„Alltagsväter?“ Männliche Sorgebeziehungen in historischer Perspektive seit 1950

„Alltagsväter?“ Männliche Sorgebeziehungen in historischer Perspektive seit 1950

Organisatoren
Katja Patzel-Mattern, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK), Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Ort
digital (Heidelberg)
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2021 - 21.09.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Mirijam Schmidt, ZEGK, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die historische Auseinandersetzung mit Vätern, Vaterschaft und männlicher Care-Arbeit steckt noch in den Kinderschuhen. Dies gilt insbesondere für den Zeitraum ab 1945, dessen Bearbeitung aufgrund der schwierigen Quellenlage über gelebte Vaterschaft eine größere und damit aufwendigere Suchbewegung erfordert. Wegen dieses Forschungsdesiderats legte der Workshop seinen Schwerpunkt auf historische Quellen, die Väter greifbar machen, und darauf, methodische Ansätze zu diskutieren, die es ermöglichen, eine quellenbasierte Alltagsgeschichte der Vaterschaft zu schreiben. Im Zentrum der Vorträge standen die Fragen, warum und zu welchen Zeitpunkten sich die Leitbilder über Vaterschaft änderten und welche Diskurse sowie Akteure diesen Wandel in der BRD und DDR begleiteten bzw. gestalteten. Die konstatierte Diskrepanz zwischen den veränderten Leitbildern und der Praxis der gelebten Vaterschaft wurde im Kontext gesellschaftlicher und arbeitsmarktpolitischer Rahmenbedingungen diskutiert.

Nach den begrüßenden Worten von Katja Patzel-Mattern (Heidelberg) führten Gina Fuhrich (Heidelberg) und Hannah Schultes (Heidelberg) die Teilnehmer:innen thematisch in den interdisziplinären Workshop und dessen Schwerpunkte und Leitfragen ein. Beide betonten, dass der Workshop die Möglichkeit bieten solle, work in progress vorzustellen und zu diskutieren, um so ein Forum für die Frage nach geeigneten Quellen bieten zu können, mit deren Hilfe sich die Qualität, Intensität und Veränderungen der Sorgebeziehungen zwischen Vätern und Kindern seit den 1950er-Jahren erforschen lassen.

Im Einführungsvortrag erörterte TILL VAN RAHDEN (Montréal) den Konnex des veränderten Leitbildes der Vaterschaft und der politischen Neuordnung in der westdeutschen Nachkriegszeit. Dabei zeichnete er das Bild einer Zeit, die geprägt war von der Abgrenzung zum patriarchalischen Väterbild. Im Zeitgeist herrschte die Vorstellung vor, dass die Dominanz der Männer als Familienoberhaupt und deren tragende politische Kraft die Schuld an der Katastrophe des Jahrhunderts tragen würde. In Politik und Publizistik wurde dementsprechend eine gleichberechtigte weibliche Beteiligung am demokratischen Wiederaufbau angemahnt. Damit einher ging ein verändertes Bild von Männern, das nicht mehr den zum Kampf bereiten Beschützer der Familie und des Staates beinhaltete, sondern sich nun ganz auf die Väter konzentrierte, die idealerweise Verständnis für die eigenen Kinder mitbrachten und mit ihren Ehefrauen in Partnerschaft lebten. Wie sich diese Suche nach besseren und sanfteren Männern im offiziellen Diskurs über die neue Demokratie niederschlug, zeichnete Van Rahden besonders am Bedeutungswandel des Begriffs „Patriarchat“ nach. In der Gegenüberstellung von Vorkriegs- und Nachkriegslexika u.a. aus Politik, Soziologie und Religion legte er die Neubesetzung des Wortes dar und betonte, dass die Nachkriegszeit als Scheitelpunkt zu verstehen sei, seit dem der Patriarchalismus als ein Relikt der Vergangenheit angesehen wurde. Von hier aus konnte der Aushandlungsprozess um einen sozialeren und demokratischeren Bundesstaat seinen Ausgang nehmen, indem beispielsweise die Begrenzung der väterlichen Rechte – wie 1959 mit der Abschaffung der rechtlichen Grundlage für das männliche Familienoberhaupt – zunahm. Das politische Leitbild von der neuen Staats- und Lebensform war mit einer politischen Ideologie männlicher Vorherrschaft nicht mehr vereinbar, sodass eine politische wie gesellschaftliche Neudefinition der Geschlechterrollen auf der polit-sprachlichen Ebene einherging.

