HT 2021: Wem gehört die Unternehmensgeschichte? Deutungskämpfe in einem Forschungsfeld zwischen Wissenschaft und Public Relations

HT 2021: Wem gehört die Unternehmensgeschichte? Deutungskämpfe in einem Forschungsfeld zwischen Wissenschaft und Public Relations

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Rouven Janneck, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Im Zeitalter einer rasant fortschreitenden Digitalisierung kommt der digitalen Außendarstellung von Unternehmen ein immer größerer Stellenwert zu. Dies gilt auch für die Präsentation der eigenen Geschichte, für die sich ein eigener Markt aus Geschichtsagenturen etabliert hat, wie eine Google-Suche aus den Begriffen „Unternehmen“ und „Geschichte“ schnell verdeutlicht. Doch was bedeutet dieser Trend für die Unternehmensgeschichte als akademische Disziplin? Wie positioniert sie sich zwischen unternehmerischer Selbstdarstellung, Auftragsarbeit und kritischer wissenschaftlicher Analyse? Die Frage, wie die Unternehmensgeschichte als Fach mit dieser vielfältigen Kommunikationskonkurrenz umgeht, stand daher im Zentrum der durchdacht zusammengestellten Sektion.

Einleitend umriss INGO KÖHLER (Darmstadt) die Diskurslinien der Deutungskämpfe zwischen History Marketing und akademischer Forschung. So sei zu diskutieren, inwieweit dabei die Analyse der Vergangenheitspolitik der Unternehmen im Spagat zwischen privaten Vermarktungsinteressen und dem wissenschaftlichen Anspruch akademischer Forschung verlaufe. Als stets virulent identifizierte er den moralischen Aspekt zwischen kommerzieller und akademischer Orientierung sowie einen fehlenden herrschaftsfreien Diskurs.

Ausgehend von diesen Überlegungen thematisierte JOHANNES BÄHR (Frankfurt am Main) die schwierige Stellung der akademischen Unternehmensgeschichte und skizzierte dazu die prägenden Entwicklungslinien des Fachs nach 1945. Wichtige Etappen verortete er in den 1980er-Jahren, in denen die Aufarbeitung der NS-Zeit einsetzte, und der durch die Sammelklagen in den Vereinigten Staaten ausgelösten Sonderkonjunktur der NS-Unternehmensgeschichte in den 1990er-Jahren. Vor allem dieser Boom habe für die heutige Gestalt der Unternehmensgeschichte wichtige Folgen gehabt. Auf akademischer Seite sei die hohe Nachfrage nach Expertise für eine kritische Aufarbeitung auf eine nur schwache institutionelle Basis an den Universitäten getroffen, an denen Unternehmensgeschichte weitgehend einen freiwillig gewählten Schwerpunkt der Wirtschaftsgeschichte dargestellt habe – ein Zustand, der bis heute andauere. Blickt man auf den Zuschnitt der aktuell bestehenden wirtschaftshistorischen Professuren in Deutschland, ist diesem Befund zuzustimmen. Einzig der Bochumer Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte sowie die erst jüngst eingerichtete Professur für Unternehmensgeschichte in Stuttgart schließen das Forschungsfeld explizit ein. Nicht zuletzt aufgrund der schwachen institutionellen Basis folgte aus dem Boom der 1990er-Jahre sowohl eine verstärkte Auftragsforschung als auch eine zunehmende Gründung und Etablierung von Geschichtsbüros. Diesen stärker auf kommerziellen Grundlagen beruhenden Forschungszweig sah Bähr, der selbst eine einschlägige Expertise in der auftragsbasierten Unternehmensgeschichtsschreibung vorweisen kann, dabei insofern als unproblematisch, als die Aspekte Glaubwürdigkeit und wissenschaftliche Fundierung entscheidend für die auf die Außenwirkung bedachten Unternehmen seien. Gerade dies sei nur durch die Unabhängigkeit der Beauftragten gegeben. Einen Verdrängungswettbewerb mit den mittlerweile etablierten Geschichtsbüros sah er für die akademische Forschung dabei nicht, da die stärker auf Unternehmenskommunikation fokussierten Büros eine andere Nachfrage bedienten. Dennoch habe die stark auftragsbasierte Forschung Rückwirkungen auf die Entwicklung des Fachs, die sich in der schwach ausgebildeten theoriegeleiteten Unternehmensgeschichte in Deutschland zeige. Die Kehrseite werde insbesondere im internationalen Vergleich sehr deutlich, beispielsweise zu Schweden und den Niederlanden, wo Centres for Business History existieren. Vor allem mit Blick auf diesen Zustand plädierte Johannes Bähr abschließend für eine dringend erforderliche akademische Stärkung der Unternehmensgeschichtsforschung in Deutschland. Hier böte sich fachintern die Möglichkeit, über ein erweitertes Themenspektrum international anschlussfähig zu bleiben. Insbesondere international vergleichende Arbeiten seien in der deutschen Unternehmensforschungslandschaft unterrepräsentiert, könnten jedoch das Fach international stärker positionieren. Auf der anderen Seite brauche es dringend eine größere Zahl an Lehrstühlen, um die methodische und theoriegeleitete Weiterentwicklung zu tragen. Doch gerade an dieser Stelle sah Bähr auch die größte Gefahr für das institutionelle wissenschaftliche Umfeld, wenn die ohnehin geringe Zahl der Lehrstühle weiter sinke. Dieser Befürchtung ist nur zuzustimmen.

