HT 2021: Von Deutungen und Umdeutungen – Atomtechnologie zwischen Erlösung und Apokalypse

HT 2021: Von Deutungen und Umdeutungen – Atomtechnologie zwischen Erlösung und Apokalypse

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Sascha Brünig, SFB/TRR 138 »Dynamiken der Sicherheit«, Philipps-Universität Marburg

Vier Jahre bevor im unterfränkischen Kahl das erste kommerziell betriebene Kernkraftwerk der Bundesrepublik ans Netz ging, veröffentlichten die Journalisten Gerhard Löwenthal und Josef Hausen ein Buch, das die Atomkraft im kollektiven Bewusstsein der westdeutschen Gesellschaft als eine vitale Infrastruktur verankern sollte. Unter dem Titel „Wir werden durch Atome leben“ offerierten die Verfasser eine dezidiert utopische Zukunftsvision: Was mit dem beginnenden Atomzeitalter entfesselt werde, sei „nicht nur elektrischer Strom, sondern auch ökonomische und soziale Kraft“, die „tief in das Leben jedes einzelnen eingreifen“ und „unser gesamtes Denken revolutionieren“ werde.1 Gut zwei Jahrzehnte später schienen sich die Deutungshorizonte fundamental verschoben zu haben: Anstatt die Atomkraft als Agent eines revolutionären Aufbruchs zu zelebrieren, glaubte der Philosoph Günther Anders in der menschlichen Nutzbarmachung der Kernspaltung das „endgültige Kainszeichen unserer Existenz“ zu erkennen und sah den Menschen einer Gefahr ausgesetzt, die nur „durch [das] Ende selbst“ wieder eingehegt werden könne.2

Die exemplarische und hier nur holzschnittartige Gegenüberstellung von Löwenthal/Hausen und Anders verweist nicht nur auf einen zeitlichen Wahrnehmungswandel der Kernenergie in der westdeutschen Publizistik, sondern deutet ebenfalls den eschatologischen Horizont an, in dem sich viele Deutungsangebote der atomaren Stromproduktion beweg(t)en. Doch artikulierten die Zeitgenoss:innen ihre Wahrnehmung der Kernenergie grundsätzlich mit Verweis auf solche geschichtstheologischen Grenzvorstellungen? Oder gab es auch Versuche, jenseits aller inhaltlichen Schärfe einen pragmatischen Mittelweg zu beschreiten? Mit diesen Fragen wies PAUL NOLTE (Berlin) in seinen einführenden Worten auf das Desiderat hin, geschichtstheologische Kategorien wie Apokalypse und Erlösung stärker auf ihren zeitgenössischen Diskursgehalt zu überprüfen. Damit war gleichzeitig auch die Frage aufgeworfen, ob der Sektionstitel eine scharfe Polarität der Deutungskämpfe suggerierte, die realiter wesentlich konsensorientierter und kompromissbereiter ausfielen. Nicht nur in dieser Frage, so Nolte weiter, biete sich eine vergleichende Perspektive auf die mit der Atomkraft verbundenen Deutungskämpfe in den westlichen Gesellschaften an, um übergreifende Muster und nationale Spezifika – wie beispielsweise die von Frank Biess als Leitmotiv einer „anderen Geschichte der Bundesrepublik“ vorgeschlagene „Verunsicherung und Zukunftsunsicherheit in der westdeutschen Gesellschaft“3 – zu identifizieren. Vergleichende Perspektiven wiesen auch deshalb großes heuristisches Potenzial auf, weil die Geschichte der Kernenergie mittlerweile als ein etabliertes Thema gelten dürfe, das für umwelt-, technik- und politikhistorische Fragestellungen genauso einschlägig sei wie für die Geschichte sozialer Bewegungen.

