Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941: Neue Dokumente, Perspektiven, Forschungsansätze

Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941: Neue Dokumente, Perspektiven, Forschungsansätze

Organisatoren
Gemeinsame Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen
Ort
Lüneburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.07.2021 - 09.07.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Lena Radauer, Nordost-Institut – Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa (IKGN), Lüneburg

Das wissenschaftliche Kolloquium stand im Zeichen des 80. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion. In vier Panels wurden unterschiedliche Aspekte des Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion beleuchtet und diskutiert. Während zwei Panels explizit neuen digitalen Repositorien und deren Erkenntnispotential gewidmet waren, zog sich die Frage nach den Quellen der Geschichtswissenschaft als roter Faden durch das Kolloquium. Ebenso im Zentrum der Diskussion standen das Individuum und die Erfahrung des Krieges durch den Einzelnen bzw. die Einzelne.

Einleitend wurden in zwei Vorträgen die Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion während der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs dargestellt. Einig waren sich beide Vortragende nicht nur in ihrer Einschätzung, dass Stalin keineswegs vom Angriff auf die Sowjetunion durch das nationalsozialistische Deutschland überrascht wurde, sondern auch in ihrer Gewichtung der internationalen Situation, wenn es um die Analyse der Ereignisse im Juni 1941 geht. CLAUDIA WEBER (Frankfurt an der Oder) wies zudem auf die Bezüge zwischen Stalins Verhalten 1939 und im Juni 1941 hin, während ALEKSANDR ČUBAR‘JAN (Moskau) auf die Spannungen im Verhältnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion in diesem Zeitraum einging. Beide Vorträge zeigten, dass auch in diesem viel erforschten Kapitel der Geschichte weiterhin offene Fragen bleiben.

Die restlichen Panels fanden als auf Forschungsberichten basierende Diskussionsrunden statt. Einen zentralen Platz nahm die Vorstellung zweier aktueller Projekte ein, die Archivakten zur deutsch-sowjetischen Geschichte im Internet aufbereiten. ANDREJ JURASOV (Moskau), präsentierte das Projekt victims.rusarchives.ru, das Dokumente zu den deutschen Besatzungsverbrechen aus verschiedenen regionalen Archiven der russischen Föderation auf der Projektwebseite zugänglich macht. MATTHIAS UHL (Moskau) stellte das binationale Digitalisierungsprojekt germandocsinrussia.org vor, in dessen Rahmen das DHI Moskau die in verschiedenen Archiven der Russischen Föderation befindlichen deutschen Beuteakten online stellt.

Das Erkenntnispotenzial der Akten sowohl als Beleg als auch als Basis für neue Themen wurde im Anschluss von MICHEL SCHEIDEGGER (Zürich/Potsdam) und CHRISTIAN STEIN (Freiburg) gezeigt, die sich in ihren Dissertationsprojekten auf die digitalisierten Akten der Wehrmacht aus dem Bestand 500 des Zentralarchivs des Verteidigungsministeriums der Sowjetunion (CAMO) stützen. Dabei ließen sich auch kulturgeschichtliche Informationen zur Wehrmacht aus den Akten ziehen. Scheidegger untersucht den Charakter der deutschen Kriegsführung anhand der Fallstudie der 35. Infanteriedivision, die erst dank der neuen Dokumentenfülle möglich wurde. Er stellt zwar den Verlust an militärischer Taktik fest, gleichzeitig aber auch die auf einem nicht-hierarchischen Informationsaustausch basierende Lernfähigkeit der Wehrmacht. Neben Strategien sei auch die Kultur der Gewalt „von unten“ weitergegeben worden. Ähnliches fand Stein über die Dynamiken der im Rückzug befindlichen Wehrmacht in der zweiten Kriegshälfte heraus: Er stellte eine Radikalisierung und einen Handlungswillen bei den unteren Reihen der Wehrmacht fest, indem sie beispielsweise mit ihrer Selektierung nicht-arbeitsfähiger Zivilisten dem Befehl des Armeestabes vorgriffen.

