Die Herrnhuter Brüdergemeine als Faktor für religiöse und kulturelle Innovation im 18. Jahrhundert

Die Herrnhuter Brüdergemeine als Faktor für religiöse und kulturelle Innovation im 18. Jahrhundert

Organisatoren
Wolfgang Breul, Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Mainz; Christer Ahlberger, Department of Historical Studies, University of Gothenburg; Peter Vogt, Studienleiter der Evangelischen Brüderunität, Herrnhuter Brüdergemeine
Ort
Herrnhut (Oberlausitz) und digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.11.2021 - 21.11.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Lubina Mahling, Sorbisches Institut, Bautzen; Marita Gruner, Theologische Fakultät, Universität Rostock

Die Brüdergemeine in Herrnhut ist eine der einflussreichsten Gemeindegründungen der Frühen Neuzeit; weltweit finden sich Gemeinorte und Missionsstationen, die von der Gemeinde in der Oberlausitzer Kleinstadt aus gegründet worden sind. Eine interdisziplinäre Tagung fragte nun nach den religiösen und kulturellen Innovationen, die 1722 zur Gründung Herrnhuts geführt und in den Siedlungen der Brüdergemeine erprobt und gelebt wurden.

Wie fruchtbar der so gesetzte Zugang und wie groß das internationale Forschungsinteresse an Herrnhut momentan ist, davon zeugten 39 Vorträge in vier Sektionen. Die klassischen Pfade der kirchen- wie frömmigkeitsgeschichtlichen Fragestellungen verlassend, spiegeln diese die weite thematische und methodische Öffnung der Herrnhut- bzw. Pietismusforschung der letzten Jahre wider. So bot die Tagung eine Fülle an neueren Zugängen aus der Natur-, Geschlechter- oder Wirtschaftsgeschichte, der Linguistik wie Literaturkritik. Nicht alle Vorträge sollen und können hier vorgestellt werden, Ziel ist es vielmehr, einen thematischen Einblick in die Tagung und aktuelle Herrnhutforschung zu geben.

Im ersten Teil stand die angestrebte Verbundbewerbung Herrnhuts, gemeinsam mit den Siedlungen Christiansfeld (Dänemark) und Bethlehem (PA, USA), zum Weltkulturerbe im Mittelpunkt. Der schlichte „Herrnhuter Barock“, eine einheitliche Siedlungsgestaltung, die hochqualitative handwerkliche Ausführung sowie der Versuch, moderne städtische Formen in den ländlichen Raum zu übertragen, kennzeichnen diese wie weitere Herrnhuter Siedlungen. Grundlage der spezifischen baulichen Anlage bilden zwei zentrale Prinzipien der Brüdergemeine, Egalität und Kommunität. Bei näherem Hinsehen sind jedoch in Bezug auf den Bau (ebenso wie in anderen Bereichen der Brüdergemeine, wie weitere Vorträge zeigten) hierarchische Strukturen sowie Spannungen zwischen Individualität und Kommunität festzustellen. rIdeal und Wirklichkeit in ihrer Komplexität genauer herauszuarbeiten, wird Aufgabe künftiger Forschung sein.

Dass kommunitäre Ausrichtung und eigenständiger Siedlungsbau letztlich Ausdruck im Umfeld der Gemeindegründung virulenter utopischer Vorstellungen sind und „Utopie“ eine hilfreiche analytische Kategorie sein kann, wenn man sich dem besonderen Charakter der Brüdergemeine im 18. Jahrhundert nähern möchte, stellte PETER VOGT (Herrnhut) in seiner Keynote heraus. Mehr als die radikal(-pietistische) Prägung, die sich zu den Wurzeln wendet, sei es der utopische Blick in die Zukunft, der die Brüdergemeine zu einer innovativen Gemeinschaft machte. Daran anknüpfend stellte auch PETER ZIMMERLING (Leipzig) in einer weiteren Keynote den kommunitären Grundzug der Brüdergemeine heraus, die er als Kommunität innerhalb der lutherischen Kirche interpretierte. Zinzendorf habe unter Einbezug philadelphischer Ideen die lutherische Ekklesiologie weiterentwickelt und ökumenisch geöffnet. In schon fast moderner Weise verstand er Ökumene als die Einheit in der Mannigfaltigkeit und entwickelte daraus eine positive Haltung gegenüber den Konfessionen. Zinzendorf als Kind der Empfindsamkeit und Organisator empfindsamer Religion stand im Mittelpunkt der Keynote von MARKUS MATTHIAS (Amsterdam). Für Zinzendorf sei die Empfindung das zentrale religiöse Wissensmedium, ein wesentlicher Punkt, in dem er mit Vertretern der Empfindsamkeit übereinstimme.

