HT 2021: Opferkonkurrenzen in Erinnerungskulturen: Deutschland, Israel, Japan, Südkorea

HT 2021: Opferkonkurrenzen in Erinnerungskulturen: Deutschland, Israel, Japan, Südkorea

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Kay Schmücking, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Thematisierung von Opfern erlebt seit langem eine ungebrochene Konjunktur. Sowohl in politischen und öffentlichen Debatten um Anerkennungs-, Entschädigungs- und Erinnerungsfragen als auch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung spielen der Opferbegriff und der erinnerungspolitische Umgang mit Opfererfahrungen eine zentrale Rolle.1 Aus der historischen Erfahrung von Gewalt, Krieg und Diktatur hat sich insbesondere in der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts ein spannungsreiches Feld entwickelt, in dem verschiedene Opfergruppen um Akzeptanz und Sichtbarkeit ringen und Konkurrenzverhältnisse zutage treten. Die häufig emotional geführten Debatten sind dabei eng mit einer nationalen Perspektive auf die jeweils eigene Geschichte verwoben und verstellen nicht selten den Blick auf Opferthematisierungen als ein übergreifendes und zentrales Phänomen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. Die von Manfred Hettling (Halle-Wittenberg) organisierte Sektion über „Opferkonkurrenzen in Erinnerungskulturen“ widmete sich diesem Thema nun am Beispiel der Entwicklungen in Deutschland, Israel, Japan und Südkorea und fragte – in Anlehnung an das Rahmenthema des Münchener Historikertages – nach den Strukturen von Deutungskämpfen und der Relevanz nationaler Bezüge in den jeweiligen Opferdiskursen.

In seiner Einführung umriss MANFRED HETTLING (Halle-Wittenberg) grundlegende Frage- und Problemstellungen der Opferthematisierung mit Blick auf die deutschen Entwicklungen. Er verwies dazu zunächst auf die semantische Uneindeutigkeit und den Bedeutungswandel des Opferbegriffs im Deutschen. Während der Begriff in historischer Perspektive lange Zeit maßgeblich durch die Vorstellung des aktiven und oftmals religiös motivierten „Opfers für“ (sacrificium) geprägt gewesen sei, habe sich sein Gebrauch in jüngster Zeit fast ausschließlich auf die Verwendung im Sinne eines „Opfers von“ (victim) konzentriert. Der Wandlungsprozess von einer Heroisierung zu einer Viktimisierung habe sich danach spezifisch in der deutschen Erinnerungskultur niedergeschlagen, in deren Zentrum die Thematisierung der zivilen und passiven Opfer an die Stelle eines traditionellen und heroisierenden Gefallenen- und Totengedenkens getreten sei. Damit sei die deutsche Entwicklung einem allgemeinen westlichen Trend gefolgt und „Opfer“ zum Kernbegriff der erinnerungspolitischen Debatten avanciert.

Zugleich warf Hettling die Frage nach einer übergreifenden Generalisierbarkeit dieses Prozesses auf. So habe sich zwar etwa die Vorstellung des schuldlosen Opfers, die sich eng an die Erinnerung der Holocaustopfer anlehne, zu einer global weitverbreiteten Identitätsfigur entwickelt, doch seien im Einzelnen weiterhin teils sehr divergente Gedenkkulturen mit jeweils nationalen Bedingungen zu beobachten. Hieraus ergebe sich wiederum die zentrale Frage nach der Relevanz des Nationalstaates als erinnerungskulturellen Bezugsrahmen. Die zunehmende Abkehr von rein national geprägten Erinnerungsnarrativen sei zwar gerade in Deutschland unverkennbar, doch müsse auch in diesem Zusammenhang hinterfragt werden, inwieweit dieser Befund auf andere Länder übertragbar ist. Gleichzeitig erinnerte Hettling dabei an die tiefe historische Verwurzelung der sinnstiftenden Deutbarkeit des Todes eines jeden Einzelnen in der neuzeitlichen Nationsbildung. Die Grundprinzipien dieses Prozesses hätten in vielen Gedenklandschaften bis heute überdauert, weshalb sich bei der Opfererinnerung oftmals eine Parallelität von nationalen Bezügen und universellen Menschenrechtsbezügen zeige. Von einem generellen Bruch mit nationalen Identifikationen und der Nation als Kollektivsubjekt der Erinnerung könne hingegen global betrachtet nicht gesprochen werden.

