Jüdische Akademikerinnen im Archiv Bibliographia Judaica

Jüdische Akademikerinnen im Archiv Bibliographia Judaica

Organisatoren
Dieter Burdorf, Leipzig; Irmela von der Lühe, Berlin; Anna-Dorothea Ludewig, Potsdam; Verlag De Gruyter, Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.10.2021 - 15.10.2021
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Von
Annette Wolf, Institut für Germanistik, Universität Leipzig

Irgendwann Mitte der 1960er-Jahre trafen sich in Berlin die Germanistin Renate Heuer und der israelische Aphoristiker und Lyriker Elazar Benyoëtz, der 1937 in Österreich geboren wurde. Gemeinsam entwickelten sie die Idee zu einer „Bibliographia Judaica“, die biografische Daten zu deutschsprachigen Jüdinnen und Juden aus der Zeit von 1750 bis 1950 enthalten sollte. 1966 warben die Berliner Professoren Eberhard Lämmert, Michael Landmann und Jacob Taubes eine erste Finanzierung bei der DFG ein. Das Projekt wuchs, die Karteikarten stapelten sich. Im Laufe der Jahre recherchierte Renate Heuer mit ihrem wechselnden Team Einträge zu 20.000 Personen, von denen 1.300 im 21-bändigen „Lexikon deutsch-jüdischer Autoren“ erschienen. Der Verlag De Gruyter hat das Archiv nun digitalisiert, und im Oktober dieses Jahres ging die Datenbank „Archiv Bibliographia Judaica“ (ABJ) mit 15.000 Einträgen online (5.000 weitere sollen folgen). Anlässlich der Bereitstellung dieser umfassenden Sammlung bio-bibliografischer Informationen fand ein Workshop statt, der sich am Beispiel der Forschung zu jüdischen Akademikerinnen den Möglichkeiten und Herausforderungen der Arbeit mit dem ABJ widmete. So diente der Workshop zunächst einer Bestandsaufnahme der Datenbank und ihrer Recherchemöglichkeiten: Wie lässt sich mit der Datenbank arbeiten und wo müsste sie weiterentwickelt werden? Darüber hinaus ging es um die Frage, wie sie für die Forschung genutzt werden kann und welche Impulse und neue Fragestellungen von dem dort zur Verfügung gestellten Material ausgehen.

Nach einer Begrüßung durch MANUELA GERLOF (Berlin) stellte JULIA BRAUCH (Berlin) die Datenbank vor und machte auf die unterschiedlichen Perspektiven von Verlag und Wissenschaft aufmerksam. Die Digitalisierung könne hier paradoxerweise auch als Chance aufgefasst werden, wieder zurück zum Objekt zu kommen, wenn etwa die vormals verstaubten Karteikarten aus dem Frankfurter Archiv nun in der Datenbank einsehbar sind.

In der anschließenden, von dem Leipziger Germanisten und Mitherausgeber der Datenbank Dieter Burdorf moderierten Podiumsdiskussion über die Perspektiven der ABJ für die Wissensbestände zur jüdischen Geschichte und Kultur sprachen neben Julia Brauch auch die Historikerin und Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, MIRIAM RÜRUP, die Leiterin der Hebraica- und Judaica Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, KERSTIN VON DER KRONE, sowie der Osnabrücker Germanist CHRISTOPH KÖNIG. Die Diskutanten gingen zunächst von Anknüpfungspunkten zu ihren eigenen Einrichtungen aus. König betonte vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem Internationalen Germanistenlexikon, dass das Lexikon keine reine Abbildung der Wissenschaftsgeschichte sei, sondern auch eine ethische Funktion habe, indem Personen berücksichtigt wurden, die aus der offiziellen Wissenschaftsgeschichtsschreibung herausfallen (Juden, Frauen, Lehrer, Essayisten etc.). Damit erfülle das Lexikon seine Funktion als Archiv und Gedächtnis. Er plädierte dafür, die Ordnungsprinzipien und Kriterien, nach denen Renate Heuer Personen in die Datenbank aufnahm, zu hinterfragen und den „historischen Index“ deutlich zu machen. Auch von der Krone betonte, dass es sich bei dem ABJ um zeitgebundenes Wissen handele, um das Produkt einer bestimmten bundesrepublikanischen Geschichte und Vorstellung von jüdischer Geschichte als „Beitragsgeschichte“, die heute nicht mehr unbedingt aktuell sei und entsprechend kontextualisiert und historisiert werden müsse. Dabei fällt insbesondere auf, dass Renate Heuer die Geschichte des deutschen Judentums für zerstört und beendet hielt, weswegen sie Personen, die erst nach 1945 in Deutschland wirkten oder auf Deutsch publizierten, i.d.R. nicht mehr aufnahm – Ruth Klüger oder Marcel Reich-Ranicki sucht man daher in der Datenbank vergeblich. Rürup ging auch explizit darauf ein, dass es nicht um Vollständigkeit, sondern um thematische Zugänge gehen müsse, die etwa eine Verflechtung von Wissenschafts-, Geschlechter- und jüdischer Geschichte ermöglichten.

