HT 2021: Borgen, Nutzen, Selbermachen. Versorgungsstrategien im Widerstreit konfligierender Ordnungsvorstellungen, 1300–2000

HT 2021: Borgen, Nutzen, Selbermachen. Versorgungsstrategien im Widerstreit konfligierender Ordnungsvorstellungen, 1300–2000

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Benjamin Möckel, Abteilung für Neuere Geschichte, Universität zu Köln

Wie haben Menschen in den letzten sieben Jahrhunderten ihren täglichen Bedarf gedeckt, Dienstleistungen in Anspruch genommen, Güter gekauft, geborgt oder selbst hergestellt? Die von Annette Kehnel (Mannheim) und Reinhild Kreis (Siegen) geleitete Sektion untersuchte diese Fragestellungen in einer denkbar breiten historischen Perspektive – und ohne dabei der Meistererzählung einer sich unaufhaltsam durchsetzenden Massenkonsumgesellschaft aufzusitzen. Stattdessen betonten die Vorträge eher die Parallelen und Kontinuitäten, die sich in den gesellschaftlichen Kontroversen um Fragen von Konsum und Versorgung finden lassen. Die Sektion stellte dabei vier Zugänge in den Mittelpunkt: Erstens rekurrierte sie unter Rückgriff auf den Begriff der „moral economy“ auf die gesellschaftliche Rahmung solcher Versorgungsstrategien, die nie rein private Entscheidungen darstellten; zweitens verwiesen sie auf Praktiken des Vergleichens und Abwägens zwischen verschiedenen Versorgungsweisen, die den Akteur:innen als parallele Optionen offenstanden; drittens spielten dinggeschichtliche Ansätze eine wichtige Rolle, die gerade bei Praktiken des Selbermachens oder Reparierens eine große Bedeutung erlangten; und viertens traten praxistheoretische und körpergeschichtliche Überlegungen in den Vordergrund, die z.B. auf Erziehungs- und Disziplinierungsstrategien verwiesen und damit nicht zuletzt auch die geschlechterpolitischen Zuschreibungen in den Vordergrund rückten, die mit diesen Praktiken einhergingen. Im Zentrum standen demnach vor allem private Versorgungsstrategien des Alltags, die aber in allen Fallbeispielen eng mit politischen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und Regulierungen verknüpft waren. Unter Rückgriff aus das in den letzten Jahren wieder verstärkt genutzte Konzept der „moral economy“ traten dabei vor allem die gesellschaftlichen Normvorstellungen über ein „richtiges“ und „normales“ Verhalten innerhalb von Ökonomie und Gesellschaft in den Vordergrund. In der Perspektive auf eine 700-jährige Entwicklungsgeschichte traten dabei sowohl wiederkehrende Fragestellungen zum Vorschein als auch epochenspezifische Problemfelder, Lösungsstrategien und Normvorstellungen.

Dies kam schon im eröffnenden Vortrag von ANNETTE KEHNEL zum Ausdruck. Sie griff bewusst heutige Terminologien eines „einfachen“ Lebensstils auf und suchte nach möglichen Verbindungslinien zu Lebens- und Versorgungspraktiken im 13. Jahrhundert. Inwieweit also lassen sich Begriffe wie „sharing economy“, „voluntary simplicity” oder “Minimalismus” auf die Welt des späten Mittelalters übertragen? Kehnel verwies zunächst auf die langen ideengeschichtlichen Traditionslinien, in die sich diese Konzepte einfügen (z.B. in Hinblick auf Diskurse der Luxuskritik, eines Lobs von Armut und Bedürfnislosigkeit oder der Betonung von Nutzung gegenüber Besitz). Im zweiten Schritt konkretisierte sie diese Parallelen am Beispiel der Armutsbewegung des Franziskanerordens, der sich im 13. Jahrhundert rasant als transnationale Bewegung etablierte. Kernmerkmal war die Ablehnung von Besitz und ein ostentativ betontes Armutsideal. Allerdings entstanden hieraus bald Kontroversen, da Unterstützung für die Bewegung oft in Form von Schenkungen und Erbschaften erfolgte: Während radikale Kräfte am Ideal der absoluten Besitzlosigkeit festzuhalten versuchten, entwickelten andere Mitglieder neue Modelle der Nutzung oder Treuhänderschaft, um so größeren – auch finanziellen – Spielraum zu gewinnen. Wie Kehnel am Beispiel von Petrus Johannis Olivi verdeutlichte, gingen aus diesen Kontroversen auch neue Impulse für die theoretische Beschäftigung mit wirtschaftlichen Fragen hervor – etwa in Bezug auf Prinzipien der Preisbildung, die Voraussetzungen eines gerechten Marktes oder die Notwendigkeit externer Marktregulierungen: „Neue Versorgungsstrategien“, so Kehnels Fazit, „entstanden im Widerstreit konfligierender Ordnungsvorstellungen, hervorgegangen aus Wirtschaftstheorien der Minimalisten des 13. Jahrhunderts.“