Zwei weitere Keynotes widmeten sich der Brüdergemeine als wandernder Gemeinschaft. WOLFGANG BREUL (Mainz) stellte Zinzendorfs Konzept der Diasporaarbeit vor, in dem sich radikalpietistische Ideen wiederfinden und das auf die Pflege der Erweckten unterschiedlicher religiöser Prägung abzielte. Dieses Konzept war sehr erfolgreich und prägte viele Landeskirchen bis ins 19. Jahrhundert hinein. In entferntere Gebiete führte dagegen GISELA METTELE (Jena). Im Mittelpunkt ihres Vortrags stand das Schiff als heterotopischer Ort der Gemeine. Führende Persönlichkeiten, Missionar:innen, Händler und Siedler:innen der Brüdergemeine brachen im 18. Jahrhundert zu regelmäßigen Atlantiküberfahrten auf, und schon bald setzte die Brüdergemeine auch eigene Schiffe ein. Sind Seereisen häufig Orte des Transits und der Transformation, so versuchte die Brüdergemeine ebendies zu verhindern. Es galt, Fremdeinflüsse an Bord weitestgehend zu unterbinden und ein größtmögliches Kontinuum des (religiösen) Lebens während der Reise in Form einer „Seegemeine“ zu gewährleisten, um den Einklang der Glaubenspraxis in den global verstreuten Ortsgemeinen sicherzustellen.

Zahlreiche in den Keynotes angesprochenen Fragen und Probleme wurden in Sektionsvorträgen komplementiert und vertieft. So widmete sich Sektion I der Theologie, Ekklesiologie und Frömmigkeit der Brüdergemeine. Fokussiert wurden dabei vor allem die innereuropäischen Geschicke der Gemeine, so etwa in Genf, Franken, Livland, London, Polen, Russland und Württemberg. Hier wie dort musste die Brüdergemeine zwischen politischen Zwängen bzw. Anforderungen und konfessioneller Konkurrenz agieren. So arbeitete beispielsweise BEATA PASKEVICA (Riga) anhand des Lebenslaufs von Friedrich Bernhard Blaufuß (1697–1756) die Spannungsfelder zwischen russischer Obrigkeit und lettischer Bevölkerung sowie zwischen Lutheranern und Pietisten unterschiedlicher Prägung heraus, die die Arbeit der Herrnhuter in Livland bestimmten.

Sektion II nahm den kulturellen Wandel und die Ausprägung eigener sozialer und religiöser Lebensformen in den Blick. Thematisiert wurde unter anderem der Einfluss der Brüdergemeine auf Sprachentwicklung, (Naturalien-)Handel, Wirtschaft und Wissensvermittlung. Weitere Vorträge widmeten sich den neuen, in der Brüdergemeine geprägten Lebensformen wie etwa der Lebenspraxis von Frauen in der Unitätsältestenkonferenz und im ledigen Schwesternchor. So berichtete CHRISTINA PETTERSON (Christiansfeld) über die Erwerbsarbeit im ledigen Schwesternchor in Christiansfeld, einem der ersten Orte in Dänemark, an dem weibliche Erwerbsarbeit praktiziert wurde. Trotz der propagierten Egalität spielten jedoch auch hier Hierarchien eine Rolle, an deren unterstem Ende die Spinnerinnen standen, ein Befund, der in Fallstudien für einzelne Gemeinen sowie in globaler Perspektive vertieft werden sollte.

Die Vorträge von Sektion III zur Mission, Diaspora und globalen Vernetzung thematisierten das Wirken der Brüdergemeine in Süddeutschland, der Nordschweiz, der sorbischen Lausitz, in den Niederlanden, in Suriname und Nordamerika. BARBARA BECKER-CANTARINO (Austin, TX) stellte am Beispiel der Missionssiedlungen im heutigen Ohio die Frage, ob es im Nordamerika des 18. Jahrhunderts Alternativen zur Vertreibung und Vernichtung der Indigenen gegeben habe. Mit Rücksicht auf die versuchte konstruktive Zusammenarbeit der Herrnhuter mit verschiedenen Parteien vor Ort tendierte sie zu einem eingeschränkten „Ja“, wies aber zugleich auf den utopischen Charakter des von den Herrnhutern praktizierten Modells hin. Deutlich wurde in den Vorträgen der Sektionen II und III, dass im Hinblick auf (post)koloniale Fragestellungen zur Missionsarbeit der Brüdergemeine vor allem bei Themen wie Herrschaftsstrukturen, reges Spendenwesen, internationaler Warenverkehr und Naturalienhandel noch enormer Forschungsbedarf besteht.