Der erste Vortrag der Sektion wurde von CHRISTIAN GÖTTER (München) gehalten. Götter verwies auf die hochfliegenden Utopien, die mit der Einführung der zivilen Kernenergienutzung in Großbritannien und der Bundesrepublik verbunden worden waren. Die in beiden Ländern bisweilen ausufernden Diskurse versuchte Götter durch eine Konzentration auf jeweils drei Kernkraftwerksstandorte einzufangen – und zwar solche, die von den Zeitgenossen und der historischen Forschung kaum beachtet wurden, da markante (Sicherheits-)Zwischenfälle dort nicht auftraten. In den 1950er-Jahren sei die Einführung der zivilen Kernenergienutzung in Großbritannien, deren Geschichte Götter anhand der kleinen Gemeinde Oldbury in der Nähe von Bristol verfolgte, eng mit positiven Vorstellungen einer technischen Erhabenheit der Kerntechnik verbunden gewesen. Zugleich seien die nuklearen Utopien lokalisiert und damit enggeführt worden: Nicht mehr Großbritanniens Rolle in der Welt (und die Bedeutung der Kerntechnik für diese Rolle) bildete den Referenzrahmen, sondern preisgünstiger Strom und die Auswirkungen eines möglichen Stör- bzw. Unfalls vor Ort. Während sich die lokale nukleare Utopie in Oldbury als resilient genug erwies, um der Herausforderung durch die dystopischen Potenziale der Kerntechnik widerstehen zu können, war die Situation im niedersächsischen Stade anders gelagert. Nachdem bekannt wurde, dass die Betreiberfirma an der Kommune vorbei mit der Landesregierung über ein vor Ort zu errichtendes Zwischenlager verhandelte, habe dieser Vertrauensbruch einen Umschwung des Diskurses herbeigeführt. Als Reaktion darauf trieben Kernenergiebefürworter den Aufbau eines dystopischen Imaginariums voran, das die ökonomischen und ökologischen Verwerfungen in einer Welt ohne Kerntechnik betonte. Kriege um Öl, das Waldsterben, der Treibhauseffekt und der Anstieg der globalen Meeresstände bildeten wichtige Referenzobjekte dieser Pro-Kernenergie-Dystopien. Auch spezifische lokale Varianten dieser Dystopien konnte Götter herausarbeiten, vor allem den vermeintlich drohenden Verlust von Arbeitsplätzen und einen zu befürchtenden wirtschaftlichen Kollaps der Region.

Der Vortrag von ASTRID MIGNON KIRCHHOF (Berlin) schloss an Götters lokalgeschichtlich verankerte Vorgehensweise an. Kirchhof näherte sich mithilfe des Konzepts der toxischen Zeit-Räume den Auseinandersetzungen um das nukleare Endlager in der niedersächsischen Gemeinde Gorleben, deren wichtigste Eckdaten sie einleitend skizzierte. In den Wochen und Monaten nach der von der niedersächsischen Landesregierung gefällten Entscheidung für den Standort Gorleben habe sich die Gemeinde zu einem Anziehungspunkt für kernenergiekritische Bürgerinitiativen aus dem gesamten Bundesgebiet entwickelt. Am Beispiel der Gorleben-Frauen legte Kirchhof dar, dass die Artikulation der gesellschaftlich verbreiteten Ängste vor zukünftigen Strahlungsfolgen vor allem den Protestakteurinnen vorbehalten blieb. Auf diese Weise erweiterten beispielsweise die „Gorleben-Frauen“ die Perspektive der politischen Auseinandersetzungen, in der zuvorderst mit geologischen Wissensbeständen argumentiert wurde, um die Dimension eines zeitlich bedingten Nicht-Wissens bzw. Noch-Nicht-Wissen-Könnens. Im Zuge dessen transformierten sich auch die Protestpraktiken: Im Rahmen eines Besuchs von Ernst Albrecht (CDU) vor Ort überreichten die Gorleben-Frauen dem niedersächsischen Landesvater lokal angebaute Lebensmittel und kommunizierten damit zugleich die Erwartung einer zukünftig möglichen Strahlenbelastung ihrer Region. Auch im Rahmen der aktuellen Endlagersuche, so Kirchhof, werde die temporale Dimension der Strahlungsproblematik wieder stark oder völlig zugunsten eines raumbezogenen Findungsverfahrens ausgeblendet.