Die Verbindung von gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und ökonomischen Praktiken stand auch im Zentrum des Vortrags von DANIEL SCHLÄPPI (Bern). Er analysierte am Beispiel der frühneuzeitlichen Stadt Zug (Schweiz) das Konzept des „Guten Haushaltens“ als „ökonomischer Grundlage der Gemeinwirtschaft“. Mit der „Gemeinwirtschaft“ tauchte damit auch bei ihm ein in der Gegenwart häufig genutzter – und meist positiv konnotierter – Begriff auf. Wie Schläppi jedoch verdeutlichte, war hiermit keineswegs ein völlig harmonisches Modell kollektiven Wirtschaftens verbunden, sondern eine oft konfliktbehaftete Aushandlung, in der die kollektive Nutzung von Land und Gütern den individuellen Nutzungs- und Profitinteressen gegenüberstand. Der Vortrag verdeutlichte dies am Beispiel der Armenversorgung in Zug. Da Steuern in der frühneuzeitlichen Stadt nur in Ausnahmefällen erhoben wurden, blieb diese Armenversorgung äußerst begrenzt und restriktiv. Maßnahmen wie Heiratsverbote oder der Entzug von Bürgerrechten waren eine gängige Praxis um die Zahl der zu Versorgenden möglichst klein zu halten. Darüber hinaus erfolgten Unterstützungen in den seltensten Fällen mit Hilfe finanzieller Leistungen, sondern in erster Linie über die Bereitstellung von Gütern und Nutzungsrechten. Grundlage dieser Maßnahmen war ein Ideal der individuellen Subsistenz, bei der Hilfsmaßnahmen einen strikt subsidiären Charakter hatten und als „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu eigener Initiative anleiten sollten – Parallelen zur Gegenwart sind hier erneut unübersehbar.

Von zentraler Bedeutung für die „moral economy“ dieser urbanen Versorgungsleistungen war dabei die Vermischung von ökonomischen Kriterien mit moralischen Zuschreibungen. Schicht und Geschlecht waren hierfür wichtige Kategorien, mit denen normative Urteile gefällt wurden, etwa in Bezug auf einen schlecht geführten Haushalt, einen exzessiven Lebenswandel oder andere als moralisch fragwürdig markierte Verhaltensweisen. Argumente des „Gemeinwohl“ spielten zwar eine zentrale Rolle, wurden aber von beiden Seiten in Anschlag gebracht: sowohl von der Obrigkeit als Legitimation einer restriktiven Versorgungspolitik, als auch von einzelnen Bürgern und Bürgerrinnen, die das eigene Verhalten zum Teil recht kreativ als Dienst am Gemeinwohl darstellten. Wie Schläppi prägnant zusammenfasste, war „vormodernes Haushalten keine Privatsache“, sondern aufs Engste mit der Gemeinschaft verbunden – sowohl materiell als auch in den gesellschaftlichen Zuschreibungen und Beobachtungen.

