Umkämpfte Erinnerung. Gelehrte in konkurrierenden Gedächtniskulturen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit

Umkämpfte Erinnerung. Gelehrte in konkurrierenden Gedächtniskulturen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit

Organisatoren
Thorsten Halling / Anne Oommen-Halbach, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Ort
Düsseldorf und digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.06.2021 - 17.06.2021
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Von
Anne Oommen-Halbach / Thorsten Halling, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Gelehrte sind im öffentlichen Gedächtnis als Namensgeber von Straßen, Plätzen und Institutionen weit über den Kontext von Universitäten und Forschungseinrichtungen hinaus allgegenwärtig. Insbesondere vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verwerfungen der Kolonialzeit sowie der beiden Weltkriege sind jedoch viele dieser Benennungen umstritten, und erinnerungskulturelle Debatten führen oft zu einer neuen öffentlichen Wahrnehmung historischer Persönlichkeiten. Dabei sind die Mechanismen, denen der Erinnerungstransfer von der Wissenschaft in die Gesellschaft unterliegt, noch weitgehend unerforscht.

Welche Kriterien spielen für die Auswahl von Namenspatron:innen eine Rolle? Welche Bedeutung hat die Biographie oder das Werk einer namensgebenden Person für das Selbstverständnis einer Institution oder einer Gesellschaft? Auf welche zeithistorischen Begründungsansätze lassen sich „Benennungskonjunkturen“ und „Denkmalstürze“ von Identifikationsfiguren zurückführen? Inwieweit kontrollieren Erinnerungsgemeinschaften das öffentliche Bild einer exponierten Persönlichkeit?

Diese Fragen standen im Zentrum der Tagung, die interdisziplinäre erinnerungskulturelle Debatten über Gelehrte in konkurrierenden Gedächtniskulturen in den Blick nahm. Die methodisch und perspektivisch vielfältigen Beiträge aus den Geschichtswissenschaften, der Archäologie, der Pädagogik, den Geowissenschaften, der Zahnmedizin, der Medizingeschichte, der Kirchengeschichte bis hin zur Forstwissenschaft beleuchteten sowohl theoretisch-methodische Ansätze als auch empirische Fallstudien zu erinnerungskulturellen Phänomenen des 19. und 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

Ausgangspunkt der Überlegungen waren Aspekte universitärer und fachkultureller Erinnerung im engeren Sinne. Am Beispiel der Medizinischen Fakultät Erlangen wies KARL-HEINZ LEVEN (Erlangen) sowohl auf die Möglichkeit der Instrumentalisierung von historischen Persönlichkeiten als auch auf die Leerstellen in der Gedächtniskultur einer Institution hin.

MATTHIS KRISCHEL (Düsseldorf) konnte am Beispiel medizinischer Fachgesellschaften aufzeigen, dass die Benennung fachbezogener Wissenschaftspreise und Eponyme einerseits der Selbstvergewisserung und Identifikation einer gelehrten Gesellschaft und andererseits ihrer Repräsentation nach außen dient. Dabei können exponierte Fachvertreter die ihnen zunächst zugeschriebene Rolle als Identitätsstifter auch wieder verlieren, wie sich am Beispiel des Humangenetikers Hans Nachtsheim aufzeigen lässt: Sein Engagement als Eugeniker im Nachkriegsdeutschland ließ ihn seine gesellschaftliche Vorbildfunktion in der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik verlieren.

In den letzten Jahren wurden Historikerinnen und Historiker vielfach von medizinischen Fachgesellschaften beauftragt, die Namensgeber ihrer wissenschaftlichen Preise hinsichtlich deren NS-Belastung zu untersuchen. TIMO BAUMANN (Düsseldorf) diskutierte mögliche Kriterien für eine historische Beurteilung der Frage, inwieweit medizinisch tätige Personen in das nationalsozialistische Regime involviert waren. Während die Beteiligung an Menschenversuchen ein eindeutiges Indiz für eine NS-Belastung darstellt, bewegen sich die Mehrzahl der Kandidaten eher in einer Grauzone und entziehen sich daher einer eindeutigen Zuordnung.

