Die epochenübergreifende Sektion wurde namens der Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden e.V. (GEGJ) von Eva Haverkamp-Rott (München) zusammen mit Andreas Brämer (Hamburg) organisiert. In ihrer Einleitung erinnerte EVA HAVERKAMP-ROTT (München) daran, dass Deutungskämpfe zwischen Juden und Christen über die wesentlichen Inhalte, Ausformungen und Praktiken des Judentums so alt seien wie das Christentum selbst. In teils aggressiver Weise vertraten Christen den Anspruch, das „ursprüngliche“ Judentum besser zu kennen als Juden selbst. Die Argumente drehten sich dabei um Werte, Riten, Zeiten und Texte. In diachroner Schau stellte die Sektion Beispiele für derartige Deutungsansprüche vor und ging dabei auch auf die Fragen ein, wie weit Juden auf diese Prozesse reagierten und warum solche Angriffe auf die Religion in zunehmend säkularisierten Gesellschaften noch immer große Resonanz finden. Im Einzelnen behandelten die vier Beiträge die Schabbatruhe, die nachbiblische Literatur des Judentums, die Beschneidung und das Schächten.
Die Dynamik der Konflikte war und ist keineswegs geradlinig. Dies zeigte ISRAEL YUVAL (Jerusalem) eindrücklich anhand der Dualität von „Schabbat versus Sonntag“ im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Zwar hatten die christlichen Gemeinden von Anfang an den Sonntag (als Tag der Auferstehung) zu ihrem wichtigsten Wochentag erwählt; dies war zunächst jedoch nicht im Sinne einer Verschiebung des Schabbats gedacht. Vielmehr teilten christliche Autoren wie Justinus Martyr und der Verfasser eines der späteren „Ignatius-Briefe“ die heidnische Kritik an den Tagen des „Müßiggangs“, dem sich die Juden hingäben. Als Konstantin im Jahr 321 zwei Edikte über die Sonntagsruhe erließ, damit die Gläubigen an Gebet und Eucharistiefeier teilnehmen konnten, nahm er die Bauern aus der Ruhepflicht aus, was darauf hindeute, dass nicht die Sabbatruhe auf den Sonntag übertragen werden sollte. Erst im 6. Jahrhundert wurde die Ruhe am Sonntag als Anwendung des biblischen Schabbatgebots interpretiert. Die christliche Kritik an der Schabbatruhe der Juden setzte sich dabei fort: sie beruhe nur auf der Abstinenz von körperlicher Arbeit.
Vor diesem Hintergrund unterzog Yuval mehrere zentrale Texte der jüdischen Schabbat-Liturgie einer Neubetrachtung. Schon im Morgengebet werde eine Abgrenzung gegenüber unterschiedlichen nichtjüdischen Gruppen vorgenommen. Während den „Völkern der Erde“ und den „Götzendienern“ die Schabbatruhe gar nicht gegeben worden sei, würden die „Unbeschnittenen“ – womit wohl die Christen gemeint waren – nicht der göttlichen Ruhe teilhaftig. Im Mincha-Gebet des Schabbats wird allein die Ruhe Israels als „vollkommen“ gepriesen. Der Schabbatsegen behauptet, dass bereits die Stammväter Israels diesen Tag heiligten. Dabei werden aber nur für Jakob auch „seine Söhne“ erwähnt (denn Ishmael, Stammvater der Muslime, war ein Sohn Abrahams; Esau, Stammvater Edoms bzw. Roms, ein Sohn Isaaks) – und während Abraham und Isaak sich des Schabbats freuen, ruhen allein Jakob „und seine Söhne“ ausdrücklich an ihm. Der Ritus der „Scheidung“ (havdala) zwischen heiliger Zeit und profaner Zeit am Schabbatausgang unterstreiche die Abgrenzung vom nachfolgenden Sonntag. Die jüdische Liturgie, so Yuval, reagierte also auf den christlichen Konkurrenzanspruch. Die neue Übereinstimmung zwischen Christen und Juden über die Ruhe an einem Tag der Woche sei das Ergebnis eines langen Prozesses gewesen, der Streit und Akkulturation enthalte.