Umstrittenes Wissen spielte auch im Vortrag von KARENA KALMBACH (Eindhoven) eine Schlüsselrolle, die sich mit der Geschichte der „Radiophobie“ als transnationales pro-nukleares Argument im Fahrwasser der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl beschäftigte. Der Begriff, dessen erstes Auftreten Kalmbach auf das Jahr 1987 datierte, beschrieb ein medizinisches Syndrom: Der Diagnose einer „Radiophobie“ lag die Annahme zugrunde, dass die Zunahme von Krankheiten in den stark von Tschernobyl betroffenen Gebieten nicht auf die ionisierende Strahlung zurückzuführen sei, sondern auf eine vermeintlich übertriebene Angst vor dieser Strahlung, den Stress durch eine (mögliche) Umsiedlung sowie auf die rapiden ökonomischen und soziokulturellen Transformationen in Osteuropa seit den späten 1980er-Jahren. Dieser Stress, so die weitere Annahme, sei durch das Misstrauen in örtliche und staatliche medizinische und politische Autoritäten noch verstärkt worden. „Radiophobie“ bildete damit ein epistemisches Objekt, in dem sich medizinische Wissensproduktion und politische Macht auf geradezu paradigmatische Weise verschränkten. Denn nicht nur ließen sich auf diese Weise die mit ihrem Status als Strahlenopfer begründeten finanziellen Entschädigungs- und politischen Partizipationsforderungen der „biological citizens“4 in der post-Tschernobyl Ukraine und in Belarus zurückweisen. Auch die prinzipielle Infragestellung der kerntechnischen Stromerzeugung durch die Anti-Atomkraft-Bewegung in vielen westlichen Gesellschaften – die Kalmbach exemplarisch mit Blick auf Großbritannien und Frankreich verfolgte – ließ sich mit dem Verweis auf die „Radiophobie“ der Betroffenen diskreditieren. Dass mit diesen Zuschreibungen von Emotionalität zugleich Machthierarchien zwischen vermeintlich emotionalen Laien auf der einen und rationalen Experten auf der anderen Seite reproduziert und gefestigt worden seien, liege auf der Hand, so Kalmbach abschließend.

Der Vortrag von FRANK UEKÖTTER (Birmingham) bildete den Abschluss der Sektion. Uekötter gab einleitend einige grundsätzliche Zustandsbemerkungen zur deutschsprachigen Kernenergiegeschichtsschreibung ab. Die Forschung zur Atomkraft in Deutschland arbeite sich vor allem im Rahmen von Qualifikationsarbeiten voran, deren Spezialcharakter und enger Fokus jedoch oftmals die größeren Zusammenhänge aus dem Blick geraten ließen. Die zentrale Herausforderung für Historiker:innen, die sich mit der Kernenergie befassten, liege jedoch nicht im fachimmanenten Drang zur Spezialisierung und perspektivischen Verinselung, sondern in der Macht der visuellen Medien. Im Hinblick darauf machte Uekötter eine doppelte Verzerrung aus: Erstens wirkten die Anti-Atomkraft-Proteste gewaltvoller, als sie tatsächlich gewesen seien. Zweitens halte sich hartnäckig die Vorstellung, die Kernenergie sei in Deutschland vor allem am Widerstand der Zivilgesellschaft gescheitert; eine Sichtweise, die Uekötter für zumindest partiell revisionsbedürftig erachtete. Historiker:innen müssten oftmals die Aufgabe antreten, die Blindstellen und Verzerrungen eines stark bildlastigen öffentlichen Diskurses zu korrigieren. Uekötters Vortrag erhob demgegenüber nicht nur einen korrektiven, sondern auch einen synthetisierenden Anspruch, der sich zehn Jahre nach dem Ausstiegsbeschluss von 2011 auch der Frage nach der Gesamtbewertung der deutschen Kernenergiegeschichte stellen wollte. Uekötters Bilanz fiel durchaus positiv aus: So sei in den 1970er-Jahren die Verhinderung einer breiten gesellschaftlichen Eskalation der Kernenergiefrage gelungen, weil beide Seiten schrittweise von ihren Maximalforderungen zurückgetreten seien. Eine Schlüsselrolle wies Uekötter den Gerichten zu, welche in zahllosen verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Temperatur der Kernenergiekontroverse merklich heruntergekühlt hätten. Für die Narrative der Kernenergiegeschichte ergebe sich daraus, dass die Beilegung des Konflikts in den „Mikroprozessen der westdeutschen Demokratie“ (Uekötter) durchaus als Erfolg gewertet werden dürfe.