Im Anschluss griff MANFRED GRIEGER (Göttingen) Bährs Überlegungen auf und plädierte gegen eine scharfe Trennung von Auftragsforschung und History Consulting. Für ihn schwankte die Unternehmensgeschichtsschreibung als Ausdruck einer intensivierten Hybridisierung der Geschichtswissenschaft vielmehr zwischen den Reputationssystemen Wissenschaft und Kommunikationsberatung. Grieger führte seine Überlegungen auf die Tatsache zurück, dass ein überwältigender Teil der Unternehmensgeschichtsschreibung schlicht nur dann zustande komme, wenn die untersuchten Unternehmen selbst die Finanzierung stellten. Aufgrund der immer vorhandenen wirtschaftlichen Abhängigkeit der nicht universitär fest verankerten Unternehmenshistoriker:innen lasse sich daher eine gewisse Ambivalenz von Wissenschaft und Kommunikationsberatung nie zur Gänze vermeiden. Als Beispiele seiner Überlegungen führte Grieger die jüngsten Forschungsprojekte zur Geschichte der Reimann-Gruppe sowie von Bahlsen und Roland Berger an. Kennzeichen aller drei Unternehmen war, dass es sich in der NS-Zeit um Familienunternehmen handelte und der Anstoß der Aufarbeitungsprojekte jeweils aus Vorwürfen zur Beteiligung an Zwangsarbeit und der Zusammenarbeit mit dem NS-Regime resultierte. Im Falle der Reimann-Gruppe und von Roland Berger wurden die Vorwürfe durch Artikel überregionaler Tageszeitungen publik, im Falle von Bahlsen war ein Interview der Unternehmenserbin Mitte 2019 der Anlass. Blickt man auf den Zuschnitt und Umfang der jeweiligen Aufarbeitungsprojekte verdeutlichen diese Griegers Argument der Hybridisierung der Geschichtswissenschaft, die sich dabei zwischen den Reputationssystemen Wissenschaft und Kommunikationsberatung bewegte: Finanzierten Bahlsen und Reimann mit Blick auf die Außenwirkung umfangreiche mehrjährige (unternehmens)historische Studien unter Einbeziehung eines wissenschaftlichen Beirats, vergab Roland Berger einen nur sechsmonatigen Forschungsauftrag für ein Gutachten an den Historiker Michael Wolffsohn, um auf die negative mediale Resonanz zu reagieren. Doch nicht nur die Auftragsforschung, sondern auch die akademische Forschung sei, so Grieger, von einer Hybridisierung geprägt. Schließlich bewegten sich Unternehmenshistoriker:innen durch ihren Untersuchungsgegenstand immer in der Sphäre der Ökonomie, was eine methodenreflektierte Forschung und eigenständige Kommunikation notwendig mache. Um die in der Auftragsforschung angelegte Ambivalenz zu handhaben, empfahl er, bei der Vertragsgestaltung genau auf das festgelegte Ziel, d.h. Forschung oder Beratung, zu achten. Essentiell dafür sei, dass sich Historiker:innen der eigenen Interessen bei der Annahme solcher Projekte bewusst seien und Rollenklarheit zwischen Auftragsgeber:in und –nehmer:in schafften. Zudem mahnte er gerade mit Blick auf die grassierenden Skandalisierungseffekte, inklusive möglicher „Shitstorms“, sich gründlich mit den Aspekten Öffentlichkeitsarbeit und Medienkompetenz vertraut zu machen bzw. sich diese zuzulegen.