LAURA MOSER (Heidelberg) ging auf die gelebte Vaterschaft und deren Ausgestaltung im Hausfrauen-Ernährer-Modell anhand des Modellprojektes Tagesmütter (1974-1978) ein. Sie begründete ihren Perspektivwechsel auf die von weiblicher Sicht geprägten Quellen damit, dass die Projektteilnahme der Ehefrauen und Mütter auch Auswirkungen auf die eigene Familiensituation und damit auch auf die Familienväter hatte, sowie durch die Existenz der Arbeitsgruppe 4 „Männer im Modell“, in der die dazugehörigen Ehemänner und Väter in der Abschlusstagung in Bad Boll zu Wort kamen. Besprochen wurde die Auswirkung der Teilnahme der Ehefrauen im Modellprojekt auf die Betreuungssituation der eigenen Kinder. Deutlich wurde dies vor allem für drei Wochenendseminare, bei denen die Väter bei der Betreuung der Kinder – häufig zum ersten Mal – auf sich gestellt waren. Anhand von drei Beispielen verdeutlichte Moser die unterschiedlichen Einschätzungen der damit konfrontierten Väter. Diese reichten von positiven Erfahrungen, die Situation meistern zu können, über keine Veränderung des traditionellen Geschlechterbildes bis hin zur pragmatischen Erklärung, dass die Situation nur aufgrund des Alters der Kinder zu meistern gewesen war. Das von den Tagesmüttern genannte zentrale Konfliktfeld des Rollenverständnisses in der Ehe verdeutlichte die Vortragende anhand des Vorwurfes der Ehemänner, dass die Frauen ihre eigenen Bedürfnisse stärker ins Zentrum rücken würden; diese Veränderungen wurden von den Ehemännern im Alltag als radikal oder gar revolutionär betrachtet. Der Vortrag verdeutlichte private Verhandlung von gesellschaftlichen Geschlechterbildern in Familien und die darin enthaltenen individuellen Spielräume der Akteur:innen.

PETER HALLAMA (Bern) stellte die Facetten und Leitbilder von Vaterschaft in der DDR ins Zentrum seiner Überlegungen. Methodisch verfolgte er das Ziel, eine relationale Geschlechtergeschichte des Sozialismus vorzutragen, die neben dem Thema der „neuen Frau“ auch die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie nicht nur für Mütter, sondern eben auch für Väter beleuchtet. Auf der Basis von unterschiedlichen Printmedien, zeitgenössischen Publikationen wie Familienratgebern und Quellen aus Betriebsarchiven, wurden konkrete zeitgenössische Vorschläge für die Ausgestaltung einer sozialistischen Vaterschaft in den Bereichen Arbeit, Familie und Gesellschaft verdeutlicht, so zu finden bereits 1950 in der Frauenzeitschrift „Die Frau von heute“. Die propagierten neuen Väter galten dabei als Symbol des Bruchs mit alten Geschlechterbildern und verdeutlichten die Zukunftsorientierung der DDR. Hallama betonte das praktische Beispiel der Betriebe, die seit 1986 auch den angestellten Vätern bezahlte Kinderkrankentage ermöglichen mussten – das Ergebnis einer Diskussion, die ihre Anfänge bereits in den 1960er-Jahren hatte. Anhand der beiden Schwerpunkte – Theorie und Praxis – verdeutlichte der Vortragende die „Umerziehung“ der Männer in der DDR und zeigte auf, wie sich die väterliche Praktik änderte und wie die Arbeitswelt auf diesen Wandel reagierte, etwa durch die Einführung der Kinderkrankentage für Väter.