Mit dem Vortrag von MATTHIAS RUOSS (Bern/Zürich) kam die Sektion im 19. Jahrhundert an – und damit in der Zeit des modernen Kapitalismus. Wie der Vortrag verdeutlichte, blieben moralische Zuschreibungen aber auch in dieser Epoche höchst einflussreich. Im liberalen Kapitalismus dominierte also keineswegs allein „der“ Markt; vielmehr waren die Durchsetzung, Einhegung und Regulierung ökonomischer Praktiken auch und gerade in diesem Zeitraum ein wichtiges und hoch volatiles Unterfangen. Ruoss verdeutlichte dies am Beispiel einer ebenso unscheinbaren wie aussagekräftigen Quellengattung: Sogenannter „Warnungen“, die Ehemänner im Anzeigenteil lokaler Tageszeitungen schalteten, um Händler davor zu warnen, den eigenen Ehefrauen Geld zu leihen oder Produkte auf Kredit zu verkaufen. Solche Warnanzeigen, so Ruoss, waren in der Zeit zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg ein transnational verbreitetes Phänomen.

Ruoss nutzte diese Quellen, um die durch die Vermarktlichungsprozesse des 19. Jahrhunderts hervorgerufenen Geschlechterkonflikte und deren – meist juristisch und politisch unterfütterte – Wiedereinhegung in den Blick zu nehmen. Im Zentrum standen zwei Prozesse: zunächst ein „expandierender Kreditnexus“, der mit einer Ausweitung von Konsummöglichkeiten auch in kleinbürgerlichen und Arbeitermilieus einherging. Die Ehefrauen spielten hierbei eine zentrale Rolle – und der finanzielle Spielraum, der ihnen in der Abwicklung der täglichen ökonomischen Transaktionen innerhalb der Familie zugestanden wurde, entwickelte sich in der Folge zu einer zentralen politischen und juristischen Kontroverse. Aus diesen Entwicklungen, so Ruoss, gingen die Warnanzeigen der Ehemänner hervor: Sie waren das Symptom einer Gegenbewegung, bei der die aus der ökonomischen Entwicklung hervorgegangenen Spielräume auf neue Weise gesellschaftlich, rechtlich und politisch eingehegt werden sollten. Die Basis bildete eine mit Geschlechterstereotypen unterfütterte Konsumkritik, in deren Folge die Konsum- und Ausgabenfreiheit der Ehefrauen wieder stark eingeschränkt wurden. Ruoss leitete hieraus zwei allgemeinere Folgerungen ab: Einerseits betonte er die Konflikthaftigkeit der kapitalistischen Entwicklung, die eben nicht durch eine lineare Durchsetzung marktförmiger Wirtschaftsformen geprägt gewesen sei. Zweitens verwies er auf die inhärenten Geschlechterhierarchien des Kapitalismus, die in den Quellen zum Ausdruck kamen, wobei es sich aber auch hier nicht um eine fest fixierte Ordnung gehandelt habe; vielmehr mussten die Geschlechterverhältnisse im Kapitalismus immer wieder neu ausgehandelt und hergestellt werden.

An diese Diagnosen konnte der letzte Vortrag von REINHILD KREIS unmittelbar anknüpfen. Auch bei ihr standen Prozesse der kapitalistischen Vermarktlichung – und deren Widerlager – im Zentrum und verbanden sich mit tradierten Geschlechterrollen und deren Neuaushandlung. Im späten 19. Jahrhundert, so ihr Ausgangspunkt, wurden Praktiken des Selbstherstellens, die lange Zeit für zahlreiche Produkte und Bedürfnisse des Alltags als selbstverständlich gegolten hatten, erklärungsbedürftig. Warum also sollte man beispielsweise Strümpfe selbst stricken, die man ebenso gut oder besser kaufen konnte? Kreis ordnete diese Debatten zwischen „make“ und „buy“ in einen Erziehungsdiskurs ein, der solche Fragen nicht nur ökonomisch beantwortete, sondern in eine umfassendere „moral economy“ einordnete, in der es nicht zuletzt um Erziehungsfragen, Geschlechterdiskurse oder nationale Deutungen und Selbstzuschreibungen ging. Die Dynamik und Offenheit der kapitalistischen Entwicklung, die schon Ruoss in seinem Vortrag betont hatte, kam auch hier zum Ausdruck. Keineswegs nämlich wurden solche Praktiken des Selbermachens vollständig durch marktförmige Versorgungsweisen ersetzt; stattdessen zeigte sich, wie diese Praktiken im Kontext einer sich durchsetzenden Konsumgesellschaft eine neue, oft moralisch und emotional aufgeladene, Bedeutung erhielten.