Sektion IV lenkte den Blick schließlich auf die Wirkungsgeschichte und Rezeption der Brüdergemeine. Hier ging es zum einen um den enormen Einfluss der Herrnhuter auf europäische Wissensbestände, etwa über die Arktis, und auf Kunst und Kultur, so beispielsweise auf Musik und Fotografie in Estland. Zum anderen wurden Fragen, Methoden und Möglichkeiten der Digital Humanities für die Herrnhutforschung diskutiert. Zentrum und Vorreiterin ist hier die Forschungsgruppe um KATIE FAULL (Lewisburg, PA) an der Bucknell-University in Pennsylvania mit ihrem Portal moravianlives. Die Digitalisierung der „Herrnhuter Lebensläufe“, so Faull, entspricht dabei dem öffentlichen wie fluiden Charakter dieser Texte, die von Beginn an zahlreiche Transformationen erfuhren. An die Erfahrungen in den USA anknüpfend, versucht eine neuere Initiative rund um ALEXANDER LASCH (Dresden) Herrnhutforschung im digitalen Raum zu bündeln. Im Mittelpunkt des interdisziplinären Zusammenschlusses verschiedener Akteur:innen in und um Dresden steht das Forschungshub Digital Herrnhut, das neben der Vernetzung von Forschenden wie Forschungsvorhaben auf das Aufbereiten und Darstellen von Forschungsdaten abzielt.

Damit ist ein wichtiger Schritt in Richtung Zukunft unternommen, denn auch die Herrnhut- wie Pietismusforschung wird nicht umhinkommen, sich Fragen, Möglichkeiten und Methoden der Digital Humanities zu stellen. Innovationsfreude und Globalität der Brüdergemeine im 18. Jahrhundert können hier wegweisend für die Forschung im 21. Jahrhundert sein. Zahlreiche Fragestellungen, die im Rückgriff auf digitale Methoden fruchtbar bearbeitet werden können, wurden in den Vorträgen und Diskussionen der Tagung offengelegt. So harrt beispielsweise die Frage nach dem Einfluss der Brüdergemeine auf Erweckungsbewegungen und nationale Bestrebungen im 19. Jahrhundert weiter der Beantwortung. Darüber hinaus wird es wichtig sein, die Binnenperspektive der Gemeine zu verlassen und den Blick von außen zu integrieren sowie Positionen (vermeintlicher) Randgruppen einzubeziehen. Kommende Forschungen werden zeigen, wie weit es gelingt, die Impulse eines breiten kulturgeschichtlichen Zugangs zur Herrnnhutforschung, der sich in den letzten Jahren etabliert hat, zu verstetigen, ohne klassische Themen der Kirchen- und Theologiegeschichte zu vernachlässigen.

Konferenzübersicht:

Workshop Welterbeantrag

Friederike Hansell (Dresden): Herrnhuter Siedlungen als Welterbe. Vergleichende Analyse und Bewerbungshintergrund

Tine Reeh (Kopenhagen): The Moravian factor? A Danish historiographical debate on heritage

Ulrike Carstensen (Bonn): Innovative Konzepte in Architektur und Stadtplanung der Herrnhuter

Keynotes

Peter Zimmerling (Leipzig): Doch ein Luther redivivus? Der Einfluss Luthers auf Zinzendorfs Ekklesiologie

Markus Matthias (Amsterdam): Empfindsame Religion – Zinzendorfs theologie- und kulturgeschichtliche Bedeutung

Peter Vogt (Herrnhut): Herrnhut als christliche Sozialutopie

Wolfgang Breul (Mainz): Diaspora – theologisches Konzept und Praxis der Herrnhuter Brüdergemeine

Gisela Mettele (Jena): Transit und Transformation. Die Gemeine auf der Reise

Abendvortrag

Dietrich Meyer (Herrnhut): Zinzendorf, Friedrich der Große und die Brüdersiedlungen in Schlesien

Sektion I: Theologie, Ekklesiologie und Frömmigkeit

Peter Lauber (Bern): Der Genfer Brief im Kontext der Geschichtsschreibung der Alten und Erneuerten Brüderunität

Rudolf Dellsperger (Bern): Beobachtungen zum theologischen Dissens zwischen Genfer Kirche und Herrnhuter Brüdergemeine