Einen Prozess der gezielten Neuanordnung zur Umdeutung jüdischer Traditionen unter dem Vorzeichen christlicher Polemik beschrieb ULISSE CECINI (Barcelona) in seinem Vortrag über die lateinische Übersetzung und Verurteilung des Talmud im 13. Jahrhundert. Diese Vorgänge seien in den übergreifenden Prozess der Etablierung einer lateinischen Orthodoxie und der Ketzerbekämpfung seit Beginn des Jahrhunderts einzuordnen. Angestoßen durch den Konvertiten Nicholas Donin aus La Rochelle, der Papst Gregor IX. 1239 eine Liste von 35 Anklagepunkten gegen den Talmud vorgelegt hatte, wurden um 1242 zahlreiche Talmudhandschriften in Paris verbrannt. Unter Gregors Nachfolger Innozenz IV. versuchten die Juden eine Revision des Verdammungsurteils zu erreichen. Wie die Ergebnisse des ERC-Projekts über den lateinischen Talmud1 zeigen, entstand das umfangreiche Dossier von Talmudexzerpten und weiteren Texten, wie es beispielsweise in der Handschrift Paris, BNF, lat. 16558, überliefert ist2, in dem zweiten Prozess, der unter der Leitung des Legaten Odo von Châteauroux stattfand und der 1248 ebenfalls mit der Verurteilung endete. Cecini wies nach, dass nach Abschluss einer Sammlung von 1.922 Talmudexzerpten per ordinem sequentialem (d.h. gemäß der Anordnung im Talmud selbst) dasselbe Material unter Rückgriff auf die Anklagepunkte, die schon Donin erhoben hatte, neu geordnet wurde per ordinem thematicum.3 Wie Cecini an ausgewählten Passagen demonstrierte, offenbarten diese Extractiones die Absicht, den Talmud als eine alia lex zu denunzieren, die eine „auch innerhalb des Judentums […] heterodoxe Lehre“ propagiere. Die Übersetzung sei zwar meistens wortwörtlich, aber die Art der Darstellung und die Interpretationsmechanismen spitzten den Text in polemischer Absicht zu. Die Exzerpte wurden beispielsweise aus ihrem Kontext gelöst und teilweise um ausgewählte Glossen Raschis (R. Salomo b. Isaak von Troyes) ergänzt. Der Talmud, so die Strategie der christlichen Prozessführung, weiche nicht nur von der gesunden Rationalität und von der christlichen Lesart der Tora ab, sondern auch von der jüdischen Orthodoxie. Die Frage, inwiefern diese Polemik auf den seit ca. 1200 innerhalb der jüdischen Gemeinden Frankreichs tobenden Streit um den Führer der Unschlüssigen des Maimonides Bezug nahm, verdiene eine vertiefende Betrachtung.
Dem Ritus der Beschneidung war der Vortrag von ROBERT JÜTTE (Stuttgart) gewidmet. Als Zeichen des Bundes zwischen Gott und seinem Volk sei die Beschneidung schon in der Antike gedeutet, von der griechisch-römischen Umwelt aber mit Befremden wahrgenommen worden. Nur gegen die Beschneidung von Proselyten gingen die römischen Kaiser streng vor. Die Kritik an der Beschneidung sei vor dem Hintergrund zeitgenössischer Hellenisierungstendenzen zu werten. In diesen Kontext ordnete Jütte auch die scharfe Wortwahl des Paulus ein (‚verschnitten‘ im Sinne von ‚genitalverstümmelt‘, Phil 3,2:). Mit seiner Umdeutung (‚Beschneidung ist, was am Herzen durch den Geist geschieht‘, Röm 2,29) habe er das Christentum vor allem für Nichtjuden attraktiver machen wollen. Mit dem Beginn der jüdischen Aufklärung (Haskala) setzte erneut ein innerjüdischer Diskurs um die Beschneidung ein. Nur eine kleine radikale Minderheit vertrat offen die Meinung, dass sie nicht mehr zeitgemäß sei. Auf breiterer Basis wurden dagegen medizinische Gesichtspunkte diskutiert, etwa mit Blick auf Ansteckungsrisiken beim Aussaugen des Blutes aus der Wunde (der Meziza), weshalb dieser Teil des Ritus in Westeuropa bald verboten wurde. Die Obrigkeiten stellten die Beschneider (Mohalim) unter Aufsicht. Vor allem nichtjüdische Ärzte griffen seit Ende des 19. Jahrhunderts auch wieder den Verstümmelungsvorwurf auf, verbunden mit Vorwürfen der Selbstabsonderung. Am Übergang zu einem neuen, medizinisch-juristischen Diskurs stehe Sigmund Freuds psychoanalytische Deutung des „Kastrationskomplexes“ als traumatischer Verarbeitung der Beschneidung. Anknüpfend an diese Denkfigur diskutierte Jütte den Zusammenhang von Beschneidung und Kindeswohl in der gegenwärtigen juristischen Debatte, in deren Mittelpunkt das Urteil des Landgerichts Köln vom 7. Mai 2012 steht. Während die Gegner der Beschneidung von Knaben auf die „Abwägung der Grundrechte auf Religionsfreiheit von Erwachsenen mit dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung“ verweisen4, führten vor allem Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland den Verdacht ins Feld, es könnten auch antisemitische Ressentiments im Spiel sein. Die gesetzliche Neuregelung durch den deutschen Bundestag habe nicht zu einem Ende der Debatte geführt. Jütte deutete sie als Beispiel für die Kontinuität christlichen Bestrebens, die Deutungshoheit über ein biblisches Gebot zu beanspruchen.