Als private Versorgungsweisen waren solche Praktiken meist nicht in direkter Weise sanktionierbar. Stattdessen spiegelten sich in ihnen eher implizit normative Ordnungen und „Technologien des Selbst“. Doch konnten diese Praktiken durchaus auch handfeste politische Implikationen haben, wie der Vortrag am Beispiel der beiden Weltkriege und der Versorgungspolitik der DDR zeigte. Auf der anderen Seite gab es aber auch eine lange Tradition von Protestbewegungen und alternativen Lebensweisen, die sich oft in verblüffend ähnlicher Terminologie mit Versorgungsstrategien jenseits des Marktes beschäftigten – von der Lebensreformbewegung über das alternative Milieu der 1960er- und 1970er-Jahre bis in die Gegenwart. Für all diese Beispiele hielt Kreis fest, dass solchen Strategien der Selbstversorgung und Autonomie häufig die Kraft zugeschrieben wurde, weitreichendere Reformen und Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft anzustoßen. Mit den Strategien des Selbermachens, so das Fazit, verbanden sich dabei ganz unterschiedliche gesellschaftliche Themenfelder: Fragen von Wissen und Erziehung, Interessen und Einflüsse von Wirtschaftsbranchen, öffentliche Dienstleistungen und Infrastrukturen, sowie individuelle Identitäten und Strategien der Selbstverwirklichung.

Es ist keineswegs selbstverständlich, dass eine solche Sektion, die von mittelalterlichen Bettelordnen bis zu staatsozialistischen Reparaturwerkstätten reicht, wirklich als Einheit funktioniert. In diesem Fall haben die Vorträge aber gezeigt, wie sinnvoll und weiterführend ein transepochaler Zugang sein kann. Das lag vor allem daran, dass sich zahlreiche verbindende Themen erkennen ließen, die in allen Vorträgen in der einen oder anderen Weise aufschienen –z.B. in Bezug auf die immer volatile Grenzziehung zwischen privaten Versorgungsstrategien und öffentlichen Ordnungsvorstellungen, in Bezug auf die Bedeutung sozialer und geschlechterpolitischer Zuschreibungen, oder die moralischen, politischen und religiösen Deutungen, die mit den unterschiedlichen Versorgungsstrategien verbunden wurden. Diese Fragestellungen ließen sich noch weiterführen: beispielsweise in einer mediengeschichtlichen Perspektive, die in allen Vorträgen anklang, aber nicht systematisch analysiert wurde, oder in der Frage nach dem Verhältnis von ökonomischem Wissen und (Alltags-)Praxis. Für den transepochalen Zuschnitt des Panels wäre es darüber hinaus vor allem interessant, bestimmte Schlüsselbegriffe, die in den Vorträgen vorkamen – z.B. Markt, Geld, Preis, Wert, Bedürfnis – noch stärker zu historisieren und ihre Bedeutung in den jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Kontexten herauszuarbeiten. Kurz zusammengefasst: Auf dem Münchner Historiker:innentag über „moral economies“ in einer langen zeitlichen Perspektive nachzudenken, hat sich gelohnt – und bietet auch für die Zukunft großes Potenzial.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Reinhild Kreis (Siegen) / Annette Kehnel (Mannheim)

Annette Kehnel (Mannheim): Sharing economy – eine ideale Versorgungsstrategie für mobile, urbane Lebensstile. Konzepte aus dem 13. Jahrhundert

Daniel Schläppi (Bern): „Eine derer trefflichsten Wissenschafften“. Gutes Haushalten gut versorgter Haushalte als ökonomische Grundlage der Gemeinwirtschaft

Matthias Ruoss (Bern/Zürich): Umkämpfte Schlüsselgewalt. Dynamiken des Geschlechterregimes im liberalen Kapitalismus (1840 bis 1914)

Reinhild Kreis (Siegen): Zeit oder Geld? Die moral economy häuslicher Versorgungsstrategien im Konsumzeitalter