ANNE KREMER (Mannheim) stellte anhand des IG Metall-Werbefilms „Samstags gehört Vati mir“ von 1955/56 den Akteur Gewerkschaft im zeitgenössischen Aushandlungsprozess der Familienpolitik vor. Den Schwerpunkt legte sie auf die gewerkschaftlichen Leitbilder von Vaterschaft und die theoretischen Entwürfe sowie deren praktische Umsetzung, wie Väter in den Familienalltag involviert sein sollten. Anhand von Mitgliederzeitschriften, Leser:innenbriefen, Werbekampagnen, Zeitzeugeninterviews und Karikaturen der 1970er- und 1980er-Jahre gab sie Einblicke in die gewerkschaftlichen Repräsentationen von und Diskussionen über Vaterschaft zwischen Arbeits- und Familienalltag. Dabei verdeutlichte sie, dass das Bild von Vaterschaft auch innerhalb der Gewerkschaften an die aktuelle Debatte der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre angeschlossen und ausgehandelt wurde. Sie unterstrich diese These durch das Beispiel der IG Metall-Programmatik, die Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter propagierte. Der Fokus der zeitgenössischen Auseinandersetzung lag dabei auf der Arbeitszeiten- und Lohnfrage. Innerhalb dieser Diskussion wurde aber auch an der Tradition des Wochenendvaters und der damit verbundenen männlichen Ernährer-Rolle als vorherrschendes Modell festgehalten. Die Ambivalenz dieser Thematik, so schloss die Referentin, sei im zeitlichen Kontext zu betrachten und ließe sich hauptsächlich durch die Diskrepanz zwischen dem theoretischen Ideal und der väterlichen Praxis im Alltag erklären.

HANNAH SCHULTES (Heidelberg) betrachtete den Konnex zwischen Arbeitszeitformen und väterlicher Sorgearbeit. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass mögliche Wechselwirkungen zwischen väterlichen Praktiken und Veränderungen der Arbeitswelt noch selten in den Blick gerieten. Zudem werde in Bezug auf den Wandel von Vaterschaft zwar häufig davon ausgegangen, dass die Zustimmung zum Ideal „neuer Vaterschaft“ milieuspezifisch war, woraus sich aber nicht auf die väterliche Praxis schließen lasse. Auf der Basis einer Sekundärauswertung von Interviews von 1989 und 1990 aus der soziologischen Studie „Alltägliche Lebensführung“ analysierte Schultes beispielhaft Aussagen von Schichtarbeitern und freien Journalisten zum Thema Wochenende. Trotz der unterschiedlichen Ausmaße von zeitlicher Fremdbestimmung bei Schichtarbeit und selbstständiger Arbeit waren beide Gruppen von einer teilweisen Auflösung der Trennung zwischen Arbeitswoche und arbeitsfreiem Wochenende betroffen. Die Referentin zeigte, dass diese Art der Destandardisierung der Arbeitszeiten sich tendenziell negativ auf männliche Sorgebeziehungen auswirkte, unter anderem da die Passfähigkeit von Arbeitszeiten mit Beschulungszeiten abnahm.

Im Abschlussvortrag ging DIANA LENGERSDORF (Bielefeld) aus geschlechtersoziologischer Sicht der Frage nach, warum die praktische väterliche Sorgebeteiligung zeitlich hinter den gesellschaftlichen Diskursen über die neue Vaterschaft hinterherhinkte. Die langanhaltende Stabilität der Geschlechterverhältnisse erklärte sie mit dem Konzept der Hegemonie, das aus politischer Sicht einen tragbaren Kompromiss als Basis benötigt, der durch beide Geschlechter vertreten und getragen werden muss. Die Hegemonie würde dabei immer wieder durch Konflikte und zentrale Auseinandersetzungen neu verhandelt und bliebe wegen dieser Wandlungsfähigkeit stabil. Das Paradox der Gleichzeitigkeit von Wandel und Persistenz untersuchten die Referentin und ihr Team im Projekt „Neujustierung von Männlichkeit“ (2016-2019) in 27 nach Beruf getrennten Gruppendiskussionen. Unter Rekurs auf die Gruppen der in der Gastronomie Beschäftigten und der Eventmanager betrachtete Lengersdorf die Aussagen der Männer zu den Dimensionen „Männlichkeit und Erwerbsarbeit“ und „Männlichkeit und Vaterschaft“. Dabei konstatierte sie, dass durchaus eine Neuverhandlung stattfand – das männliche Ernährer-Modell sollte mit der Care-Arbeit für die eigenen Kinder einhergehen, und Mutterschaft und weibliche Erwerbsarbeit schlossen sich nicht aus. Allerdings spielte sich dieser Aushandlungsprozess weiterhin in der traditionellen Familienkonstellation Vater-Mutter-Kind und deren klassischen Rollenmustern ab.

Die Workshop-Teilnehmer:innen diskutierten Brüche und Kontinuitäten in Vaterschafts-Leitbildern in BRD und DDR und die damit verbundenen Praktiken in unterschiedlichen Zeitabschnitten. Die Frage, wo es zu einer Verbreitung von „Alltagsvätern“ kam, konnte nicht befriedigend beantwortet werden, so ein Fazit. Doch das Defizit der nicht vorhandenen Massenakten in diesem Themenfeld, so einige Referent:innen, zwinge auch dazu, vielfältigere Quellen heranzuziehen, die Ambivalenzen und neue Perspektiven zu Tage förderten. Zudem stellte sich heraus, dass eine Gleichzeitigkeit von Patriarchen, Alleinernährern und „neuen Vätern“ gegeben war, die verdeutlicht, dass die Auflösung des konservativen Vaterschaftsbildes von Widersprüchen geprägt war, die in ihren jeweiligen historischen Kontexten sowie in der sozialen Lage zu bewerten sind.1

Konferenzübersicht:

Katja Patzel-Mattern (Heidelberg): Begrüßung

Gina Fuhrich / Hannah Schultes (Heidelberg): Thematische Einführung

Till van Rahden (Montréal): Im Herbst der Patriarchen: Väterlichkeit und Demokratie in der frühen Bundesrepublik

Laura Moser (Heidelberg): „Der Mann fühlt sich provoziert und leistet Widerstand.“ Väter im Modellprojekt Tagesmütter (1974-1978)

Peter Hallama (Bern): Auf dem Weg zu sozialistischen Vätern? Theorie und Praxis der „Umerziehung“ der Männer in der DDR

Anne Kremer (Mannheim): „Samstags gehört Vati mir“. Vaterbilder in der westdeutschen Industriegewerkschaft Metall der 1970er- und 1990er-Jahre

Hannah Schultes (Heidelberg): Arbeitszeitformen und väterliches Sorgehandeln in den 1980er-Jahren der Bundesrepublik

Diana Lengersdorf (Bielefeld): Anders als der eigene Vater – soziologische Perspektiven auf den Wandel von Vaterschaft und Männlichkeiten

Abschlussdiskussion mit Gina Fuhrich und Katja Patzel-Mattern

Anmerkung:
1 Weitere Informationen zu diesem Themenkomplex finden sich auf der Website des Heidelberger Forschungsprojektes (https://www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/philosophie/zegk/histsem/mitglieder/patzel-mattern/verbundprojekte_fruehe_kindheit_im_20._jahrhundert.html) und im Blog der Veranstalter:innen des Workshops „Zeit mit (Groß-)Vätern. Elternschaft nach dem Boom“ (https://grossvater.hypotheses.org/).


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