Maciej Ptaszynski (Warschau): Der Consensus Sendomiriensis als eine Tradition der Herrnhuter Brüdergemeinde

Joachim Jacob (Gießen): Zinzendorfs Kinderlieder

Andrey Ryazhev (Elista, Kalmykia): Between friends and foes: the Baltic nobility, Herrnhuter and Russian authorities, 1743–1744 (according to investigation materials from Livland and St. Petersburg)

Beata Paskevica (Riga): Der Lebenslauf des Halleschen Pietisten Friedrich Bernhard Blaufuß (1697–1756) im Lichte der Apologie der livländischen Mission der herrnhutischen Brüdergemeine

Craig Atwood (Bethlehem/PA): Zinzendorfs Londoner Predigten

Benedikt Brunner (Mainz): Regionale Wirkungen Zinzendorfs. Kritische Aneignungen und Modifikationen in Württemberg und Franken

Sektion II: Kultureller Wandel und die Ausprägung eigener sozialer und religiöser Lebensformen

Christer Ahlberger (Göteborg), Martin Åberg (Karlstad): Peddling and Moravianism in rural Sweden 1750–1850. On migration and innovation

Thomas Dorfner (Aachen): Mammon für die Mission. Die Spendenakquise der brüdereigenen „Society for the Furtherance of the Gospel“ (1766–1815)

Paul Peucker (Bethlehem/PA): Lot und Abraham auf dem Hutberg: die Trennung von Berthelsdorf und Herrnhut

Sigrid Nielsby Christensen (Kopenhagen): Individuality and community in the Moravian Society in Copenhagen – and beyond

Marita Gruner (Rostock): Die Ehefrauen „in“ der Unitätsältestenkonferenz im 18. Jahrhundert

Alexander Lasch (Dresden): Mit Sprache Welt gestalten. Herrnhuter:innen als Beobachter:innen

Jon Petter Heesch (Oslo): „Metaphors unchained” exploring the use of metaphor in the thirty-four homilies on the Litany of the Wounds

Christina Petterson (Kopenhagen): Women’s labour in the Christiansfeld archives

Thomas Ruhland (Halle/Saale), Richard Ehrlacher (Dresden): Globale Mission und Naturerfahrung – die Akademie der Herrnhuter in Barby und ihr Herbarium einst und jetzt

Sektion III: Mission, Diaspora und globale Vernetzung

Klaus vom Orde (Leipzig): Die Diasporaarbeit und ihr Einfluss im Südwesten Deutschlands und in der Nordwestschweiz, vor allem im 19. Jahrhundert – eine Annäherung

Lubina Mahling (Bautzen): Missionsraum Lausitz. Die sorbische Missionsbewegung zwischen globaler Ausrichtung und nationaler Mobilisierung

Barbara Becker-Cantarino (Austin): Herrnhuter Missionssiedlungen in den englischen Kolonien Nordamerikas im 18. Jahrhundert: ein transkulturelles Modell für eine christliche Gemeinschaft im Zeitalter des Kolonialismus

Jessica Cronshagen, Jonas Schwiertz (Oldenburg): „Leichte Vögel“ oder „Indianische Stadtbewohner“. Diskussionen um Sesshaftigkeit in der Surinammission der Brüdergemeine (1765–1808)

Fred van Lieburg (Amsterdam): The Dutch participants in the international network of the Herrnhut Predigerkonferenz, 1777–1825

Christoph Beck (Gnadau): Das Gewebe der Gemeine. Muster der Kommunikationsstruktur in der Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine

Sektion IV: Wirkungsgeschichte und Rezeption

Joanna Kodzik (Berlin): Das herrnhutische Wissen über die europäische Arktis (Grönland, Island, Lappland) und die deutschsprachige Gelehrtenwelt im 18. Jahrhundert

Christian Holtorf (Coburg): Kleinschmidts Karten: der Beitrag eines Herrnhuters zur Erschließung Grönlands

Aira Võsa (Tallinn): Die Brüdergemeine als Wegweiser zu dem kulturellen und nationalen Erwachen der Esten am Beispiel der herrnhutischen Musik

Mait Laas (Tallinn): Die Rolle der Brüdergemeine in der estnischen visuellen Kultur. Der Herrnhuter Mihkel Tilk – Vorvater der estnischen nationalen Fotografie

Juan Garcés, Kay-Michael Würzner (Dresden): Fliegel Flügel verleihen. Der Fliegel-Index und Quantitative Prosopographie

Katie Faull (Lewisburg, PA): Experiencing Moravian heritage: sustaining Moravian lives