Einsperren, beschränken, ausweisen. Der Raum als Mittel der Separierung und sozialen Kontrolle vom späten 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Einsperren, beschränken, ausweisen. Der Raum als Mittel der Separierung und sozialen Kontrolle vom späten 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Organisatoren
Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte, Freie Universität Bozen; Institut für Juristische Grundlagen – Lucernaiuris, Universität Luzern; Archivio del Moderno, Università della Svizzera Italiana, Balerna-Mendrisio
Ort
Brixen
Land
Italy
Vom - Bis
15.11.2021 - 15.11.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Giada Noto, Faculty of Education, Free University of Bolzano/Bozen

Der internationale Workshop, wie die Organisatorin Francesca Brunet in ihrer Einführung betonte, wollte sich nicht nur auf materielle Räume der Separierung konzentrieren, auf Gefängnisse, Arbeitshäuser usw. Er beschäftigte sich auch mit gerichtlichen Institutionen, polizeilichen Praktiken und administrativen Maßnahmen, die Begrenzung/Beschränkung/Negierung von Raum zum Ziel und zur Folge haben. In diese Kategorie fallen z.B. Ausweisung, Zwangsdomizilierung, Abschiebung und generell alle Maßnahmen, die die Bewegungsfreiheit und den Handlungsspielraum der Betroffenen im räumlichen, sozialen und relationalen Sinn einschränken.

Die vorgestellten Studienprojekte beleuchteten das Verhältnis zwischen Raum und sozialer Kontrolle, Bestrafung und Disziplinierung zwischen dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert und entwickelten sich entlang zweier Makro-Themen:
a) Gebäude der Separierung, d.h. Gefängnisstrukturen und Gebäude, die dazu bestimmt sind, Menschen als delinquente, kranke Abweichler auszusondern, wobei architektonische und geschlechtsspezifische Aspekte im Vordergrund stehen;
b) Raumeinschrankung, Raumverweigerung, was sich im Wesentlichen auf polizeiliche Instrumente bezieht, die darauf abzielen, Gruppen von Menschen zu begrenzen oder zu entfernen.

Das erste Panel öffnete CHARLOTTE BÜHL-GRAMER (Erlangen-Nürnberg), die sich mit dem zwischen 1865 und 1868 errichteten Nürnberger Zellengefängnis befasste, einem wahren Muster des Isolationsgefängnisses im Strahlenbau als neuer und moderner Form des Strafvollzugs. Sie verwies dabei auf fünf Aspekte: den Zusammenhang zwischen architektonischem Konzept, räumlicher Anordnung, Ausstattung und Strafvollzug; die Übertragung des modernistischen Fortschrittsgedankens auf die Sträflinge mit dem Anspruch eines in die Zukunft gerichteten Idealzustandes innerer Vervollkommnung für die Insassen; die Strategien der Reproduktion dieses Konzepts in den visuellen Medien Holzstich und Fotografie; die Ausbildung von Beziehungen und Verstrickungen innerhalb des Gefängnisses zwischen Personal und Insassen sowie zwischen der Anstalt und der Gesellschaft; und die Identifizierung der topographischen Beziehungen des Zellengefängnisses mit dem Stadtgefüge.

ANDREA GIULIANI (Rom) befasste sich mit der Einzelhaft, einem Thema, für das ein wachsendes Forschungsinteresse in der italienischen Geschichtsschreibung besteht, bemerkbar aufgrund der Debatte zwischen seinen Befürwortern und Gegnern. Giuliani zeigte, wie sich die Einführung des Systems der buona compagnia in Volterra (1849–1890), das auf der ständigen Trennung der Gefangenen beruhte, nicht nur auf die architektonische Struktur der Festung von Volterra, sondern auch auf das tägliche Leben der Gefangenen auswirkte. Insbesondere konzentrierte er sich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Strafanstalt gezwungen war, zahlreiche architektonische, praktische und ordnungspolitische Anpassungen vorzunehmen, die dazu führten, dass die Sträflinge des Zuchthauses und die Insassen des Gefängnisses die Härte dieses Trennungsregimes am eigenen Leib erfuhren. Gerade die Koexistenz von Gefangenen in Volterra, die zu unterschiedlichen Strafen verurteilt wurden, dem selben Lebensregime unterworfen waren, aber unterschiedlich behandelt wurden, bietet einen interessanten Schlüssel zum Verständnis des allgemeinen Übergangs von der Zwangsarbeit zu anderen Arten von Freiheitstrafen.