Am Nachmittag folgte der von IRMELA VON DER LÜHE (Berlin) eingeleitete Workshop zu jüdischen Akademikerinnen. KIRSTEN HEINSOHN (Hamburg) präsentierte ihre konzisen Überlegungen zur Nutzung der Datenbank mit Bezug auf die Forschung zu jüdischen Historikerinnen. Gerade die prosopografische Herangehensweise, das Aufschlüsseln von Geburtsjahrgängen, Ausbildungs- und Wirkungsorten, Genealogien etc. eröffne die Möglichkeit, die Geschichte des Faches neu zu konzipieren als Geschichte von intersektional verbundenen Relevanzhierarchien. Im Sinne einer „Landkarte der weiblichen Emanzipation in der Wissenschaft“ plädierte Heinsohn dafür, nicht immer nur dieselben Ausschlussmechanismen zu rekonstruieren, sondern danach zu fragen, unter welchen Bedingungen es für Frauen möglich war, zu arbeiten und rezipiert zu werden. Die Datenbank ließe sich in diesem Sinne für eine „konstruktive Wende“ nutzen, um jüdische Frauen in der Wissenschaft nicht immer nur aus der Opferperspektive zu betrachten.

In der anschließenden Debatte über Fragen von Intersektionalität wurde zudem diskutiert, inwiefern es sich bei dem ABJ nicht zufällig um ein „Frauen-Projekt“ handelte, das Renate Heuer über Jahrzehnte in einer marginalisierten Position und über weite Strecken ohne akademische Anbindung durchführte.

ANNA-DOROTHEA LUDEWIG (Potsdam) betonte in ihrem Vortrag über Literaturwissenschaftlerinnen, dass die Geschichte weiblicher Gelehrsamkeit nicht erst bei den Akademikerinnen beginnen könne, sondern auch eine Geschichte der Leserinnen, eine Geschichte der Salonières sei, die in Briefen und Rezensionen über ihre Lektüre schrieben und zu den ersten Goethe-Rezipientinnen gehörten. Demnach gelte es, nicht auf eine starre Akademisierung zu schauen, sondern einen weiteren Personenkreis einzubeziehen und Tradierungsprozesse in der Fachgeschichte zu hinterfragen. Ludewig fragte danach, was die Datenbank in Bezug auf ein solches Verständnis weiblicher jüdischer Gelehrsamkeit leisten könne, und hob die Notwendigkeit hervor, für solche gruppenspezifischen, prosopografischen Fragestellungen die Suchkriterien in der Datenbank gezielt zu überarbeiten.

ANNETTE VOGT (Berlin) hob hervor, wie rudimentär die wissenschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung mit Frauen und besonders mit Frauen jüdischer Herkunft in den Naturwissenschaften noch sei und wie vehement der Bruch von 1933 gewirkt habe. In der Diskussion zeigte sich zudem, dass die von Vogt beobachteten Hochphasen der Partizipation von Frauen in der Wissenschaft (in den Jahren 1908/09, 1929/33, 1980) für die unterschiedlichsten Bereiche zu konstatieren seien und in vergleichender Forschung herausgestellt werden sollten.

INES SONDER (Potsdam) erklärte, dass die geringe Anzahl der in der Datenbank verzeichneten Architektinnen auch auf den Sammlungsschwerpunkt Heuers zurückzuführen sei, der entsprechend ihrer eigenen Profession in den Geisteswissenschaften und zudem im Zeitraum 1750–1950 lag, was vielfach eine Begrenzung auf Personen bedeutete, die bereits vor 1933 in Deutschland wirksam waren. Gerade für Disziplinen, die sich erst spät herausbildeten oder wo Frauen erst spät eine Rolle spielten, zeigen sich also die Hindernisse bei der Arbeit mit der Datenbank, und es sei zu fragen, inwieweit eine Aktualisierung möglich und sinnvoll ist. Auch die erst im Exil und in der Emigration wirkenden Frauen seien größtenteils aus dem Raster der ABJ herausgefallen. So endete Sonder mit dem anschaulichen Beispiel eines 1935 anonym durchgeführten Architekturwettbewerbs für den Bau einer Synagoge im damaligen Palästina, bei dem nach namentlicher Auflösung zunächst heiß diskutiert wurde, ob die erstplatzierte Frau für die Realisierung überhaupt in Frage komme. Die emigrierte Judith Segall, die in Danzig und Berlin studiert hatte, konnte sich letztlich durchsetzen und gilt damit als erste Frau, die eine Synagoge errichtete. Im ABJ ist Segall leider nicht verzeichnet.