Das Thema der Gewalt, die sich seit 1943 auch immer häufiger gegen die eigenen Reihen der Wehrmacht richtete, spielte nicht nur bei Stein und Scheidegger eine große Rolle. JOHANNES SPOHR (Berlin) sprach über die militärische Krise der Wehrmacht im Reichskommissariat Ukraine, vor deren Hintergrund Gewalt an der Bevölkerung verübt wurden. Er präsentierte Ideologie als wichtigen Faktor in der Mentalität der Aggressoren, stellte aber fest, dass sich einzelne Akteure wider das brutale Vorgehen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung aussprachen. Er plädierte für die Nutzung von „Quellen des lokalen Wissens“ – Dorfchroniken, Erinnerungsberichte, Briefe, Interviews, Tagebücher –, die Betroffenen eine Stimme verleihen.

Genau das tut MIKHAIL MELNICHENKO (St. Petersburg), dessen Plattform prozhito.org sich der Sammlung von Tagebüchern zur russisch-sowjetischen Geschichte verschrieben hat. Allein aus der Metadatenanalyse lässt sich beispielsweise ablesen, dass während der Blockade von Leningrad mehr Frauen Tagebücher schrieben, als dies zu anderen Zeiten der sowjetischen Geschichte üblich war.

Die Frage der Umstände, unter denen die Interviews entstanden, die das Projekt „Soviet survivors of Nazi occupation – the first interviews“ zugänglich macht, standen im Mittelpunkt des Beitrags von JOCHEN HELLBECK (New Brunswick, NJ). Er legte die Einzigartigkeit der Quellen dar, die unmittelbar nach der Befreiung von der deutschen Okkupation mit den Bewohnern durchgeführt wurden, für deren Glaubhaftigkeit er eintrat. Sie ließen beispielsweise den Schluss zu, dass die Schlacht von Stalingrad einen ideologischen Wendepunkt darstellte: Als Reaktion auf die Gräueltaten der Deutschen hätte sich die Bevölkerung dem Bolschewismus zugewandt.

In der Diskussion wurde die Frage angestoßen, ob von einer eigenen Schule der Oral History in der Sowjetunion gesprochen werden könne. Vorgeschlagen wurde auch die Untersuchung der Rolle Maxim Gorkis, der Isaak Minc maßgeblich bei der Durchführung von Zeitzeugengesprächen beeinflusste. Vieles erfuhr man im Lauf der Veranstaltung über die Besonderheiten historischer Quellen aus der Sowjetunion, wie über das Phänomen der „Selbstbiographie“ oder die Zensur. Erstaunlich war beispielsweise die Erkenntnis, dass etwa Frontsoldaten oder Partisanen durchaus Spielräume nutzten, wovon überlieferte Tagebücher zeugen.

Mitschnitte des Kolloquiums sind auf der Webseite der Kommission zugänglich.1

Konferenzübersicht:

Deutschland und die Sowjetunion: 1939–1941

Claudia Weber (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder): Barbarossa und das Ende des Hitler-Stalin Pakts. Optionen und (Fehl-)Einschätzungen im Juni 1941

Aleksandr Čubar’jan (Institut für Russländische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau): Am Vorabend der Tragödie. Stalin und die internationale Krise, September 1939–Juni 1941

Neue Aktenbestände: Praxis und Erkenntnisse I. Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs

Matthias Uhl (Detsches Historisches Institut Moskau), Michel Scheidegger (ETH Zürich/Universität Potsdam), Christian Stein (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

Neue Aktenbestände: Praxis und Erkenntnisse II. Die deutsche Besatzung der Sowjetunion

Andrej Jurasov (Föderale Archivagentur der Russischen Föderation, Moskau), Irina Makhalova (Higher School of Economics, Moskau), Mikhail Melnichenko (Projekt Prožito für die Erforschung von Ego-Dokumenten, Europäische Universität St. Petersburg)

Frontalltag: deutsche und russische Perspektiven

Jochen Hellbeck (Rutgers University, New-Brunswick, NJ), Vasilij Christoforov (Institut für Russländische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau), Vladimir Nevežin (Institut für Russländische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau), Johannes Spohr (present past, Archivdienst für Recherchen zum Nationalsozialismus in Familie und Gesellschaft, Berlin)

Schlussreflexionen

Jörg Baberowski (Humboldt-Universität zu Berlin), Joachim Tauber (Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa e.V., Universität Hamburg), Aleksandr Čubar’jan (Institut für Russländische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau)

Anmerkung:
1 www.deutsch-russische-geschichtskommission.de/kolloquium-2021-mit-videomaterial/.


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Deutsch
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