IVANNA CHERCHOVYCH (Lviv) stellte das Frauengefängnis in Lemberg (Lwów, Lviv) vor, das im frühen 17. Jahrhundert in einem ehemaligen Dominikanerkloster gegründet wurde. Sie zeigte die Perspektive der weiblichen Gefangenen, Adressatinnen von Bestrafungen, die in enger Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche ausgearbeitet und verwaltet wurden. Das Kloster ging nach der Säkularisierung 1787 durch die österreichischen Behörden in Staatseigentum über, und seit 1841 wurde in einem Teil der Zellen ein nach Maria Magdalena benanntes Frauengefängnis eingerichtet, das von den Töchtern der Nächstenliebe des Heiligen Vinzenz von Paul geleitet wurde. Die Besonderheiten dieses Gefängnisses waren die zentrale Lage in der Stadt, die es zu einem sichtbaren Teil des Stadtgefüges machte, und die Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche bei der Organisation des Frauenstrafvollzugs: Die Barmherzigen Schwestern, ein österreichischer Zweig der katholischen Frauenkongregation, betreuten die Gefangenen im Auftrag des Staates.

GIULIA SPOLTORE (Balerna-Mendrisio) referierte über das psychiatrische Krankenhaus der Senavra in Mailand, eine Einrichtung, die 1775 im Rahmen der Teresianischen Reformen als sekundäre Folge der Unterbringung der “Esposti” (verlassene Kinder) gegründet wurde. Wegen der zunehmenden Zahl der Kinder waren das Ospedale Maggiore und das Hospiz von San Vincenzo, in dem sich auch Geisteskranke befanden, überfüllt. Das neue Krankenhaus, das 1781 unter der Verwaltung des Ospedale Maggiore in Betrieb genommen wurde, nahm nicht nur Geisteskranke, sondern auch andere Bedürftige auf. Spoltore rekonstruierte das Leben innerhalb des Krankenhauses von Senavra hauptsächlich anhand der Archivbestände des Ospedale Maggiore. Besonderes Augenmerk legte sie auf die Standorte und hob die Veränderungen hervor, die das Bauwerk in Bezug auf Architektur und Dekoration erfuhr. Die Modelle der lombardischen Alienisten inspirierten zur Reform des Gebäudes, waren in der zeitgenössischen Debatte aber auch umstritten. Ein weiteres Thema waren die Freizeit- und Arbeitsaktivitäten innerhalb des Krankenhauskomplexes. Sie betonten die moralische Fürsorge, die damals im Mittelpunkt der Behandlungsprotokolle des nahen Mombello-Instituts stand. Das Institut sollte eine Zweigstelle der städtischen Struktur sein, wurde aber nach der Schließung von Senavra 1878 zum einzigen Krankenhaus in der Provinz. Spoltore beschrieb den langsamen Umzug des Mailänder psychiatrischen Instituts vor die Tore der Stadt. Die Wahrnehmung des Standortes außerhalb der Stadt wandelte sich von einem positiven in ein für die Behandlung negatives Element, das materielle Einschränkungen mit sich brachte und das ordnungsgemäße Funktionieren des Instituts beeinträchtigte.

Im zweiten Panel sprach zunächst RALPH HÖGER (Hamburg-Eppendorf) über die spezifische Dynamik des psychiatrischen Raums und der Raumbildung in der Psychiatrie. Tatsächlich werde der psychiatrische Raum in der neueren Psychiatrieforschung nicht mehr ausschließlich als geschlossener und beengender Ort gelesen: Studien zur Familienpflege und zu landwirtschaftlichen Kolonien, zu Heilarchitektur und Gärten sowie zu kreativen Formen der Aneignung psychiatrischer Räume machen die Vielfalt der Lebenswelt der Anstalt deutlich. Auch die Institution ist nicht starr, sondern verändert sich ständig und formt Menschen, materielle Umgebungen und immaterielle Regelungen neu. Anhand der Fallstudien zweier württembergischer Anstalten, Zwiefalten und Schussenried, nahm Höger verschiedene räumliche Praktiken in den Blick: von der Aufnahme über den Transfer innerhalb des Asylkomplexes bis hin zur Flucht. Der Schwerpunkt lag auf den Reisewegen der Patient:innen und der (Nicht-)Rechtfertigung von räumlichen Praktiken in den Krankenakten. Die Untersuchung der räumlichen Gegebenheiten ermöglichte einen differenzierten Blick auf die sozialen Beziehungen innerhalb und außerhalb der Mauern der Institution und zeigte Handlungsräume und temporäre Öffnungen in ihr. Klassische analytische Dichotomien, wie z.B. Ärzt:innen vs. Patient:innen oder therapeutische vs. disziplinäre Praktiken wurden durch die Fokussierung auf den Raum weiter in Frage gestellt. Auf diese Weise wurde der psychiatrische Raum als eine verflochtene Koproduktion sichtbar, die immer wieder neu angeeignet und in der Situation verhandelt wird.

