HT 2021: Renitente Sündenböcke. Widersprechen und Aufbegehren in Hafenstädten des 19. und 20. Jahrhunderts

HT 2021: Renitente Sündenböcke. Widersprechen und Aufbegehren in Hafenstädten des 19. und 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Von
Sarah Frenking, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Häfen und Hafenstädte sind nicht nur Orte der Auswanderung und des globalen Handels, sondern auch Schauplätze von Deutungskämpfen. Dies zeigte sich eindrücklich in der von Andrea Wiegeshoff (Marburg) und Sören Urbansky (Washington DC, Berkeley) organisierten Sektion, die sowohl nach der Regulierung und Stigmatisierung als auch der aktiven Rolle von migrantischen Minderheiten um 1900 fragte. In ihrer Einführung erörterten die Sektionsleiter:innen, dass Migrant:innen in Hafenstädten oftmals als „schmutzig“, „infektiös“, „deviant“ und „kriminell“ bezeichnet, mit anderen negativen Stereotypen belegt und zur Ursache städtischer Probleme gemacht wurden. Demgegenüber legten sie den Fokus auf die Deutungs- und Handlungsmacht dieser unterprivilegierten Akteur:innen, die mitunter Grenzen testen, widersprechen und sich widersetzen konnten. Das Anliegen bestand also darin, sowohl die Diskurse über „Sündenböcke“ in Hafenstädten als auch deren widerständige Praktiken zu beleuchten.

CHRISTINA REIMANN (Stockholm) stellte in ihren Ausführungen deviantes Vergnügen in der westschwedischen Hafenstadt Göteborg dar. Seit Ende des 19. Jahrhunderts war städtisches Leben hier von Formen des Vergnügens geprägt, das durch neue technische Möglichkeiten vielfältiger wurde. Göteborg inszenierte sich dabei als moderne kulturelle Metropole, die mit breiten Boulevards und üppigem Kulturangebot aufwartete. Zugleich sei es zu staatlichen und kirchlichen Einhegungsversuchen von unerwünschten Formen von Freizeitverhalten gekommen, die durch Verbote und Gegenangebote in ein „vernünftiges“ Vergnügen kanalisiert werden sollten. Sozialreformerische Disziplinierungsverbote wandten sich etwa gegen Alkoholkonsum und Varietés. Doch während für die Abstinenzbewegung hier „Sittenverfall“ und anderes Übel angesiedelt war, machten bürgerlich-liberale Tageszeitungen in Varietés einen Ausweis der Weltläufigkeit aus. Zugleich, so betonte Reimann, setzten moderne Minderheiten den eingehegten Formen eigene Praktiken des Vergnügens entgegen und eigneten sich den städtischen Raum an. Als Beispiel nannte sie Arbeiter:innen, die sich der Regulierung des alkoholischen Verhaltens innerhalb der räumlichen Ordnung des Industriestandorts widersetzten. Andere Akteur:innen unliebsamen städtischen Vergnügens waren mobile Straßenmusiker:innen, bei denen es sich teils um Roma handelte, die allerdings nicht vom Wasser aus in die Stadt kamen, sondern aus dem ländlichen Schweden. Eine weitere Vergnügungspraxis bestand im karnevalartigen Treiben bei der Abreise von Auswandererschiffen, die den Hafen in Richtung Nordamerika verließen. Migrant:innen und andere Akteur:innen des Hafenviertels setzten so den Einhegungsversuchen innerhalb des Modernediskurses der Weltstadt ein Gegennarrativ entgegen.