Das bei Manfred Grieger anklingende Konfliktpotential zwischen Auftraggeber:in (Unternehmer:in) und Auftragnehmer:in (Historiker:in) führte EVA-MARIA ROELEVINK (Mainz) eindrücklich anhand des Beispiels der Entstehung der hauseigenen Unternehmensfestschrift der Thyssen AG aus den 1960er-Jahren aus. Als zentral identifizierte sie dabei das unterschiedliche Zeitverständnis beider Akteure. Unternehmen begriffen Vergangenheit als Asset, d.h. die Vergangenheit müsse Sinn für die Gegenwart und Zukunft haben. Historiker:innen seien hingegen intrinsisch an Vergangenheit interessiert. Dies zeige die Entstehungsgeschichte der Thyssen-Festschrift „Die Feuer verlöschen nie“ eindrücklich, für die das Unternehmen nach langer Suche Wilhelm Treue gewinnen konnte, der als Pionier der Unternehmensgeschichte in Deutschland gilt. Als Grund für die langwierige Suche des Unternehmens nach einem anerkannten Historiker benannte Roelevink, dass die Unternehmensleitung um Hans-Günther Sohl das klar umrissene Ziel verfolgte, mit der eigenen Unternehmensgeschichte ein in die Zukunft weisendes Erfolgsnarrativ nach innen und außen zu etablieren. Für den Wert von Geschichte oder gar einer kritischen Auseinandersetzung habe ganz im Sinne des apologetischen Zeitkontexts keine Sensibilität bestanden. Dies schlug sich in der Zusammenarbeit von Treue und dem Unternehmen schnell nieder. An einer Einordnung bzw. dem Anschluss der entstehenden Unternehmensgeschichte an die in der Geschichtswissenschaft vorherrschende Fischer-Kontroverse, die um die deutsche Kriegszielpolitik und Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs entbrannte und in die Frage nach der Kontinuität deutscher Hegemonialpolitik mündete, hatte das Thyssenmanagement kein Interesse, woraufhin Treue die Motivation zur weiteren Bearbeitung seines Auftrags verloren habe. Die Folge war ein beide Seiten kaum befriedigender Kompromiss: Die Unternehmensgeschichte wurde auf zwei Bände aufgeteilt. Den ersten Band, der die Zeit bis 1926 behandelte, verfasste Treue. Den zweiten Band übertrug Sohl Wirtschaftsjournalisten, die den Zeitraum von 1926 bis 1966 entsprechend seiner Vorstellungen niederschrieben. Vor allem mit Blick auf die Darstellung der Rolle Fritz Thyssens und seiner frühen Unterstützung Adolf Hitlers führte dies zu einem massiven Konflikt mit Treue. Da das Unternehmen auf die Reputation Treues als Autor der Firmengeschichte nicht habe verzichten wollen, einigte man sich auf einen Kompromiss: Treue blieb Alleinautor des ersten und Mitautor des zweiten Bandes, in den ein vom ihm verfasstes Porträt Fritz Thyssens aufgenommen wurde. Im Ergebnis entstand eine Festschrift, die weder ganz im Sinne des Unternehmens noch im Sinne Treues gewesen sei und so das Konfliktpotential zwischen den Kommunikationsinteressen eines Unternehmens und akademisch orientierter Forschung offengelegt habe.