Umbenennungen im Kontext von Institutionen entfalten ein erhebliches symbolisches Potential: Die Medizinische Hochschule Hannover änderte – wie BRIGITTE LOHFF (Hannover) analysierte – durch eine Umbenennung der vormals nach dem NS-Architekten Konstantyn Gutschow (1902–1978) benannten Straße nach dem jüdischen Biochemiker Carl Neuberg (1877–1956) ihre Außenwirkung als progressive medizinische Forschungsstätte der deutschen Nachkriegsära.

Ob Erinnerungen an historische Persönlichkeiten ein identitätsstiftendes Potential entfalten, hängt ganz wesentlich von der zeitgenössischen erinnerungskulturellen Inszenierung ab. Dazu zählt auch eine sinnstiftende Akzentuierung der positiv, bzw. eine Ausblendung der negativ bewerteten Anteile der Biographie oder des Werks einer Persönlichkeit. Dies konnte SWEN STEINBERG (Ottawa) exemplarisch an der späten Heroisierung des deutschen Forstwissenschaftlers Carl A. Schenck (1868–1955) in den USA der 1950er-Jahre verdeutlichen, der im transatlantischen Kontext als Vertreter einer „German Forestry“ wahrgenommen wurde.

Eine mythische Überhöhung von Persönlichkeiten kann nicht nur als Resultat einer positiven gesellschaftlichen Zuschreibung, sondern auch als Ergebnis erfolgreicher Selbstinszenierung verstanden werden. Die zeitgenössisch überhöhten Säulenheiligen lassen sich auch für die Rezeptionsforschung nutzen: Sie reflektieren die sich wandelnden gesellschaftlichen oder fachkulturellen Idealvorstellungen, wie THOMAS SCHUETZ (Stuttgart) am Beispiel des Wirtschaftspolitikers Ferdinand Steinbeis (1807–1893) aufzeigen konnte.

Am Beispiel der Inszenierung Ferdinand Sauerbruchs (1875–1951) in der 2019 ausgestrahlten TV-Serie „Charité“, die an fachwissenschaftlich widerlegte und auch allgemein überwunden geglaubte deutsche Selbstentlastungsnarrative der 1950er-Jahre anknüpfe, bekräftigte RICHARD KÜHL (Düsseldorf) Befunde von einer „neuen Naivität“ in der populären medialen Darstellung der NS-Zeit. Auch weil dies bei der Ausstrahlung des ARD-Formats seitens der Feuilletons kaum bemerkt worden sei, plädierte er für eine deutliche Veränderung publizistischer Distributionspolitiken der deutschsprachigen Medizingeschichte, zumal es ihr an einem aufklärend intervenierenden Selbstverständnis, wie es die deutsche Zeitgeschichtsforschung pflege, oft mangele.

Erinnerungskulturelle Debatten über die Erinnerung im öffentlichen Raum entzünden sich oft an Straßen(um)benennungen. Dabei stehen sich zwei Positionen konträr gegenüber: Während die einen der Tilgung von Namen der als problematisch empfundenen Persönlichkeiten das Wort reden, argumentieren die anderen für eine kritische Auseinandersetzung mit deren Geschichte im öffentlichen Raum. Die Argumentationsmuster stehen in einem Spannungsfeld zwischen cancel culture und „Wissenschaftsfreiheit“, wie THOMAS BEDDIES (Berlin) am Beispiel der Debatte über den Pathologen Robert Rössle (1876–1956) ausführte.

Auch FLORIAN MÜLLER (Innsbruck) fokussierte auf die Dekonstruktion einer erinnerungskulturellen Debatte, in der im Spannungsfeld zwischen Laienforschung und Fachwissenschaft um die missverständliche zeitgenössische Deutungshoheit einer historischen Persönlichkeit gerungen wurde.

Für die öffentliche Erinnerungskultur spielen auch Schulbenennungen eine wesentliche Rolle, wobei deren Benennungspraktiken und -mechanismen bislang ein Forschungsdesiderat darstellen. SEBASTIAN ENGELMANN (Tübingen) und KATHARINA WEIAND (Karlsruhe) konnten am Beispiel des Bundeslandes Thüringen nachweisen, dass bislang insbesondere praktisch tätige Reformpädagogen als Namensstifter für Schulen herangezogen wurden. Dies führe nicht nur zu einer Sichtbarmachung eines reformpädagogischen Ansatzes einer Schule, sondern zugleich zu einer Stabilisierung und Homogenisierung der Wahrnehmung der Geschichte der Pädagogik in der Öffentlichkeit.