ANDREA WIEGESHOFF (Marburg) widmete sich in ihrem Vortrag „medizinischen Sündenböcken“ und verwies sogleich auf Stereotype zu Beginn der Covid-19-Pandemie, die ebenfalls Migrant:innen zur Projektionsfläche hatte werden lassen. In ihren Ausführungen ging es um die Wahrnehmung von Epidemien im britischen und amerikanischen Empire zum Ende des 19. Jahrhunderts, wobei der Einfluss der Bakteriologie, die Menschen als Träger von Erregern ausmachte, zentral gewesen sei. Wiegeshoff verglich in ihren Ausführungen Port Louis (Mauritius) und Honolulu (Hawaii), in denen es jeweils schwere, wiederkehrende Seuchenausbrüche gab. Beide Hafenstädte seien wichtige Knotenpunkte imperialer Einflussnahme, durch die Zuckerindustrie und eine heterogene Bevölkerungsstruktur geprägt gewesen: So befanden sich neben der indigenen Bevölkerung, die durch die Seuchen besonders betroffen war, vor allem Arbeitsmigranten aus China in Honolulu sowie Kontraktarbeiter aus Indien in Port Louis. Auf diese bezogen sich Diskurse über „den Orient“ als Herkunft todbringender Krankheiten, wobei sich class und race verschränkten: Auf Mauritius wurden deshalb indische Passagiere in Quarantäne genommen und es kam zu Zwangsunterbringungen ohne Versorgung und zu Bewegungseinschränkungen. Versuche, sich zu wehren oder gar subversive Praktiken dieser Migrant:innen, die mehrheitlich abhängige Lohnarbeiter:innen waren, seien in den Quellen nicht gut belegt. Zwar gab es hier Versuche, sich dem ärztlichen Vorgehen gegen die Pest zu entziehen, aber öffentliche Kritik an der Behandlung kam nur vereinzelt vor. Während der Pestepidemie in Honolulu 1899/1900 wurden ebenfalls Maßnahmen entlang von class und race umgesetzt und in migrantischen Vierteln sämtliche Häuser niedergebrannt. Wiegeshoff stellte heraus, dass eine Elite europäischer und japanischer Herkunft hier jedoch handlungsfähig protestieren konnte, da sich im militärisch abgeriegelten Chinatown nicht nur ärmliche Lohnarbeiter:innen, sondern auch Angehörige einer Mittelschicht befanden, die unter anderem aus Ärzten, Anwälten und Geschäftsleuten bestand. Diese protestierten durch Petitionen und kritisierten die Ungleichheit, dass Weiße nicht hospitalisiert und ihre Häuser nicht zerstört wurden und es somit auch zu einer Schwächung der ökonomischen Konkurrenzfähigkeit kam. Presseberichte führten darüber hinaus auch zu diplomatischer Unterstützung und temporäre Allianzen mit amerikanischen Eliten zu kleineren Konzessionen im Vorgehen gegen das Chinatown-Stadtviertel.

SÖREN URBANSKY (Washington, D.C.) referierte über Prostitution und white slavery-Diskurse in den Pazifik-Hafenstädten San Francisco, Singapur und Wladiwostok und analysierte dabei antichinesische Ressentiments. Hier wurden die Chinatowns ebenfalls als potenzielle Brutstätten von Krankheiten, aber auch als „Sündenpfuhle“ aufgrund von Prostitution und Opiumkonsum wahrgenommen. Im Hafenviertel von Singapur gab es, ähnlich wie in den anderen untersuchten Städten, um 1900 etwa dreieinhalbtausend Prostituierte. In Wladiwostok, das wie Urbansky bemerkte wie Russland generell selten in globalhistorischen Debatten auftaucht, wurden Gewaltverbrechen oftmals mit Chinesen in Verbindung gebracht. Hier gab es einen deutlich größeren Anteil von Männern als von Frauen innerhalb der chinesischen Bevölkerung, sodass verstärkt Bordelle errichtet wurden, für die russische und japanische Frauen angeworben wurden. Vor allem die Lage der Bordelle in Hafennähe sei zentral für die negative Wahrnehmung von Chinesen gewesen. Urbansky legte dar, dass nicht nur die russische Öffentlichkeit moralische Vorbehalte gegenüber der Prostitution russischer Frauen geäußert habe, sondern auch koreanische Einwohner:innen der Hafenviertel befürchteten, „ihre“ Töchter und Frauen könnten für Prostituierte gehalten werden, die deshalb den Bordelleröffnungen Widerstand entgegenbrachten. Auch in San Francisco verband die Lage der Bordelle in den Hafenvierteln sie in der öffentlichen Wahrnehmung mit dem „Mädchen- und Frauenhandel“ und der Figur der „Chinese Slaves“, wobei die Verbindung mit Opiumkonsum zur Skandalisierung beitrug. Zeitungen druckten dort Stadtpläne ab und warnten vor den mutmaßlichen Gefahren, die von diesen Vierteln ausgingen. Laut Polizeiakten fanden sich nur vereinzelt Europäerinnen in chinesischen Etablissements, sodass die in schrillen Tönen vorgebrachten Warnungen sich vor allem auf die nicht-chinesische, männliche städtische Jugend bezog. Der öffentliche Widerspruch richtete sich also vor allem gegen ethnische Vermischungen. Die chinesische community selbst verfügte jedoch, bis auf vereinzeltes Anheuern von Juristen, nur über eine schwache agency gegen diese Zuschreibungen.