Dieses Konfliktpotential thematisierte auch HANS-DIETHER DÖRFLER (Eichstätt/Erlangen) von der Geschichtsagentur Birke und Partner. Er argumentierte im Gegensatz zu den anderen Vorträgen gegen ein Spannungsverhältnis von Wissenschaft und erfolgreicher Kommunikation in den kommerziellen Bereich, da jeweils stets gute wissenschaftliche Praxis für den langfristigen Erfolg essentiell sei. Zwar sei bei Geschichtsagenturen ein klarer Auftrag von außen stets Ausgangspunkt der Arbeit, bei der eine Expertendienstleistung für den/die Auftraggeber:in inklusive der Übertragung der kompletten Verwertungsrechte erbracht werde, wodurch man sich von der akademischen Forschung in den verfolgten Zielen unterscheide. Für das methodische Vorgehen gelte dies allerdings nicht, das durch akademisch ausgebildetes Personal getragen werde. Sein Argument verdeutlichte Dörfler anhand der typischen Vorgehensweise der Agentur Birke und Partner, die in vier Schritten erfolge, was er anhand des für das Unternehmen Puma produzierten Imagefilms illustrierte. In einem ersten Schritt gelte es, die materiellen Grundlagen zu schaffen. Dazu gehörten der Aufbau von Unternehmensarchiven oder Sammlungen und das Sichern von Dokumenten, Fotografien oder mündlichen Überlieferungen. Auf dieser Grundlage würden Themen für die Kommunikation identifiziert und abgestimmt. Das dafür zugrunde gelegte Material müsse auf Basis guter wissenschaftlicher Praxis geprüft und eingeordnet werden, d.h. seine Echtheit sowie sein Entstehungs- und Verwendungskontext. Gerade an dieser Stelle hätten wissenschaftliche Kriterien Vorrang vor Unternehmensinteressen, um sachliche Fehler auszuschließen, die für die Außenwirkung fatal seien. In einem letzten Schritt würde das ausgewählte Material zielgruppengerecht für die Präsentation aufgearbeitet. Leitideen seien dabei Reichweite, Botschaften und Markenbekanntheit. Gerade darin liege, so Dörfler, die Kunst der historischen Kommunikation.

Insgesamt zeigten die Vorträge sowie die damit verbundene Diskussion ein vielschichtiges Bild der Unternehmensgeschichte, das Ingo Köhlers einleitende Feststellung eines nicht herrschaftsfreien Diskurses unterstrich. Dies beginnt bei der formalen Zugänglichkeit der Unternehmensarchive, die aufgrund der Eigentümerstruktur im Gegensatz zu staatlichen Archiven nicht garantiert ist. An einer ebenbürtigen Professionalität von Unternehmensarchiven – hier waren sich die Sektionsteilnehmer:innen einig – gab es hingegen keine Zweifel. Deutliche Kontroversen zeichneten sich im Hinblick auf die Rolle von Theorie und Methode ab. Im Gegensatz zu Johannes Bähr schätzte Ingo Köhler die Sicherung einer stärkeren Theorieorientierung der Unternehmensgeschichte aufgrund der marginalen universitären Verankerung des Fachs eher pessimistisch ein. Auch die These von Hans-Diether Dörfler stieß auf Widerspruch, der angeführt von Manfred Grieger merkliche Unterschiede im methodischen Vorgehen von akademischer und außerakademischer Forschung gegenüberstellt wurden.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Ingo Köhler (Darmstadt), Michael C. Schneider (Düsseldorf)

Johannes Bähr (Frankfurt am Main): Unternehmensgeschichte zwischen guter wissenschaftlicher Praxis und Kommunikationsstrategien

Manfred Grieger (Göttingen): Geschichtsforschung und/oder History Consulting – zur wissenschaftlichen und kommunikationspolitischen Funktion der aktuellen Unternehmensgeschichtsschreibung

Hans-Diether Dörfler (Eichstätt/Erlangen): Wie wa(h)r das nochmal? Marke und Moral in der Historischen Kommunikation

Eva-Maria Roelevink (Mainz): Vom „armen Treue“: Thyssen und die Arbeit an der Vergangenheit in den 1960er Jahren


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts