HT 2021: Konkurrierende Heilsversprechen im säkularen Staat: Anti-/Religiöse Deutungsansprüche zwischen Konflikt und Kooperation 1870–1930

HT 2021: Konkurrierende Heilsversprechen im säkularen Staat: Anti-/Religiöse Deutungsansprüche zwischen Konflikt und Kooperation 1870–1930

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Katharina Neef, Religionswissenschaftliches Institut, Universität Leipzig

Ansatzpunkt der von Johannes Gleixner (München) veranstalteten Sektion war die Begründungsnotwendigkeit von (staatlicher) Ordnung in der Moderne. Weil die Transformationen des langen 19. Jahrhunderts die Legitimität von gesellschaftlichen Einrichtungen wenn nicht infrage gestellt, so doch zumindest denaturalisiert hätten, blickten die Teilnehmenden des Panels in ihren Fallbeispielen auf Anbieter:innen alternativer Legitimationsmodelle und Ressourcen. Bereits einleitend stellte Johannes Gleixner fest, dass besonders marginale religiöse Akteur:innen hier große Aufmerksamkeit verdient hätten, da der allgelegentlich proklamierte gesellschaftliche Plausibilitätsbruch gerade auch nonkonformistische Gruppierungen dazu eingeladen habe, „Sinnüberschuss“ zu produzieren, also Tropen ihrer partikularen Identitäten als integrative Ressourcen in den nationalen Diskurs einzuspielen. Indem somit dezidiert religionsgeschichtliche Akteur:innen fokussiert wurden, rangierte also das vorgestellte Feld zwischen kirchlich-religiös bis antiklerikal.

Den Anfang machte CAROLIN KOSUCH (Göttingen), die am Beispiel Italiens aufzeigte, wie zu Mitte des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl gesellschaftlicher Fraktionen ihre Deutungsansprüche an die sich formierende Nation artikulierten und wie sich diese spätestens im Zuge der Kulturkämpfe zu einem dichotomen Konfliktmodell von Säkularismus vs. Katholizismus reduzierten und verdichteten. Dabei ist für die säkularistische Seite herauszustellen, dass diese alles andere als homogen war, sondern sich hier vielmehr netzwerkartig ganz unterschiedliche Gruppen und Programmatiken wiederfanden – geeint einerseits durch eine externe Zuschreibung der Gemeinsamkeit und andererseits durch eine sich zunehmend klar herauskristallisierende gemeinsame Semantik des Säkularen. Diese Semantik resonierte in verschiedenen Räumen, etwa der Frage nach der Verfasstheit des italienischen Staats, bei der Einrichtung des Bildungswesens oder im Bestattungswesen. Konkrete Positionen, etwa die Entscheidung für Kremation statt Erdbestattung, erreichten so den Status eines Bekenntnisses – dessen sich z.B. auch (liberale) religiöse Minderheiten oder politische Fraktionen bedienten, um ihre Zugehörigkeit zu einer als modern verstandenen italienischen Nation zu demonstrieren.

Mit seiner Prosopografie der evangelischen Theologieprofessoren des Kaiserreichs blickte FRIEDRICH WILHELM GRAF (München) zwar auf eine zahlenmäßig kleine (zwischen 1871 und 1918 zählt er 420 Professoren und Privatdozenten), aber in der Öffentlichkeit sehr präsente und diskursstarke Gruppe. Diese Relevanz speiste sich aus zwei Quellen: habituell aus dem Selbstverständnis als „Wertelite“ und „schreibende Zunft“ mit enormem publizistischem Output und Reichweite; intellektuell aus dem Anspruch, eine spezifische Theorie des Politischen zu generieren. Diese verstand sich als genuine Leistung für den deutschen Staat, nämlich als Legitimation der säkularen Sphäre des Politischen auf theologischer Grundlage. So sei es vor allem die nationalhistorische Deutung der Reichseinigung von 1871 als Vollendung der Reformation, die im protestantisch-theologischen Milieu entstanden und nicht nur in die Profanhistorie, sondern ins öffentliche Bewusstsein diffundiert sei.

Ehe MARTIN SCHULZE WESSEL (München) den regionalen Fokus verlagerte, nahm er den Ball kurz auf und stellte den Theologen die Historiker als sinnproduzierende Zunft der Moderne gegenüber – zumindest lasse sich (überleitend zum eigentlichen Thema) für die Habsburgermonarchie sagen, dass die Historik ein ebenso relevanter (nationaler) Sinnanbieter geweisen sei wie die Theologie. Allerdings habe gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem der Katholizismus seine integrative Kraft zugunsten neuer, säkularer oder partikular-nationaler Sakralisierungen verloren. Schulze-Wessels Augenmerk richtete sich aber auf die Zeit nach 1917, in der die nun also populären Sakralisierungen religionisiert worden seien. Das heißt, die Religionsgemeinschaften nahmen die nationalen Narrative aktiv auf und integrierten sie in ihre Identitätsarbeit. Im Falle der Tschechischen Republik boten die verschiedenen religiösen Minderheiten so infolge des post-imperialen „Sinnvakuums“ ihre jeweilige Re-Interpretation des nationalen tschechischen Motivs an, indem sie (mit je eigener Prägung) die Formierung der tschechischen Nation aus dem Geiste Jan Hus‘ erzählten.

Der letzte Vortrag von JOHANNES GLEIXNER (München) setzte diese Überlegungen in gewisser Weise fort, denn er lotete die Strategien und Politiken säkularistischer und religiöser Akteur:innen in der frühen Sowjetunion aus. Denn grundsätzlich lässt sich für die (nach)revolutionäre Phase keine klare religionspolitische Linie identifizieren; vielmehr mäanderten mehrere Agenden und Ziele ineinander: klar kirchen- und religionskritische Programme, religiöse Individualisten auf der Suche nach einer neuen (ggf. auch atheistischen) Moral oder religiöse Minderheiten. Gleixner zeichnete nach, wie in einer ersten Euphorie öffentliche Streitgespräche zwischen den verschiedenen Fraktionen boomten, die dann aber unterbunden wurden, weil der missionarische impact für die Religionskritik hinter den Erwartungen zurückblieb und vielmehr die liberal-religiösen Positionen propagandistische Wirkung im Publikum erzielten. Sie wurden abgelöst durch die großen antireligiösen Kampagnen der 1920er-Jahre, die sich massiv gegen die Russisch-Orthodoxe Kirche richteten, um den Klerus als Verbündeten des Zarenregimes bzw. des Imperialismus und die Lai:innen als Feinde des sozialistischen Aufbaus zu stigmatisieren. Damit einher ging die Reduktion des Phänomens Religion auf die Orthodoxie und die szientistische Kritik ihrer Lehren – und damit auch die Verdrängung religiöser (liberaler oder individualisierender) Minderheiten aus der Öffentlichkeit.

Nach den Vorträgen blieb noch genügend Zeit, um zwei Stränge aus den Vorträgen aufzunehmen und weiter zu diskutieren. Zunächst galt es die Perspektiven zu schärfen: Während drei der Vorträge Deutungskämpfe zwischen religiösen und säkularen Akteur:innen thematisiert hatten, forderte F.W. Graf die stärkere Berücksichtigung feldinterner Konflikte. Damit verband sich zugleich eine Kritik am Begriff des Säkularen, dem er als katholischen Kampfbegriff eine theoretische Brauchbarkeit absprach. Das traf auf den Widerspruch der anderen Panelteilnehmenden, die einerseits auf aktuelle theoretische Ansätze auch jenseits des katholischen Milieus hinwiesen, die Termini wie Säkularität durchaus fruchtbar machten, und andererseits darauf verwiesen, dass diese Dichotomie von religiöser und säkularer Sphäre historisch eben kein Signum des katholischen Diskurses sei, sondern als Abgrenzung verschiedene Konflikte und Positionen des langen 19. und des 20. Jahrhunderts präge.

Hernach kam die Diskussion auf den Moraldiskurs, da sich viele dieser Konflikte als Verhandlungen und Infragestellungen unterschiedlicher moralischer Vorstellungen formierten. Zumindest für die sozialistischen Fälle ließe sich festhalten, dass der Bruch letztlich nicht so radikal gewesen sei, wie anfänglich postuliert: Zwar habe die frühe Sowjetunion die Wehrdienstverweigerung aus moralischen Gründen als große Errungenschaft gefeiert, diese aber später als „Verweigerung des Dienstes am Gemeinwohl“ kriminalisiert (J. Gleixner). Ähnliches galt für die in der Tschechoslowakei entkriminalisierte Prostitution, die dann aber als Arbeitsverweigerung und Bummelantentum sanktioniert wurde (M. Schulze Wessels). Entgegen der lauten Kämpfe um die neue Moral und die Deutungen des Heils sei es also in vielen Fällen zu einer Reintroduktion klassischer bürgerlicher Moralvorstellungen gekommen – wenn diese auch ein neues Gewand sozialistischer bzw. säkularer Semantik erhalten hätten.

Sektionsbericht:

Sektionsleitung: Johannes Gleixner (München)

Carolin Kosuch (Göttingen): Konkurrierende Sinnstiftungen und vereinter Kulturkampf? Italienische Säkularismen im liberalen Staat

Friedrich Wilhelm Graf (München): Säkularisierung von ‚Ordnung‘. Die Theologische Ethik des Politischen im deutschen Protestantismus um 1900

Martin Schulze Wessel (München): Neue Kirchen für einen neuen Staat? Die Tschechoslowakische Kirche in der CSR und die Lebendige Kirche in Sowjetrussland als religiöse Deuter eines säkularen Umbruchs

Johannes Gleixner (München): Der Kampf um die revolutionäre Seele: Die sowjetischen Gottlosen als religiöser Akteur wider Willen