Was beim Ersten Weltkrieg mittlerweile fast selbstverständlich ist – dass Historiker:innen verschiedener beteiligter Nationen bei seiner Erforschung zusammenwirken – ist beim Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 lange ein Desiderat geblieben. Einen Schritt in diese Richtung hat die von Tobias Arand (Ludwigsburg), Frank Becker (Duisburg-Essen) und Christian Bunnenberg (Bochum) geleitete Tagung unternommen, bei der deutsche und französische Referent:innen auftraten und miteinander ins Gespräch gebracht wurden. Die Leitfrage richtete sich dabei auf die Modernität des Krieges von 1870/71, dessen Doppelcharakter als einerseits traditioneller Kabinettskrieg, andererseits moderner industrialisierter Volkskrieg, der viele Phänomene der Kriegführung des 20. Jahrhunderts vorwegnahm, von der neueren Forschung betont wird. Das 150jährige Gedenken an den Krieg und zwei daran geknüpfte Staatsgründungen (Dritte Französische Republik und Deutsches Kaiserreich) gab überdies Anlass, der Erinnerungskultur und ihrer geschichtspolitischen Überformung besonderes Augenmerk zu widmen.
Sektion I (Der Krieg als Ereignis und als Motor der Moderne /La guerre comme événement et comme moteur de la modernité) wurde in diesem Sinne von WOLFGANG HASBERG (Köln) eröffnet, der den Krieg von 1870/71 als Gegenstand historischer Zäsurierungen in der europäischen Erinnerungskultur behandelte. Anschließend fragte FRANK BECKER (Duisburg-Essen) aus deutscher und französischer Perspektive nach den Formen von Feindschaft und Verfeindung, die im Verlauf des Krieges entstanden und die „Entfeindung“ der Kontrahenten in den Folgejahren erschwerten. Einen hierfür wichtigen Aspekt untersuchte CLEMENS KLÜNEMANN (Ludwigsburg): die Ethnisierung des Politischen, die schon auf die folgenden Kriege zwischen den beiden Mächten 1914-18 und 1939-45 vorauswies. FRANÇOIS COCHET (Metz) stellte die beiden französischen Armeen, die vor und nach dem 4. September 1870 kämpften, im Hinblick auf Ideologie und Kampftechnik gegenüber. DANIELA AHRENS-WIMMER (Mannheim) demonstrierte am Umgang mit französischen Kriegsgefangenen, wie sehr die Rationalität und Sachlichkeit der preußischen Verwaltung trotz aller Improvisationen auch auf diesem Feld das Handeln bestimmte. Zuletzt behandelte TOBIAS ARAND (Ludwigsburg) exemplarisch den raschen Auf- und Ausbau der deutschen Verwundetenpflege, die stark vom freiwilligen Engagement weiblichen Hilfspersonals profitierte.
Sektion II (Der Krieg als Erinnerung/La guerre comme memoire) rückte eine Vielzahl von Formen und Medien der Erinnerung, die sich östlich und westlich des Rheins etablierten, in eine vergleichende Perspektive. Den Auftakt machte CHRISTIAN BUNNENBERG (Bochum) mit einer Untersuchung des Schlachtfeldtourismus am Beispiel von Wörth; Reisende vor allem aus Deutschland besuchten nicht nur die Kampfstätten und Denkmäler, sondern erwarben auch Überbleibsel der Gefechte, die von den Anwohnern feilgeboten wurden, um so den Wiederaufbau des zerstörten Ortes zu finanzieren. CHRISTOPHE POMMIER (Paris) beschrieb den Handel mit Fotografien von bombardierten Gebäuden und Straßenzügen in französischen Städten, dessen Florieren sich vor allem einem regelrechten Ruinenkult verdankte. Das Bourbaki-Panorama in Luzern wurde samt einer zugehörigen App von SABINE ZIEGLER (Luzern) als Aufhänger für bestimmte nationale Selbstzuschreibungen der Schweiz vorgestellt. MARIA W. PETER, Autorin historischer Romane, reflektierte die Verknüpfung von geschichtlichem Kontext und fiktiver Handlung am Beispiel ihres neuen Buches zum Krieg von 1870/71. Der Konstruktion von Heldenfiguren ging PHILIPPE TOMASETTI (Niederbronn-Les-Bains) anhand der Kürassiere von Reichshofen und anderer Beteiligter an der Schlacht von Wörth nach. MARTIN BAYER (Berlin) analysierte die verschiedenen Typen von Denkmälern, die von deutscher Seite nach dem Krieg errichtet wurden.
