklung von TMC (Traffic Message Channel) in den frühen 1990er-Jahren. Dieser Dienst habe erstmalig maschinenlesbare Verkehrsinformationen über Rundfunk für ein Massenpublikum zugänglich gemacht und damit die Grundlage für eine moderne, verkehrslagenabhängige Routenführung durch Navigationsgeräte geschaffen. Am Anfang der Planung habe allerdings eine andersartige Idee die Beteiligten zusammengeführt: Der Verkehrsfunk sollte mit synthetischer Spracherzeugung im Autoradio revolutioniert werden. Nach einer langen Blütephase, die nur noch wenig an diese ursprüngliche Idee erinnerte, sei der Dienst in den letzten Jahren vom Smartphone ersetzt worden.

In der vierten Sektion stand schließlich die Entwicklung von fahrzeugseitigen Verkehrsinformationssystemen im Mittelpunkt. MANFRED GRIEGER (Wolfsburg/Göttingen) beleuchtete die Auseinandersetzung mit der Fahrzeugkommunikation bei Volkswagen aus einer unternehmenshistorischen Perspektive. Das Thema sei für den Konzern insbesondere aus Marketinggründen wichtig gewesen, wobei es abzuwägen galt, ob die entsprechenden Technologien von außen eingekauft oder selbst entwickelt werden sollten. Während in den frühen 1990er-Jahren noch die Idee der Verflüssigung von Verkehrsströme durch Fahrzeugkommunikation eine zentrale Rolle gespielt hätte, veränderten sich danach die Ziele des Unternehmens. Statt der Vermeidung von Staus rückte nun die Frage in den Vordergrund, wie die Zeit im Auto effektiv genutzt werden könne. Für VW konstatierte Grieger allerdings, dass die geringen Chancen einer wirtschaftlichen Verwertbarkeit nur wenig Spielraum für die technische Entwicklungsarbeit ließen.

MARCO SECCI (Bochum) thematisierte die Geschichte der Fahrzeugkommunikationstechnik am Beispiel des autonomen Fahrens. Nach einer ersten Phase der technischen Utopien zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren erfolgte zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren Grundlagenforschung, die in den 2000er-Jahren in die angewandte Forschung überging. Secci führte aus, dass sowohl in der Bundesrepublik als auch in den USA zunächst militärische Forschungsteams, die über entsprechende finanzielle Ressourcen verfügten, die Grundlagenforschung vorantrieben, bevor die Automobilhersteller in die angewandte Forschung einstiegen, was durch neuere Ziele wie Umweltschutz, Verkehrslenkung und Sicherheit begünstigt wurde.

Am Ende der Tagung stand die Erkenntnis, dass die technik- und wirtschaftshistorische Geschichtsschreibung im Bereich der Verkehrslenkung noch stark auf die Straße und das Automobil fokussiert ist, während die Verkehrslenkung im Schiffs-, Bahn- und Luftverkehr sowie die Wechselwirkungen zwischen den Verkehrsarten noch weitgehend unerforscht sind. Hier wird in den nächsten Jahren noch Grundlagenarbeit zu leisten sein.

Konferenzübersicht:

Christian Henrich-Franke / Veit Damm (Siegen): Begrüßung und Einführung: Historical Foundations of the Mobile Society: Path (Inter-) Dependencies in Traffic Information Systems

Sektion I: Verkehr und mobile Gesellschaft an der Schwelle zur digitalen Wende

Weert Canzler (Berlin): Verkehr und digitale Mobilität – nach über 100 Jahren private „Rennreiselimousine“. Ändern Elektrifizierung und Digitalisierung alles?

Oliver Michler (Dresden): Eine wissenschaftlich-technische und didaktische Reise über vier Jahrzehnte. Von der manuellen Straßenkartennavigation über elektronische Navigationssysteme bis zum autonomen Fahren

Jens Ivo Engels (Darmstadt): Verkehr als gelenkte Bewegung – konzeptionelle Überlegungen

Matthias Röhr (Siegen): Kommentar

Sektion II: Geschichte der Verkehrsplanung und Verkehrslenkung

Christian Henrich-Franke (Siegen): Verkehrsplanung und Verkehrslenkung am Rhein

Christopher Kopper (Bielefeld): Die Bundesbahn in der verkehrspolitischen Planung der Bundesregierung

Bernd Kreuzer (München): Verkehrsplanungsgeschichte im 20. Jahrhundert – das Beispiel der oberösterreichischen Autobahnen

Christopher Neumaier (Potsdam/Hamburg): Kommentar

Sektion III: Geschichte des Verkehrsfunks als Instrument der Verkehrssteuerung

Veit Damm (Siegen): Stau, Unfälle und Verkehrslenkung in der mobilen Gesellschaft. Die Geschichte von Verkehrsinformationssystemen zwischen analogem Verkehrsfunk und digitaler Navigation 1960 bis 2010

Jörg Wehling (Berlin): Geschichte und Wandel von Verkehrsnachrichten beim Deutschlandfunk 1964 bis 2020

Rüdiger Malfeld / Fritz Bolte / Thomas Kusche (Köln): Kooperationen des WDR mit der Bundesanstalt für Straßenwesen in den Bereichen Verkehrsfunk und Verkehrstelematik 1994 bis 2008

Sektion IV: Historische Entwicklung von Verkehrsinformationssystemen

Manfred Grieger (Wolfsburg/Göttingen): Fahrzeugkommunikation. Von der Stauvermeidung zum Geschäftsfeld

Marco Secci (Bochum): Die Geschichte der Fahrzeugkommunikationstechnik 1980 bis 2000

Boris Gehlen (Stuttgart): Kommentar

Abschlussdiskussion


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