Mit der Überführung der Gebeine von Gervasius und Protasius 386 nach Mailand setzte Bischof Ambrosius einen Prozess in Bewegung, der prägend für das Christentum werden sollte: In seinen Predigten bezeichnete er erstmals Märtyrer als patroni und sprach ihnen damit eine Schutzfunktion zu, die in den darauffolgenden Jahrzehnten zu einem Kernelement des christlichen Glaubens avancierte. Wie SABINE PANZRAM (Hamburg) im einleitenden Vortrag formulierte, standen im Mittelpunkt der Tagung die sozialen Funktionen von Heiligen sowie ihre Kulte in Nordafrika. Während in manchen Fallstudien vor allem der Intention hinter der Verschriftlichung von Heiligenviten nachgespürt wurde, standen an anderer Stelle die architektonischen Befunde im Vordergrund. Allen Vorträgen gemeinsam war die Suche nach Antworten auf das Wer und Warum: Wer initiierte den Import von Heiligenkulten und warum? Waren hierfür allein die Bischöfe zuständig? Auf welche Weise wurden die Viten verfasst? Wer bestattete die Märtyrer und an welchem Ort? Welche Veränderungen in den Verehrungspraktiken ergaben sich mit fortschreitender Zeit, und wer wurde überhaupt verehrt? Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen ermöglichten den Zugang zur Materie über die verschiedenen Disziplinen und lieferten so ein breites sowie stichhaltiges Antwortspektrum.
ERIC REBILLARD (Ithaca, NY) eröffnete das erste Panel mit der Betrachtung von Passionen als living texts, also ihrer Überlieferung in vielen, sich durch kleinere Modifikationen voneinander unterscheidenden Versionen. So beinhalten beispielsweise einige Manuskripte der Acta Cypriani die Gerichtsverhandlungen von 257 n. Chr., andere thematisieren stattdessen nur Cyprians Exekution. Entscheidend sei, stets alle Textversionen miteinander zu vergleichen, denn ein Text stelle nur eine – situationsbedingt und geschuldet der jeweiligen Wirkungsabsicht veränderte – Variation des Originaldokuments dar.
RALF BOCKMANN (Rom) setzte sich in archäologischer und architekturgeschichtlicher Herangehensweise mit dem Fortbestehen von Heiligenkulten im byzantinischen Nordafrika auseinander. Anhand von Fallbeispielen wie der Damous el Karita in Karthago erläuterte er, wie im byzantinischen Nordafrika das Erleben von Heiligenstätten neu in Szene gesetzt wurde. Die im 6. Jahrhundert ergänzte Rotunde an der Westseite der Basilika ermöglichte es, die Pilger durch mehrere Räume hindurch zur dort inszenierten Reliquie und den Pilgerstrom anschließend wieder nach draußen zu führen – offenbar eine eindrucksvolle Erfahrung, die dem Heiligenkult zu neuer Popularität verhalf. Bei der Einführung neuer Heiliger und ihrer Kulte durch lokale Initiativen existierte indes keine kohärente Strategie.
SABINE FIALON (Montpellier) unterzog die Heiligentexte einer Betrachtung aus hagiographischer Perspektive: Die überblickshaft präsentierten göttlichen Erfahrungen, die einem Heiligen widerfahren konnten, lassen sich – da durch eine jeweils bestimmte Wortwahl gekennzeichnet – klassifizieren. So könne man prophetische Träume und Visionen, die beispielsweise ein Martyrium ankündigen oder eine göttliche Warnung aussprechen (wie gegenüber der Perpetua vor dem Kampf mit dem Ägypter), aber vorerst keine realen Konsequenzen nach sich ziehen, als eine Kategorie fassen. Im Gegensatz dazu stehe das Wunder, das immer eine reale Konsequenz nach sich zieht und dem Heiligen göttliche Fähigkeiten wie die des Heilens verleiht. Fialon untersucht darüber hinaus die soziale Dimension solcher göttlicher Manifestationen, die nicht nur zu Autorität verhelfen konnten, sondern auch Konflikte schürten, wie anhand des Beispiels von Caesarea und Karthago verdeutlicht wurde: Beide Städte beanspruchten Sankt Fabius als Schutzpatron für sich; Caesarea als seine Geburtsstadt, Karthago als jene Stadt, in der seine Gebeine aufbewahrt wurden.