Neben die Frage nach der Relevanz des nationalen Rahmens traten schließlich Überlegungen über die Mehrdeutigkeit des Opferbegriffs und die Konkurrenzverhältnisse verschiedener Opfergruppen. Hettling verwies hier auf die Veränderungen öffentlicher Erinnerungsdebatten infolge einer zunehmenden Pluralisierung des Gedenkens und das Problem, wie unterschiedliche Opfergruppen innerhalb nationaler Gedenknarrative erinnert werden können. Die unvermeidlichen Selektionsprozesse der zu erinnernden Opfergruppen führten dabei zu Spannungsfeldern, die als politische und gesellschaftliche Herausforderung wahrgenommen würden. Die Frage nach den Bedingungen, in denen sich die Konfliktlinien der Opferthematisierung auf jeweils nationaler Ebene herausgebildet haben, und wie sich diese Konflikte im Einzelnen erklären lassen, sollte danach den Rahmen für die weiteren Beiträge der Sektion bilden.

Im ersten Sektionsvortrag beleuchtete MAOZ AZARYAHU (Haifa) das Zusammenspiel von Opfern, Helden und Märtyrern bei der Entwicklung der israelischen Erinnerungsnarrative im Kontext nationaler Wiedergeburt und der Erfahrung des Holocaust. Bereits die zionistische Bewegung sei wesentlich durch die Idee und Praxis jüdischer Selbstverteidigung sowie die Abkehr von einer passiven und wehrlosen Opferrolle geprägt gewesen. Besonders jüdische Helden und Märtyrer hätten als Protagonisten die Erzählung von der Entstehung des Staates Israel maßgeblich dominiert. Zur Veranschaulichung erinnerte Azaryahu an den Tod von acht jüdischen Siedlern, die im Jahr 1920 in einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit Arabern ihr Leben ließen und anschließend als Märtyrer mit dem monumentalen Denkmal von Tel Chai gewürdigt wurden.

Die nach der israelischen Unabhängigkeit weiterhin andauernde Fokussierung auf Helden und Märtyrer bei der Herausbildung eines nationalen Selbstverständnisses sei schließlich durch die Erfahrung des Holocaust zunehmend herausgefordert worden. So habe der nationalsozialistische Massenmord an den europäischen Juden nicht allein Bestürzung und Betroffenheit ausgelöst, sondern auch die skeptische Frage aufgeworfen, wie Millionen von Juden zu einem wehrlosen Opfer werden konnten. In der Folge habe sich danach der heldenhafte Widerstand der Juden, wie er sich besonders eindringlich im Warschauer Aufstand ausdrückte, zum zentralen Thema in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust entwickelt.

An die Seite jüdischen Heldentums im Kampf gegen den Nationalsozialismus seien nach 1948 die im israelischen Unabhängigkeitskrieg gefallenen Soldaten mit einem ebenfalls heroisierenden Gedenken getreten. Diese Erinnerungsformen hätten erst in den 1970er-Jahren eine entscheidende Wandlung vollzogen. Während die Holocausterinnerung eine zunehmende Erweiterung auf Formen des alltäglichen Widerstandes in Ghettos, Gefängnissen und Vernichtungslagern erfahren habe, seien die heroisierenden Zuschreibungen allmählich aus der offiziellen Gedenkrhetorik verschwunden. Der rhetorische Niedergang des Heldenbegriffs sei danach mit der zunehmenden Verwendung des Opferbegriffs für die Toten von arabischen und palästinensischen Terrorangriffen verbunden gewesen. Sowohl den Terroropfern als auch den Gefallenen aus militärischen Konflikten komme in den jüngeren Erzählungen über die nationale Wiedergeburt Israels eine entscheidende Rolle zu. Beide Gruppen würden jedoch weithin als getrennte Kategorien betrachtet und unterschiedliche Würdigung erfahren. Azaryahu führte diese Trennung letztlich auf die Grundgedanken militärischer Trauerarbeit zurück und sah in ihr eine eher bürokratisch begründete Dichotomie zwischen zivilen Opfern und militärischen Helden, die dazu beitrage, dass in der israelischen Erinnerungskultur althergebrachte Formen des klassischen Totengedenkens bis in die Gegenwart nachwirkten.