In ihrem Kommentar bezog sich STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM (Berlin) noch einmal auf die Differenzen innerhalb der betrachteten hafenstädtischen Bevölkerungen. Sie verwies hier auch auf mögliche Erweiterungen durch den Blick auf jüdische Auswanderer:innen um 1900 und Hafenstädte in Südamerika. In der Diskussion ging es vertiefend um die Rolle der organisierten Arbeiterbewegung in Hafenstädten und die nicht-migrantischen Teile der Stadtbevölkerung: Reimann ging auf Hafenstreiks in Göteborg sowie auf Seeleute ein, die als „andere Unterschichten“ ebenfalls das Hafenviertel prägten, teils Kontakte zur organisierten Arbeiterschaft hatten, aber nicht unbedingt ins Vergnügen der Arbeiter:innen eingebunden waren und teils auch ein eher konservatives Beharren an den Tag legten. Deutlich wurde demnach, dass es in allen betrachteten Städten um Kontrolle und Handlungsspielräume verschiedener Gruppen ging, die nach Klasse, race oder Geschlecht strukturiert waren: Während, so zeigten es die Ausführungen von Urbansky, die chinesische Migration bachelor communities kreierte, unterschied sich davon die soziale und ökonomische Position koreanischer Familien oder japanischer Händler, die somit auch über andere Strategien verfügten. Der Erfolg des Widersprechens oder Widersetzens war demnach von der sozialen, ethnischen, geschlechtlichen und ökonomischen Zusammensetzung abhängig und gerade Eliten innerhalb dieser communities hatten für den verbalen (öffentlichen) Protest die größte Bedeutung. In allen Fallbeispielen erfolgte jedoch der staatliche Zugriff nach ethnischen Kriterien, die sich etwa im Niederbrennen von ganz Chinatown, ausdrückte, wie Wiegeshoff darlegte.

Im Anschluss fragte Schüler-Springorum nach den Unterschieden von Überlebensmaßnahmen und Widerständigkeit, also den Konturen von „Widersetzen“, „Widersprechen“ und „Aufbegehren“: Ab wann das Verhalten devianter Hafennutzer:innen und Bewohner:innen der hafennahen Stadtteile als „subversive Praxis“ bezeichnet werden konnte oder ab wann aus einer agency angesichts von Repressalien ein „Gegennarrativ“ wurde, konnte in der Sektion nicht abschließend geklärt werden. Alle Beiträge stellten jedoch überzeugend dar, dass verschiedene marginalisierte Akteur:innen in Hafenstädten mitunter Kontakte mobilisieren und einen Zugang zur Öffentlichkeit erlangen konnten, um staatlicher und städtischer Kontrolle zu begegnen. Ihr Handeln ging dabei oft über eine diskursive Teilnahme an Deutungskämpfen um den Charakter von Hafenstädten hinaus, denn sie verfügten auch über praktische Handlungsspielräume, die sich etwa in einer eigensinnigen Raumnutzung ausdrückten. Die untersuchten Hafenstädte stellten sich zugleich als vielschichtige urbane Räume dar: Durch die angesprochenen Viertel wie Chinatowns, Vergnügungs- oder Bordellviertel zeigte sich zum einen eine Verräumlichung der sozialen und ethnischen Zusammensetzung der Stadtgesellschaft. Zum anderen wurden so globale (Arbeits)Verhältnisse und ein Umgang mit Unterschichten im Kontext von Vergnügen, Krankheit und Prostitution sichtbar. In dieser Hinsicht bot die Sektion viele spannende Anknüpfungspunkte für weitere global- und mikrohistorische Untersuchungen über Kontrolle und Erfahrungen von Migrant:innen in Hafenstädten.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Andrea Wiegeshoff (Marburg) / Sören Urbansky (Washington, D.C.)

Christina Reimann (Stockholm): Deviantes Vergnügen. Binnen- und Transmigration in Göteborgs Hafen- und Vergnügungsviertel

Andrea Wiegeshoff (Marburg): Medical Scapegoats. Arbeitsmigranten und Seuchenausbrüche in kolonialen Hafenstädten um 1900

Sören Urbansky (Washington, D.C.): White Slavery. Prostitution und sinophobe Stereotype in den Chinatowns von San Francisco, Singapur und Wladiwostok

Stefanie Schüler-Springorum (Berlin): Kommentar