ALICE VAN DEN BOSCH (Exeter) hinterfragte das Martyrium der jungen Salsa von Tipasa (Algerien). Bemerkenswert sei ihre Funktion als lokale Heilige, die eine aktive Rolle als Erlöserin ihrer Stadt einnahm, trotz der ihr zugesprochenen weiblichen Attribute und somit im Kontrast zu ansonsten als eher passiv charakterisierten Märtyrerinnen. Gerade die starke Ortsgebundenheit von Salsa könne als besonderes Merkmal ihrer Vita gelten, spielt sich doch die gesamte darin angelegte Handlung innerhalb Tipasas ab; selbst nach ihrem Tod kehrt ihr Leichnam ohne die für andere Viten typischen Umwege über andere Orte in die Stadt zurück. Salsa, deren Herkunft und Abstammung im Vergleich auffallend unklar bleibe, stehe in einer wechselseitigen Beziehung mit ihrer Stadt, in der sie zum Christentum gefunden hat, und die sie durch ihre aktive Rolle als Märtyrerin als christliche Stadt neugründete und bewahrt.
NATHALIE KLINCK (Hamburg) stellte die überlieferten Tugenden der Heiligen Salsa im Detail vor. Insbesondere die als weiblich assoziierten Tugenden wie ihre Schönheit, Schüchternheit und Jungfräulichkeit stehen im Kontrast zu ihren durch das Martyrium erlangten Tugenden Mut, Stärke und Willen, sich den paganen Eltern zu widersetzen. Die kursorische Behandlung von Leiden und Tod in Salsas Vita stellt einen klaren Unterschied zu den detaillierten Schilderungen der Folter von männlichen Märtyrern dar. Auf welche Weise Salsas Exempel als gute Christin in der Stadtgemeinde herausgestellt und in Erinnerung gehalten wurde, oblag vor allem dem lokalen Klerus. Für die Etablierung ihres Kultes war nicht nur Salsas Vita als reine Erzählung ausschlaggebend, sondern auch die architektonische Ausgestaltung ihres Grabes und die Zugänglichkeit der Reliquien. Zunächst im sogenannten Nischenhaus begraben, wurden letztere schließlich durch Bischof Potentius in die Basilika überbracht. Eine dort von Potentius aufgestellte Inschrift zeigt, dass neben Salsas Vita auch die Reliquienverehrung den Bischöfen eine Plattform zur Selbstrepräsentation bot. Gleichzeitig war Salsa identitätsstiftend für die christliche Glaubensgemeinschaft.
MOHAMED ARBI NSIRI (Paris/Hamburg) präsentierte seine Untersuchungen des Cypriankultes im spätantiken Nordafrika. Dabei bezog er sich ebenso auf den archäologischen wie auch den epigraphischen Befund, da diese erst in der Zusammenschau nachhaltige Analysekategorien bezüglich der Verehrung von Heiligen darstellen. So konnten beispielsweise einige Heiligengräber innerhalb der Nekropolen lokalisiert und weiterhin untersucht werden, welche Form der Verehrung die Heiligen dort erfuhren sowie welche Vorteile man sich durch die Anwesenheit der Bestatteten erhoffte. Zudem konnten Pilgerwege und die Bestattung von Pilgern in der Nähe dieser Gräber (ad sanctos) nachvollzogen werden.