Schließlich widmete sich die Tagung der Frage nach Deutungshoheit und Deutungsmacht von Erinnerungen. Dieser Aspekt spielt regelhaft beim sozialhistorischen Ansatz der Oral History eine Rolle, bei dem Zeitzeug:innen die Deutungsmacht über ihre eigenen Erinnerungen übernehmen. FELICITAS SÖHNER (Düsseldorf) diskutierte in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit diese von Zeitzeugen gedeuteten Erinnerungen den historiographischen Prozess beeinflussen.

ANNA CORSTEN (München) analysierte die in den deutschen Geschichtswissenschaften der 1950er-Jahre konkurrierenden Perspektiven auf das nationalsozialistische Deutschland. Dabei kam es zu einem wissenschaftlichen Diskurs jüngerer, während des Nationalsozialismus in die USA emigrierter Nachwuchshistoriker wie beispielsweise Hajo Holborn (1902–1969) und Hans Rosenberg (1904–1988) mit alteingesessenen westdeutschen Historikern. Nicht nur deren biographische Erfahrungen von Vertreibung und Flucht, sondern auch die Abwendung von einer konservative Geschichtsmethoden propagierenden Fachkultur führte zu einer veränderten wissenschaftlichen Perspektive. Diese prägte in den 1960er-Jahren als stärker theorieorientierte Disziplin die sogenannte Bielefelder Schule.

JULIA NEBE (Düsseldorf) betrachtete an den Beispielen der gleichermaßen fehlenden fachkulturellen Erinnerung an die NS-belastete Zahnmedizinerin Elsbeth von Schnizer (1900–1998) und an die im Nationalsozialismus verfolgte jüdische und später in der DDR wirkende Zahnärztin Jenny Cohen (1905–1976) das Phänomen eines dissonanten Erinnerns von männlichen und weiblichen zahnmedizinisch tätigen Personen. Hierbei zeichnete sie nicht nur den Transformationsprozess vom zeitgenössischen Erinnern in ein fachkulturelles Gedächtnis nach, sondern hob insbesondere genderspezifische Aspekte des Erinnerns hervor und setzte diese in Bezug zum Forschungsdiskurs über die Rolle der Frau im Nationalsozialismus.

Daran anschließend wurden die um Deutungshoheit ringenden Erinnerungsgemeinschaften als Akteure in den Blick genommen. GUNNAR MERTZ (Wien) betrachtete die Kopplung von Ehre und Erinnerung in der Wiener Geowissenschaft am Beispiel des Gedenkens an den jüdischen Geologen Eduard Suess (1831–1914). Das ehemals 1928 zu seinen Ehren errichtete Denkmal wurde im Zuge des nationalsozialistischen „Anschlusses“ entfernt. Seine Wiedererrichtung im Jahr 1951 verband die Geologische Bundesanstalt mit der gleichzeitigen Ehrung zweier Nationalsozialisten mit einer neu eingeführten Medaille. Den dabei zum Ausdruck kommenden Widerspruch in der Erinnerungs- und Ehrungspraktik betrachtete Mertz als ein geschichtspolitisches „Kopplungsgeschäft, das im Sinne der österreichischen „Opferthese“ die Geehrten von ihrer Verantwortung entlasten sollte.

STEFAN MICHELS (Mainz) betrachtete aus kirchenhistorischer Perspektive die Debatte über einen führenden Repräsentanten der evangelischen Erinnerungskultur, den Theologen Martin Niemöller (1892–1984). Sein im Lichte einer kürzlich erschienenen Biographie neu akzentuiertes Leben und Wirken entfachte eine grundsätzliche Debatte über eine Verortung evangelischer Erinnerungskultur zwischen historisch-hermeneutischem Anspruch und hagiographischer Grundhaltung.

ANNE OOMMEN-HALBACH und THORSTEN HALLING (Düsseldorf) referierten über konkurrierende Erinnerungsgemeinschaften im Gedenken an den jüdischen Kinderarzt, Pädagogen und Schriftsteller Janusz Korczak (1878 oder 1879–1942). Dessen posthume Ehrung durch die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1972 provozierte vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und des Nahost-Konfliktes eine diplomatische Krise. Dennoch trug diese Ehrung wesentlich dazu bei, den Pädagogen, jüdischen Märtyrer und Brückenbauer der deutsch-polnischen Verständigung Korczak in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur zu verankern.