Von Formen des Reenactment im Frankreich der Gegenwart berichtete HUBERT WALTHER (Woerth-en-Alsace), während HEIDI MEHRKENS (Aberdeen) zeigte, wie eine Neudefinition der Rolle des deutschen Hochadels, die auf die politische Ordnung der Konstitutionellen Monarchie zugeschnitten war, auf den gemalten Kriegsporträts von Vertretern der regierenden Häuser verhandelt wurde. MICHELE BARRICELLI (München) bettete eine Untersuchung von Jugendbegegnungen im Kontext des Erinnerns an den Krieg von 1870/71 in allgemeine Überlegungen zur Bildungsarbeit beim Umgang mit bewaffneten Konflikten ein. SIMON MATZERATH (Saarbrücken) stellte das Konzept der aktuellen Ausstellung des von Anton von Werner gemalten Saarbrücker Rathauszyklus vor.
In Sektion III (Das Schlachtfeld von Wörth-Fröschweiler) wurde ein von TOBIAS ARAND und CATHÉRINE PFAUTH (beide Ludwigsburg) produzierter Film gezeigt, der einen virtuellen Gang über das Schlachtfeld von Wörth und Erläuterungen zu zahlreichen dort errichteten Denkmälern bot.
Sektion IV (Übersehene Aspekte des Krieges/Aspects négligés de la guerre) wurde von CHRISTINE G. KRÜGER (Bonn) mit einem Vortrag über die öffentlichen Briefwechsel von Joseph Derenbourg und Abraham Geiger sowie von Ernest Renan und David Friedrich Strauß eröffnet, jüdischen Gelehrten, die nach Möglichkeiten suchten, trotz des nationalen Gegensatzes in der wissenschaftlichen Sachlichkeit sowie in Religion und Humanität verbindende Werte zu finden. GERHARD BAUER (Dresden) stellte Zeugnisse jüdischen Lebens im Krieg von 1870/71 vor, unter anderem eine bisher gänzlich unbekannte, in Rouen aufgenommene Fotografie von drei deutsch-jüdischen Soldaten mit Gebetsschals und Taschenausgaben des Talmuds. Einem Nebenkriegsschauplatz widmete sich PATRICK OSTERMANN (Dresden), der die Eroberung Roms für das Königreich Italien am 20. September 1870 und die Unterstützung der Französischen Republik durch Garibaldi ab Oktober desselben Jahres behandelte. SUSANNE KUSS (Freiburg) untersuchte die Rolle der „Turkos“ als außereuropäischer Truppen 1870/71 und die Fortexistenz daran gebundener Wahrnehmungen in den Kolonialkriegen des Deutschen Kaiserreichs. Der Vortrag von PIA WEBER (Bochum) wechselte auf das Feld der Wirtschaftsgeschichte und analysierte am Beispiel von Krupp die Rolle der Montanindustrie im Krieg.
In Sektion V (Der Krieg als Lerngegenstand/La guerre comme objet de l’apprentissage) wurden schulbezogene und populäre Medien der Geschichtsvermittlung behandelt. TOBIAS ARAND (Ludwigsburg) demonstrierte, dass sich in Schulbüchern ganz Deutschlands nach 1871 das preußisch geprägte Narrativ des historisch notwendigen und überaus erfolgreichen Einigungskrieges durchsetzte und im Kern bis 1945 so bestehen blieb. CATHÉRINE PFAUTH (Ludwigsburg) stellte Durchführung und Rezeption des Twitterprojekts „Heute vor 150 Jahren – @Krieg7071“ vor, bevor FLORIAN WITTIG (Berlin) die Inszenierung des Krieges in einem Youtube-Kanal thematisierte und dabei auch die wirtschaftliche Seite der Betreibung eines solchen Kanals beleuchtete. Beide Vorträge verband die Erkenntnis, dass der wissenschaftlich gelungenen digitalen Präsentation von Geschichte eine zunehmende Bedeutung zukommt. CAROLIN HESTLER (Ludwigsburg) untersuchte Kartendarstellungen zum Krieg von 1870/71 in Schulbüchern der deutschen Mittelschule und kam zu dem Ergebnis, dass auch scheinobjektive Karten narrativ und oft manipulativ sind.
In der Abschlussdiskussion wurde das Potenzial des deutsch-französischen Vergleichs hervorgehoben. Gerade auf dem Feld der Erinnerungskultur, wo in Frankreich ein positiver Bezug auf eigene militärische Traditionen bis heute wirksam ist, sind die Unterschiede gravierend. Aus fachwissenschaftlicher Perspektive wurde allgemein bedauert, dass der Krieg von 1870/71 immer wieder zu einem „kleinen Krieg“ verharmlost werde, was dessen Bedeutung als Drehscheibe in der Geschichte des 19. Jahrhunderts verkenne – als Drehscheibe hin zu einer neuen Architektur des europäischen Mächtesystems, aber auch zur Eröffnung neuer Erfahrungsräume und zur Entstehung neuer Diskurse, die in vielerlei Hinsicht in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts fortwirkten.