ERIC FOURNIER (West Chester, PA) beleuchtete anschließend mehrere Märtyrerviten, die in der Spätantike häufig auch als Machtmittel in innerchristlichen Konflikten dienten. Besonders in Zeiten, in denen die Grenzen zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Splittergruppen nahezu fließend waren, wurden Märtyrer und ihre Geschichten in exkludierender Weise zur Stärkung jeweils eigener kirchlicher Ideale eingesetzt. Insbesondere assoziationsfördernde sprachliche Ähnlichkeiten in Heiligenviten wusste man gezielt für die kollektive Erinnerung der Glaubensgemeinschaft zu nutzen. Beispielsweise sollten Wörter aus militärischen Kontexten und kampflastige Episoden der Viten Gefühle wie Wut und Triumph evozieren. So weist etwa die Vita des Quodvultdeus zahlreiche sprachliche Ähnlichkeiten zu früheren Viten auf und sollte somit Beziehungen zu anderen – auch direkt erwähnten – Heiligen nahelegen. Mit einer entsprechend konstruierten Erinnerung an Perpetua und Felicitas (felicitatis perpetuae) habe eine kalkulierte Instrumentalisierung dieser Texte stattgefunden.
Ein ähnliches Fazit zog ANNA LEONE (Durham), die An- und Abwesenheit von Märtyrerkulten in verschiedenen Regionen Nordafrikas untersuchte. So könne der „Import“ von Kulten als Reaktion auf die Bedürfnisse einer Gemeinschaft erfolgt, mitunter aber auch systematisch durch Bischöfe vorgenommen worden sein. Lokale Heilige konnten identitätsstiftend sein, hätten aber auch für politische Statements herhalten müssen. Insbesondere die Verehrung von byzantinischen Soldatenheiligen wie dem im 12. Jahrhundert in Nordafrika etablierten Sankt Theodorus sei als eine Reaktion auf äußere (politische) Gegebenheiten zu werten. Auswahl und systematischer Import von Reliquien, wie denjenigen des Theodorus, wurden gleichsam durch Bischöfe kontrolliert.
BRUNO POTTIER (Aix-en-Provence) gewährte Einblick in eine zunächst gar nicht wie eine typische passio wirkende Heiligenerzählung: Bei den Märtyrern von Abitina (304 n. Chr.; Tunesien) handelte es sich um 49 Christen, die während einer Messe ihren Tod fanden. Auffallend ist hier die – gattungsspezifisch untypisch – fehlende Beschreibung der Todesarten an sich, die indes kein zwingendes Merkmal für eine passio gewesen sein müssten. Mit den Martyrien von Abitina gemeinsam hat die Vita des Marculus, des „Cyprian der Donatisten“, dass sie die Rolle bedeutender Persönlichkeiten in der Kirche und deren Heldentum während ihres Martyriums besonders hervorheben: sei es – wie bei Marculus – den Typus des gebildeten Bischofs aus der gesellschaftlichen Elite, sei es – in Abitina – eine ideale Gemeinschaft von Märtyrern.
Nachfolgend stellte MOHEDDINE CHAOUALI (Tunis) die neuesten Ergebnisse der Ausgrabungen und Forschungen in Bulla Regia und Mustis (Tunesien) vor. In Bulla Regia habe man eindeutige Hinweise auf die Existenz zweier bisher unbekannter Bischöfe gefunden, darunter ein gewisser Armonius. Jener sei als Stifter einer christlichen Schule vermerkt. Auch in Mustis gebe es Inschriften, die zu neuen Diskussionen anregen: So taucht auf einer Inschriftentafel erstmals ein mutmaßlicher magister militum in einem christlichen Kontext auf. Es zeigt sich, dass die nordafrikanischen Fundorte noch einige Überraschungen bereithalten, die nur darauf warten, durch fachkundige Untersuchung erschlossen zu werden.
Mit Überlegungen zur unterschiedlichen Popularität einzelner Märtyrer in der Stadt Hippo beschloss ROBERT WIŚNIEWSKI (Warschau) die Tagung. Entscheidend sei bei deren Verehrung einerseits die Art und Weise, wie die Heiligen nach Hippo gebracht wurden. So konnten diese auch gegen bischöfliches Widerstreben vom Volk adaptiert und zugehörige kulturelle Bräuche in unterschiedlicher Form populär werden – insbesondere, wenn sie, wie beispielsweise das Baden anlässlich der Festlichkeiten für den Heiligen Johannes, Vergnügungen versprachen. Wettbewerbsdenken zwischen mehreren Städten könnte außerdem zur teilweise starken lokalen Beschränktheit gewisser Kulte geführt haben: Niemand wollte die Märtyrer des Nachbarn unterstützen.