FRANCESCA BRUNET (Bozen) beschrieb den rechtlichen und institutionellen Kontext des Vagabundierens im Habsburgerreich, insbesondere in Tirol, und fragte nach dem Umgang mit den als „Zigeuner“ bezeichneten Personen. Die Kontrollen und polizeilichen Verfolgungen der Roma- und Sinti-Minderheiten , die es in Tirol und im Trentino seit Jahrhunderten gab, wurden vor allem in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer stärker und systematischer. In Österreich waren bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten eine Reihe von spezifischen Verordnungen zur zwangsweisen Rückführung einzelner „Zigeuner“ oder „Zigeunerbanden“ erlassen worden, doch traten vor allem in den 1880er-Jahren in verschiedenen Provinzen des Reiches verschärfte Bestimmungen zur Bekämpfung des „Zigeunerunwesens" in Kraft. Brunet verwies auf die immer zahlreicheren Normen, die darauf abzielten, die Identität der Menschen, ihre territoriale Zugehörigkeit und ihre Bewegungsfreiheit genau festzulegen. Arbeitsgenehmigungen, Pässe, Räumungs- und Ausweisungsverfügungen, Zwangsrückführungen, Auslieferungen, sogar der weit verbreitete Einsatz von Fotografien im polizeilichen Kontext sind allesamt Instrumente und Techniken, die dazu dienten, die Mobilität der Menschen zu kontrollieren, zu regulieren oder zu unterdrücken. Brunet erläuterte deren Anwendung und veranschaulichte sie an exemplarische Fällen, aus denen eine gewisse Schwierigkeit in der Umsetzung dieser Kontrollinstrumente seitens der Tiroler Verwaltungs- und Polizeibehörden abgeleitet werden kann.

YANNIS GONATIDIS (Rethymno) stellte zusammen mit LEDA PAPASTEFANAKI und MARIA PAPPA (Ioannina-Rethymno) einige Themen vor, die im Rahmen ihres Forschungsprojekts „Geographie der Überwachung“ behandelt wurden. Der Beitrag konzentrierte sich auf die Lazarette, Quarantäne- und Gesundheitsstationen, die von der griechischen Zentralverwaltung eingerichtet und verwaltet wurden, sowie auf die von den meisten Inselgemeinden vor Ort errichteten Einrichtungen, die die Bevölkerung vor Epidemien schützen und helfen sollen, die Regierungspolitik umzusetzen. Zunächst wurde das Netz der Lazarette und Quarantänestationen in Griechenland in der Zeit von der griechischen Revolution 1821 bis 1909 vorgestellt. Die nachfolgenden territorialen Erweiterungen und Annexionen Griechenlands veränderten das Netz ständig. Außerdem wurden die Auswirkungen medizinischer Theorien sowie sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Faktoren untersucht, die die Wahl des Ortes, an dem die Einrichtungen gebaut wurden, beeinflussten. Der enge Zusammenhang zwischen Epidemie und sozialer Kontrolle wurde problematisiert. Tatsächlich dienten die Lazarette oft dazu, die Bewegungen von Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren, die als verdächtig, bedrohlich, unordentlich oder ansteckend galten. Im 19. Jahrhundert war die Quarantäne eng mit der Entwicklung einer restriktiven Einwanderungspolitik sowie dem Schutz und der Kontrolle des Handels verbunden. Sie wurde auch als Instrument in den internationalen Beziehungen und als Mittel zur Definition der Souveränität eines Landes eingesetzt.