In ihrem der Entwicklung in Japan gewidmeten Beitrag erklärte ATSUKO KAWAKITA (Tokio) einführend, dass die Thematisierung der Kriegserfahrungen der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts zwar großen Raum in der Erinnerungskultur einnehme, aber grundsätzlich aus einer Opferperspektive des japanischen Volkes betrachtet werde und die eigene Täterschaft weitestgehend ausklammere. Während sich das Hauptaugenmerk auf japanische Opfer der Atombombenabwürfe richte, zeigten sich darüber hinaus höchst selektive und funktional orientierte Erinnerungsmuster. So sei in den vergangenen Jahren etwa besonders in konservativen Kreisen an die Repatriierung von Japanern aus den ehemaligen Koloniegebieten und die sexuelle Gewalt, die Japaner in diesem Prozess von russischer Seite erfahren hätten, erinnert worden. Das verstärkte Interesse daran sei jedoch auf den Versuch zurückzuführen, auf diese Weise die von Japanern während des Zweiten Weltkrieges selbst begangene sexuelle Gewalt gegenüber den sogenannten „Trostfrauen“ auszugleichen.

Auch die Erinnerung an die Schlacht von Okinawa richte sich vorwiegend auf die japanischen Opfer aus den Kämpfen mit der US-Armee. Dagegen werde die brisante Tatsache, dass die japanische Armee zahlreiche Soldaten und Zivilisten zum Suizid zwang, weitestgehend ignoriert. Hier bestätige sich anschaulich der von Manfred Hettling eingangs formulierte Gedanke, dass die Toten fremder Gewalt leichter zu erinnern seien als die Opfer eigener staatlicher Gewalt. Ähnlich selektive Erinnerungsformen fänden sich schließlich auch mit Blick auf die Atombombenopfer. Während die japanischen Toten zentraler Gegenstand der Erinnerungskultur seien, werde der Tod von nach Hiroshima zwangsverschleppten Koreanern bislang kaum thematisiert.

An diesen Ausführungen offenbarten sich nicht nur die viktimisierenden und selektiven Grundmuster, sondern auch die starke nationalstaatliche Prägung in den japanischen Erinnerungsdiskursen. Als besonders problematisch erweise sich dabei, dass mit der Fokussierung auf „die Japaner“ als Opfer kaum reflektiert werde, dass sich die Struktur der japanischen Bevölkerung mit dem Ende der Kolonialherrschaft entscheidend verändert habe. Dies führe dazu, dass Opfergruppen, die infolge dieser Geschehnisse ihre japanische Staatsbürgerschaft inzwischen verloren haben, weder betrauert noch erinnert würden. Japan habe, so resümierte Kawakita deutlich, in erinnerungskulturellen Fragen nicht nur die Täterschaft im Angriffskrieg und unter der Kolonialherrschaft, sondern auch die Multiethnizität seines Kolonialreiches weitestgehend vergessen.

Über den nationalstaatlichen Rahmen hinausgehende Erinnerungsformen zeigten sich unterdessen in einem starken pazifistischen Impuls, der eng mit allen Arten der Opfererinnerung verbunden sei. Die Sehnsucht nach Frieden drücke sich jedoch bislang nur in stark abstrahierenden Formeln aus und sei nicht weniger problematisch, weil sie die Reflektion eigener Schuld vermeide und grundsätzlich im deutlichen Widerspruch zu den historischen Ereignissen stehe.

Im letzten Sektionsbeitrag betrachtete HO-KEUN CHOI (Seoul) die Ausweitungen und Differenzierungen des Opferbegriffs am Beispiel von vier zentralen Opfergruppen in der südkoreanischen Erinnerungskultur. Beginnend mit den Opfern der japanischen Kolonialherrschaft skizzierte er, wie diese Gruppe im Laufe der Zeit eine entscheidende Erweiterung erfahren habe. Nachdem die typische Opferkategorisierung zunächst nur jene Menschen umfasst habe, die während des aktiven Kampfes für die Unabhängigkeit oder in Auseinandersetzungen mit der Kolonialmacht ihr Leben ließen oder Gewalt erfuhren, seien hier inzwischen auch die Opfer von sexueller Sklaverei, Zwangsarbeit oder der Atombombenabwürfe hinzugetreten. Bemerkenswert sei dabei, dass mittlerweile nicht mehr nur die Toten selbst, sondern auch deren Kinder- und Enkelgeneration als Opfer der Kolonialherrschaft betrachtet werden. Außerdem zeige sich eine zunehmende Tendenz, die verschiedenen Gruppen als Opfer der gesamten südkoreanischen Nation zusammenzufassen. Diese nationale Opfersymbolisierung ginge mit einer starken Identifizierung der Koreaner mit den Opfern sexueller Gewalt einher und münde in einem bis heute andauernden kollektiven traumatischen Gefühl.