Die Abschlussdiskussion brachte zunächst noch einmal die Frage nach den transnationalen Bezügen der deutschen Kernenergiegeschichte aufs Tapet. Götter wies auf die vielfältigen Austauschprozesse zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik hin, wie sie besonders in der Frühphase der Kernenergienutzung prägend waren und sich etwa in gegenseitigen Delegationsbesuchen (lokaler) Entscheidungsträger:innen im Zeichen einer öffentlichen „Angstabwehr“ (J. Radkau) manifestierten. In den 1970er-Jahren sei dagegen ein Protestimport nach Großbritannien zu beobachten, im Zuge dessen sich die britische Anti-Atomkraft-Bewegung in der Bundesrepublik erprobte Protestformen und -strategien aneignete. Kirchhof ergänzte, dass ein Transfer nuklearer Bedrohungsperzeptionen und politischer Widerstandsstrategien aus den USA in die Bundesrepublik auch in der Person Petra Kellys zu beobachten sei. Uekötter argumentierte, dass nach anfänglich starken transnationalen Vernetzungsprozessen (insbesondere im deutsch-französisch-schweizerischen Dreieck Wyhl–Fessenheim–Kaiseraugst) ab der Mitte der 1970er-Jahre ein Nationalisierungsschub des Anti-Atomkraft-Protests zu beobachten sei, der den westdeutschen Referenzrahmen der Kernenergiekontroverse wieder ausgeprägter hervorgetreten ließ. Uekötter und Kirchhof verteidigten abschließend die Beurteilung, wonach der Anti-Atomkraft-Protest nicht den Hauptgrund für das Scheitern der Kernenergie in der Bundesrepublik dargestellt habe. Der zivilgesellschaftliche Widerstand sei wichtig, ohne eine zeitlich parallel gelagerte „innere Krise“ des nuklearen Projekts aber schwerlich durchschlagend genug gewesen, um einen Ausstieg aus der Kernenergie politisch allein herbeizuführen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Paul Nolte (Berlin)

Christian Götter (München): Apokalypse oder Erlösung – Die umkämpfte Bedeutung der Atomenergie in Deutschland und Großbritannien

Astrid Mignon Kirchhof (Berlin): Toxische Zeit-Räume: Der Kampf um das westdeutsche Endlager in den 1970ern

Karena Kalmbach (Eindhoven): Radiophobie: Zur Transnationalität eines pro-atomaren Arguments

Frank Uekötter (Birmingham): Atomare Demokratie. Nukleare Geschichte am absehbaren Ende der Kernenergie in Deutschland

Anmerkungen:
1 Gerhard Löwenthal / Josef Hausen, Wir werden durch Atome leben, 2. Aufl. Berlin 1956, S. 18 u. 20.
2 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, 4. Aufl., München 2018, S. 21.
3 Frank Biess, Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek 2019, S. 18.
4 Adriana Petryna, Life Exposed: Biological Citizens after Chernobyl, Princeton 2002.


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