Die Tagungsbeiträge aus vielen verschiedenen Disziplinen verdeutlichten eine große Sensibilität für die Bedeutung von Gelehrten in erinnerungspolitischen Debatten sowohl innerhalb der Wissenschaften als auch im Diskurs mit und in der Öffentlichkeit. Die eingangs formulierten Fragestellungen zu den Funktionen und Mechanismen dieses wechselseitigen Erinnerungstransfers zwischen Wissenschaft und Gesellschaft wurden einerseits sehr konkret an prägnanten Beispielen beantwortet, andererseits ordneten viele Beiträge die Forschungsergebnisse in grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis einer fachwissenschaftlichen Analyse historischer Prozesse und ihrer Protagonisten mit den Formen öffentlichen Gedenkens. Diese unterliegen, so zeigten die Beiträge und die Diskussionen, einem permanenten gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, der sich im Spektrum von Streit, Ignoranz und schlichtem Vergessen bewegt und dem sehr oft aktuelle Interessen zu Grunde liegen.

Konferenzübersicht:

Keynote

Karl-Heinz Leven (Erlangen): Woran eine Medizinische Fakultät (nicht) erinnern möchte. Das Beispiel Erlangen

Sektion I: Universitäre und fachkulturelle Erinnerung

Matthis Krischel (Düsseldorf): Gelehrte als Identifikationsfiguren in Medizinischen (Fach-) Gesellschaften. Beispiele aus Humangenetik, Urologie und Zahnheilkunde

Timo Baumann (Düsseldorf): Umbenennung von Wissenschaftspreisen medizinischer Gesellschaften

Brigitte Lohff (Hannover): Angekommen in der Geschichte: Die Medizinische Hochschule Hannover zwischen Konstantyn Gutschow und Carl Neuberg

Sektion II: Erinnerungskulturelle Inszenierung

Swen Steinberg (Ottawa): Schenck kommt wieder. Die USA-Reise des deutschen Gründers der ersten amerikanischen Forstschule im Jahr 1952 als wissenschaftliche und (geschichts-)politische Inszenierung

Thomas Schütz (Stuttgart): Ferdinand Steinbeis ... oder wie man langfristig erfolgreich Eigenwerbung macht

Richard Kühl (Düsseldorf): Keine Fragen mehr. Die TV-Serie „Charité“ (2019) und die geschichtspolitischen Folgen

Sektion III: Erinnern im öffentlichen Raum

Thomas Beddies (Berlin): Die Robert-Rössle-Straße in Berlin-Pankow. Zum Streit um die ehrende Erinnerung an einen „relativ belasteten“ Pathologen der Berliner Universität in der NS-Zeit

Florian Müller (Innsbruck): „Ploner ist nicht gleich Ploner“ – ein Nazikomponist, ein Franziskanerpater und die archäologischen Ausgrabungen in der Römerstadt Aguntum 1912/13

Sebastian Engelmann / Katharina Weiand (Karlsruhe): Fröbel, Montessori und Co. – Schulnamen im Spiegel der Geschichte der Pädagogik

Sektion IV: Kampf um Deutungshoheit

Felicitas Söhner (Düsseldorf): Erinnerungskultur in der mündlichen Geschichtsschreibung – eine Frage von Hegemonien und Deutungshoheit?

Anna Corsten (München): Von Weimar über New York nach Bielefeld – Emigranten erneuern die deutsche und amerikanische Geschichtswissenschaft

Julia Nebe (Düsseldorf): Dissonantes Erinnern – umkämpft, verhandelt, ausgegrenzt: Zahnmedizinerinnen in der fachkulturellen Erinnerung zum Nationalsozialismus

Sektion V: Erinnerungsgemeinschaften

Gunnar Mertz (Wien): Junktimierung von Ehre und Erinnerung in der Geowissenschaft in Österreich: Das Denkmal für Eduard Suess und die Wilhelm von Haidinger-Medaille

Stefan Michels (Mainz): Gegenwartsdeutung und evangelische Erinnerungskultur. Ein kirchenhistorischer Zwischenruf zur Niemöller-Debatte

Anne Oommen-Halbach / Thorsten Hallung (Düsseldorf): Konkurrierende Erinnerungsgemeinschaften: Die posthume Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (1972) an Janusz Korczak