Als zweite zentrale Gruppe benannte Choi die Opfer des Koreakrieges. Während in diesem Fall zunächst die Erinnerung an die gefallenen Soldaten und Polizisten dominiert habe, sei es nach dem Ende der Militärdiktatur zu einer umfassenden Neubewertung gekommen, welche die zivilen Toten und die Kriegsverbrechen der koreanischen und US-amerikanischen Streitkräfte in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt habe. Diese Entwicklung habe danach die heroisierende Würdigung der militärischen Opfer zunehmend infrage gestellt und dazu geführt, dass die Soldaten gleichermaßen als Täter und Opfer betrachtet werden.

Nach dem Ende der Militärdiktatur habe sich mit den Angehörigen der Demokratisierungsbewegung eine weitere Opfergruppe entwickelt. Die Erinnerung an die beträchtliche Zahl von Koreanern, die unter der Diktatur Gewalt erfahren hat, habe sich entscheidend verändert und eine heroisierende Aufwertung erfahren. So würden diese Menschen inzwischen nicht länger als Opfer der Diktatur, sondern als Helden der Demokratie gewürdigt.

Schließlich umriss Choi mit den koreanischen Gefallenen aus dem Vietnamkrieg eine vierte bedeutsame Opfergruppe. Auch hier habe eine veränderte Betrachtung des Vietnamkrieges nach dem Ende der Militärdiktatur dazu geführt, dass die militärischen Toten keine heroisierende Ehrung mehr erfahren und stattdessen vermehrt Forderungen nach einer Anerkennung und Entschädigung der vietnamesischen zivilen Opfer aufkommen würden.

Im Anschluss an die Skizzierung der einzelnen Gruppen unternahm Choi den Versuch einer systematisierenden Interpretation. Dabei resümierte er, dass einerseits die traumatische Erfahrung der Kolonialherrschaft und besonders die Empathie für die Opfer sexueller Gewalt unverändert ein nationales Opferbewusstsein begründeten. Gleichzeitig verstärke sich aber auch das Problembewusstsein für die Verantwortung eigener Täterschaft während des Vietnamkrieges. Bemerkenswert erscheine dabei die Parallelität nationaler und globaler Perspektiven: Während die viktimisierenden Tendenzen einen dezidiert nationalen Erinnerungsrahmen stärkten, führe die Globalisierung und der Gedanke universeller Menschenrechte zu einer weitreichenden und andauernden Auseinandersetzung mit eigener Verantwortung und Schuld.

Die anschließende Diskussion konzentrierte sich vor allem auf das Verhältnis globaler und nationaler Aspekte der Opferthematisierung. So warf FRANK BÖSCH (Potsdam) die Frage auf, um welche systematischen transnationalen Verflechtungen und Bezüge die nationalstaatliche Perspektive der Sektionsbeiträge ergänzt werden könnten. Hier verwies Choi exemplarisch auf zivilgesellschaftliche Initiativen im asiatischen Raum, die sich staatsübergreifend gemeinsam für die Anerkennung und Entschädigung von Atombombenopfern einsetzten. Azaryahu erinnerte zudem an die internationalen Aushandlungsprozesse in Entschädigungsfragen, aus denen sich unweigerlich immer wieder eine transnationale Perspektive in nationalen Opferthematisierungen entwickle. Hettling erklärte dazu schließlich, dass transnationale Kooperationen bei der Opfererinnerung im europäischen Raum bereits existierten und mit ihren Impulsen und Einflüssen unzweifelhaft auf die nationalen Debatten einwirkten. Gleichwohl müsse aber weiter systematisch danach gefragt werden, welche Relevanz diese Kooperationen tatsächlich entfalteten und welche Kriterien für eine Beurteilung dieser Relevanz überhaupt angelegt werden könnten. Hier eröffneten sich nicht zuletzt vielversprechende Perspektiven und Anregungen für die zukünftige Erforschung von Opferthematisierungen und ihre wechselseitigen nationalen und transnationalen Rahmenbedingungen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Manfred Hettling (Halle-Wittenberg)

Manfred Hettling (Halle-Wittenberg): Deutschland

Maoz Azaryahu (Haifa): Israel

Atsuko Kawakita (Tokio): Japan

Ho-Keun Choi (Seoul): Südkorea

Anmerkungen:
1 Stellvertretend für die umfangreiche und stetig anwachsende Literatur sei hier auf zwei jüngere Publikationen verwiesen: Svenja Goltermann, Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne, Frankfurt am Main 2017; Benjamin Herzog, Am Scheitelpunkt des sacrificiums. Politische Opferlogiken und Opfersemantiken in Deutschland in der Zeit der Weltkriege, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 78 (2019), S. 19-54.


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