Die zu Beginn der Tagung gestellten Fragen wurden von den Referent:innen auf unterschiedlichste Weise beantwortet. Die Annahme, dass der Import von Heiligenkulten vor allem durch die Bischöfe initiiert wurde, wurde nicht widerlegt, aber um einen Akteur ergänzt: Lokale Eliten als Fortführer und Wiedereinführer von Heiligenverehrung waren offenbar maßgeblich an der Aus- und Verbreitung von Kulten beteiligt. Die Kontinuität der Verehrungspraktiken zeigt sich nicht nur in der Verbreitung und fortgeführten Anbetung von Reliquien; auch die sprachlichen Deutungen der mitunter wohl mit Kalkül ähnlich ausformulierten hagiographischen Texte zeigen, dass Märtyrerverehrung in Nordafrika mehr von Kontinuität als von Veränderung geprägt war. Die Fallbeispiele verdeutlichen zugleich die soziale Funktion von Heiligenkulten, wenn etwa Bischöfe durch die Kontrolle von Reliquienimporten ihre Machtposition stärkten und die Konkurrenz zwischen den lokalen Heiligenkulten mehrerer Parteien nicht selten zu ausgewachsenen Konflikten führte. Der Einfluss der „toten Heiligen“ war mithin so groß, dass er sich architektonisch eindrucksvoll fassen lässt, wie die Ergänzungsbauten an Basiliken zeigen. Viele Fallbeispiele und ihre Ergebnisse mögen zwar für Nordafrika als einzigartig gelten, lassen aber nichtsdestotrotz einen strukturellen Vergleich auch und insbesondere mit den außerhalb der betrachteten Regionen angesiedelten Studien als lohnend erscheinen. Gerade auf solche Vergleiche sollte man sich in Zukunft fokussieren. Die Beiträge der Tagung werden in den „Beiträgen zur Hagiographie“ des Steiner-Verlags erscheinen.
Konferenzübersicht:
Sabine Panzram / Nathalie Klinck (RomanIslam Center, Universitat Hamburg): Welcome and Introduction
The story made the martyr?
Eric Rebillard (Cornell University, Ithaca, NY): Martyr Narratives as Living Texts: The Case of North African Narratives about ancient Martyrs
Ralf Bockmann (Deutsches Archäologisches Institut, Rom): Past and Present – Saints in the Churches of Byzantine North Africa
Richard Miles (University of Sydney): Strangers in a Foreign Land: Non-African Saints in Late Antique Numidia and beyond (entfallen)
Sabine Fialon (Université Paul Valery, Montpellier): Cuncta fidei deuotio candida luce uestiuit (P. Luc. IV, 2). Divine Manifestations in African Hagiography (3rd and 6th Centuries)
Saints and the city
Alice van den Bosch (University of Exeter): A Witness for the Defence: The Cult of St. Salsa at Tipasa
Nathalie Klinck (RomanIslam Center, Universität Hamburg): Salsa of Tipasa: The Making of Female Saints
Mohamed Arbi Nsiri (Université Paris Nanterre / RomanIslam Center, Universität Hamburg): Les Africains et le culte de Cyprien pendant l'Antiquite tardive
Eric Fournier (West Chester University, PA): Eternal Persecutions: Trauma and Memory of the Martyrs in Late Antique North Africa
Anna Leone (Durham University): Redefining the Christian Landscape of Late Antique North Africa (4th and 6th Centuries AD): Bishoprics and Territories
Bruno Pottier (Centre Camille Jullian, Université d'Aix Marseille): La valorisation du martyre de notables ecclésiastiques et laïcs au sein du schisme donatiste: les passions de Marculus et des martyrs d'Abitina
Moheddine Chaouali (lnstitut National du Patrimoine, Tunis): Nouveaux regards sur l'épiscopat des cités africaines pendant l'antiquité tardive (d'après des exemples de Bulla Regia et Mustis)
Robert Wiśniewski (Uniwersytet Warszawski): Sheep and Rams: The New and Old Cults of Saints in Augustine's Hippo
Sabine Panzram / Nathalie Klinck: Conclusion and discussion