Ähnlich wie im Fall der Beschneidung trifft auch die Kritik an der betäubungslosen Schlachtung von Nutztieren heute die muslimische Gemeinschaft in Deutschland ebenso wie die jüdische. Wie ANDREAS BRÄMER (Hamburg) in seinem Beitrag ausführte, kann sie aber in Bezug auf den jüdischen Brauch der Schächtung (Shechita) auf eine lange Tradition in Deutschland zurückblicken. Getragen wird sie vor allem vom organisierten Tierschutz. Einzelne Aktivisten wie der Starnberger Landwirt Karl Ferdinand Finus (1900–1973) hatten schon in den 1930er-Jahren die Tierschutz-Argumente mit einem „militanten völkischen Antisemitismus“ zu verweben gewusst. In der Nachkriegszeit beriefen er und weitere Autoren der Zeitschrift Das Recht der Tiere sich dann auf „Grundgesetz“ und „Abendland“. Interessanterweise suchten sie dem Brauch der Schächtung dabei auch mit religiösen Argumenten den Boden zu entziehen und den Beweis zu führen, „dass die Juden ihr eigenes Religionsgesetz missverstanden“. Wiederholt beriefen sie sich auf „fortschrittliche Juden“, die die jüdische Schlachtpraxis ablehnten. Obwohl sie stets den Vorwurf von sich wiesen, aus antisemitischen Motiven heraus zu handeln, griffen sie doch immer wieder „auf antijüdische Codes, Chiffren, Stereotype und Vorturteile“ zurück, so Brämer. Aggressiv gingen sie 1962 auch gegen den Entwurf für ein revidiertes Tierschutzgesetz an, weil es im Falle von religiösen Schlachtungen keine Betäubungspflicht vorsah. Das Tierschutzgesetz in seiner heutigen Fassung sieht ein generelles Betäubungsgebot vor, es gibt nur die Möglichkeit von Ausnahmegenehmigungen. Diese Konstruktion stelle die Legitimität der religiösen Praxis also dem Grundsatz nach in Frage. Dem Thema wird ein DFG-Projekt am Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden nachgehen.5
Ungeachtet der Tatsache, dass hinter der gegenwärtigen Kritik an Beschneidung und religiöser Schlachtung auch generell säkularistisch-antireligiöse Motive stehen mögen, konnten gerade die Beiträge von Jütte und Brämer auch aufzeigen, wie sehr die christlichen Ansprüche auf Deutungshoheit über jüdische Praktiken und Glaubensinhalte den Diskurs über Jahrhunderte geprägt haben. Besonders Yuvals Beitrag konnte darüber hinaus nachzeichnen, wie die jüdische Gemeinschaft auf die derart konkurrierenden Deutungsansprüche reagierte. Dass die teils aggressiv vorgebrachte Kritik seitens der nichtjüdischen Umwelt in einem Austausch mit mehr oder weniger intensiv geführten innerjüdischen Debatten stand, wurde auch in Cecinis Beitrag über die Anti-Talmud-Kampagne des 13. Jahrhunderts und – mit Blick auf den Stellenwert von Tradition und Moderne – bei Jütte und Brämer deutlich. Die Vorträge der Sektion führten vor Augen, dass innerjüdische Deutungskämpfe stets gleichsam unter Beobachtung standen und jederzeit zum Nachteil der jüdischen Gemeinschaft von der nichtjüdischen Umwelt aufgegriffen werden konnten. Der konkurrierende Anspruch des Christentums spielte dabei eine nicht selten unheilvolle Rolle.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Eva Haverkamp-Rott (München) / Andreas Brämer (Hamburg)
Eva Haverkamp-Rott (München): Einführung
Israel J. Yuval (Jerusalem): Schabbat versus Sonntag: Die ruhelose Geschichte der Ruhe
Ulisse Cecini (Barcelona): Christen erklären den Juden den Talmud: Lateinische Übersetzung und Verurteilung des jüdischen „mündlichen Gesetzes“ im 13. Jahrhundert
Robert Jütte (Stuttgart): Beschneidung. Eine jüdisch Tradition im Spannungsfeld von Selbstbehauptung und Fremdbestimmung
Andreas Brämer (Hamburg): Tierschutzrecht und religiöse Schlachtpraxis. Schächten als umstrittenes Ritual in der jungen Bundesrepublik
Anmerkungen:
1 Vgl. https://pagines.uab.cat/lattal (07.12.2021).
2 Digitalisat: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b52504712p (07.12.2021).
3 Extractiones de Talmud per ordinem sequentialem, hrsg. von Ulisse Cecini und Óscar L. de la Cruz Palma, Turnhout 2019 (CCCM 291); Extractiones de Talmud per ordinem thematicum, hrsg. von Ulisse Cecini et al., Turnhout 2021 (CCCM 291A).
4 Vgl. https://www.faz.net/-gpg-71i86 (07.12.2021).
5 Vgl. https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/464800244 (07.12.2021).