Mit der Berufsbezeichnung „Juristin“ lassen sich immerhin 57 Treffer in der Datenbank erzielen, über die SIMONE LADWIG-WINTERS (Berlin) referierte. Am Beispiel Margarete Berents und Erna Schefflers stellte sie die vielfachen Brüche dar, die bei einer solchen biografischen Herangehensweise an die Fachgeschichte deutlich werden. Während die Einträge der ABJ nicht aktuell oder ausführlich genug für die Arbeit an Einzelbiografien seien, zeige sich ihr Nutzen gerade mit Bezug auf Netzwerkanalysen und Kollektivbiografien, wie auch CAROLA GROPPE (Hamburg) in ihren Ausführungen zu Pädagoginnen und Sozialwissenschaftlerinnen festhielt. In besonderer Weise handele es sich hier um ein Berufsfeld, das von Frauen überhaupt erst etabliert worden sei und für dessen Professionalisierung und Verwissenschaftlichung sie selbst im Rückgriff auf das Konzept der „geistigen Mutterschaft“ gesorgt hätten. Wissenschaftsgeschichtlich lohne sich hier also im Besonderen der Blick auf die „Typisierung des Individuellen“ und die „Individualisierung des Typischen“, die sich in den Einträgen der Datenbank studieren lasse.

In der Abschlussdiskussion wurden drei Bereiche ausgemacht, die es im Hinblick auf den Nexus von Wissenschaftsgeschichtsschreibung und ABJ zu bedenken gelte: erstens die technische Frage, wo und wie die Datenbank der Korrektur und Erweiterung bedürfe, zweitens die historiografische Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte der Datenbank, ihrem historischen Index sowie der lebensgeschichtlichen Perspektive auf Renate Heuer, und schließlich drittens die Frage, inwiefern die Datenbank geeignet ist, neue Impulse für die fächergeschichtliche Forschung zu setzen. Irmela von der Lühe sprach sich abschließend dafür aus, die Forschungsperspektive auf Ausschlussmechanismen und Opfergeschichten zu überwinden und durch Perspektiven auf Handlungsräume von Akademikerinnen in ihren jeweiligen Bereichen zu ergänzen. Mit diesem deutlichen Plädoyer, die Unvollständigkeit und historisch bedingten Widersprüche der Datenbank produktiv zu machen und gerade auch für eine neue weibliche Wissenschaftsgeschichte zu nutzen, endete der Workshop, aber sicher nicht die Debatte, die viele fruchtbare Impulse für eine weitergehende Auseinandersetzung lieferte. Die Schwierigkeit wird insbesondere darin bestehen, ein derart von seinem historischen Entstehungskontext bedingtes Projekt für aktuelle Vorhaben zu nutzen, für die kritische Übersetzungsarbeit zu leisten sein wird.

Konferenzübersicht:

Manuela Gerlof (Vice President Humanities, De Gruyter, Berlin): Grußwort

Julia Brauch, (Acquisitions Editor Contemporary & Jewish History, De Gruyter, Berlin): Präsentation der Datenbank ABJ

Podiumsdiskussion: Perspektiven für Wissensbestände zur jüdischen Geschichte und Kultur

Miriam Rürup (Potsdam), Kerstin von der Krone (Frankfurt am Main), Christoph König (Osnabrück), Julia Brauch (München), Dieter Burdorf (Leipzig) – Moderation

Workshop – Jüdische Akademikerinnen

Irmela von der Lühe (Berlin): Begrüßung und Einführung

Kirsten Heinsohn (Hamburg): Historikerinnen / Jüdische Geschichte

Anna-Dorothea Ludewig (Potsdam): Literaturwissenschaftlerinnen

Annette Vogt (Berlin): Naturwissenschaftlerinnen

Ines Sonder (Potsdam): Architektinnen

Simone Ladwig-Winters (Berlin): Juristinnen

Carola Groppe (Hamburg): Sozialwissenschaftlerinnen / Pädagoginnen

Abschlussdiskussion


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