Schließlich widmete ELENA BACCHIN (New York/Venedig) sich den piemontesischen Exilanten, die in den 1850er-Jahren in die Vereinigten Staaten deportiert wurden. Es gibt Aufzeichnungen über mindestens vier Schiffe, die zwischen 1853 und 1855 nach New York fuhren. Dabei handelte es sich um deportationsähnliche Aktionen, die darauf abzielten, politisch Andersdenkende zu vertreiben. Bacchin fragte nach den Reaktionen bei der Ankunft dieser Abgeschobenen in den Vereinigten Staaten, wer die Abgeschobenen waren und wie ihr Status als politische Gegner definiert und neu verhandelt wurde, um ihre Aufnahme zu erleichtern. Die Untersuchung stützte sich auf die Berichte piemontesischer Diplomaten in Übersee, die Reaktionen ausländischer Regierungen, amerikanische Zeitungen jener Zeit und US-Dokumente. Die Personen waren vor allem politische Emigranten aus dem Rest der Halbinsel, die im Piemont untergebracht waren. Einige von ihnen waren vor ihrer Ausreise nach Amerika aus „Vorsichts- oder polizeilichen Gründen“ inhaftiert, aber niemand war verurteilt oder angeklagt worden. Dabei kollidierten die Sicherheitsbedürfnisse Piemonts mit den Rechten und Freiheiten der betroffenen Personen und verstießen zudem gegen das Völkerrecht. In den Vereinigten Staaten verboten einige Bundesstaaten und der Kongress die Einwanderung ausländischer Sträflinge. Die Ankunft in den USA rief daher verschiedene Kritiken, Proteste und gerichtliche Untersuchungen hervor und veranlasste die piemontesischen Konsularbehörden, die Identität der Abgeschobenen immer wieder neu zu verhandeln. Dabei argumentierten sie mit der Relativität des politischen Verbrechens und dem Verhältnis zwischen Meinungsfreiheit und liberalen Forderungen im amerikanischen Kontext. Vor allem ärmere Personen oder solche, die keine Kontakte hatten, die sie empfehlen konnten, wurden von den US-Behörden abgewiesen.

Die Diskussion eröffnete Michele Luminati (Luzern) mit einem Kommentar, der auf die Existenz eines Netzwerks von Räumen und Orten hinwies, in denen als gefährlich eingestufte Personen eingesperrt werden. Dass die Grenze zwischen gerichtlichen und außergerichtlichen Maßnahmen fließend ist, zeigte sich in den verschiedenen Fällen, die im Workshop analysiert wurden. Einerseits finden praeter delictum-Maßnahmen ihre Legitimation im positivistisch-kriminologischen Strafrecht der Mitte des 19. Jahrhunderts, das die Bedeutung der Prävention betont, andererseits stehen sie im Konflikt mit dem Legalitätsprinzip. Laut Luminati wurde aus den verschiedenen Berichten deutlich, wie eng die Beziehungen zwischen psychiatrischen, strafrechtlichen und administrativen Aspekten sind und wie Netzwerke von Institutionen und Praktiken, die auf die soziale Kontrolle des Raums abzielen, auch mit dem Prozess der Nationenbildung verbunden sind.

Konferenzübersicht:

Francesca Brunet (Bozen): Einleitung

Panel I: Gebäude der Separierung

Moderation: Siglinde Clementi (Bozen)

Charlotte Bühl-Gramer (Erlangen-Nürnberg): Isoliert, zivilisiert und inkognito – Das Zellengefängnis in Nürnberg

Andrea Giuliani (Roma): La „buona compagnia” nella fortezza di Volterra tra ergastolo e lavori forzati (1849–1890)

Ivanna Cherchovych (Lviv): Prison as (non) female space: women’s incarceration experience in the late 19th century Lemberg

Giulia Spoltore (Balerna-Mendrisio): L’ospedale psichiatrico della Senavra: lo spazio vissuto della detenzione e l’allontanamento da Milano

Panel II: Raumeinschränkung, Raumverweigerung

Moderation: Joachim Gatterer (Bozen)

Ralph Höger (Hamburg-Eppendorf): Psychiatriepatient:innen zwischen Befreiung und Beschränkung. Raumproduktionen und Raumaneignungen in der württembergischen Psychiatrie (1875–1914)

Francesca Brunet (Bolzano): „Non avere un luogo al mondo ove essere respinti”. Spazi di mobilità e repressione spaziale della minoranza rom e sinta in Tirolo

Yannis Gonatidis (Rethymno) / Leda Papastefanaki (Ioannina/Rethymno) / Maria Pappa (Ioannina/Rethymno): Spaces of social control. Lazarettos and quarantine in the Greek state (1821–1923)

Elena Bacchin (New York/Venezia): La Siberia piemontese. Il Regno di Sardegna e l’allontanamento degli esuli indesiderati negli Stati Uniti

Michele Luminati (Luzern): Schlusskommentar