Konferenzübersicht:
Einführung in den Gegenstand der Tagung
Tobias Arand (Ludwigsburg)
Frank Becker (Duisburg-Essen)
Christian Bunnenberg (Bochum)
Sektion I: Der Krieg als Ereignis und als Motor der Moderne /La guerre comme événement et comme moteur de la modernité
Moderation: Gerhard Hirschfeld (Stuttgart)
Wolfgang Hasberg (Köln), 70/71 – ein Krieg als Epochenwende. Internationale Umblicke zur Zäsurierung historischer Zeiten
Frank Becker (Duisburg-Essen), Feindschaft und Verfeindung im deutsch-französischen Krieg von 1870/71
Clemens Klünemann (Ludwigsburg), „...le souvenir de la barbarie où nous avions tous été enveloppés; nous en sortions à peine.“ (Edgar Quinet, Histoire des mes idées, 1858) – Die Ethnisierung des Politischen als Ursache des ersten von drei deutsch-französischen Kriegen
François Cochet (Metz), Deux armées françaises pour deux guerres successives? De la guerre impériale à la guerre républicaine: discours et modalités opératoires
Daniela Ahrens-Wimmer (Mannheim), Wie verwaltet man Kriegsgefangenschaft? – Die Gefangenenlager im Krieg 1870/71
Tobias Arand (Ludwigsburg), „Dann aber werden die Schmerzen wieder so stark, dass Patient sich wie wahnsinnig geberdet." Die medizinische Versorgung im Krieg 1870/71 am Beispiel der Lazarette im württembergischen Ludwigsburg
Sektion II: Der Krieg als Erinnerung/La guerre comme memoire I
Moderation: Frank Becker (Duisburg-Essen)
Christian Bunnenberg (Bochum), Schlachtfeldtourismus nach dem Deutsch-Französischen Krieg am Beispiel des Schlachtfeldes in Wörth
Christophe Pommier (Paris), Effets et mémoires des bombardements urbains en 1870-1871
Sabine Ziegler (Luzern), Das Bourbaki-Panorama in Luzern – Vorstellung einer App
Maria W. Peter (Koblenz), Zwischen allen Stühlen und Fronten – Vom Umgang mit Fiktion und Fakten im historischen Roman
Philippe Tomasetti (Niederbronn-Les-Bains), Cuirassiers, turcos et chasseurs à pieds: comment transfigurer la défaite et fabriquer des héros
Martin Bayer (Berlin), Die deutschen Denkmäler zum deutsch-französischen Krieg
Der Krieg als Erinnerung/La guerre comme memoire II
Moderation: Cathérine Pfauth (Ludwigsburg)
Hubert Walther (Woerth-en-Alsace), Une des façons de faire se souvenir
Heidi Mehrkens (Aberdeen), Fürsten im Felde. Dynastische Präsenz und Selbstdarstellung im Krieg 1870/71
Michele Barricelli (München), „Verdammt lang her“ – Jugendbegegnungen im Kontext des Erinnerns an den deutsch-französischen Krieg 1870/71
Simon Matzerath (Saarbrücken), Zwischen Realität und Inszenierung – Der Saarbrücker Rathauszyklus und der Deutsch-Französische Krieg in der Grenzregion
Sektion III: Das Schlachtfeld von Wörth-Fröschweiler
Tobias Arand/Cathérine Pfauth (Ludwigsburg), Virtueller Gang über das Schlachtfeld von Wörth
Sektion IV: Übersehene Aspekte des Krieges/Aspects négligés de la guerre
Moderation: Tobias Arand (Ludwigsburg)
Christine G. Krüger (Bonn), Gelehrte im Krieg. Die öffentlichen Briefwechsel von Joseph Derenbourg und Abraham Geiger sowie von Ernest Renan und David Friedrich Strauß
Gerhard Bauer (Dresden), „…voller Sehnsucht nach religiöser Einwirkung“ – Zeugnisse jüdischen Lebens im Krieg 1870/71
Patrick Ostermann (Dresden), Die Eroberung Roms am 20. September 1870 – Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Preußendeutschland und Italien
Susanne Kuß (Freiburg i.Br.), Außereuropäische Truppen im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71
Pia Weber (Bochum), Die Bedeutung der Montanindustrie im Krieg von 1870/71
Sektion V: Der Krieg als Lerngegenstand/La guerre comme objet de l’apprentissage
Moderation: Tobias Arand (Ludwigsburg)
Tobias Arand (Ludwigsburg), Bismarck gründet das Kaiserreich – der Krieg von 70/71 in deutschen Geschichtsschulbüchern bis 1945
Cathérine Pfauth (Ludwigsburg), Krieg goes online – Ein Twitterprojekt zum Krieg von 1870/71
Florian Wittig (Berlin), 1870/71 bei Youtube. Moderne Inszenierung von Krieg
Carolin Hestler (Ludwigsburg), Kartendarstellungen zum Krieg von 1870/71 in Schulbüchern der deutschen Mittelschule
Abschlussdiskussion