Der Erste Weltkrieg: Erinnerungskulturen in Deutschland und Australien

Der Erste Weltkrieg: Erinnerungskulturen in Deutschland und Australien

Organisatoren
Silvan Kufner / Anna Saller / Thomas Petraschka, Universität Regensburg; Andreas Dorrer / Christiane Weller, Monash University, Melbourne
Ort
digital (Regensburg)
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.12.2021 - 11.12.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Anna Saller, Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft / Silvan Kufner, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität Regensburg

Die Bedeutung des Ersten Weltkriegs wird in der Erinnerungskultur Deutschlands von der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs verdeckt – im Gegensatz zu einer Nation wie Australien, für die der Erste Weltkrieg im nationalen Selbstverständnis eine zentrale Rolle einnimmt. Erst die Gedenkzeremonien in den Jahren 2014 und 2018, in denen sich Kriegsbeginn bzw. -ende zum hundertsten Mal jährten, brachten den Ersten Weltkrieg wieder verstärkt ins Gedächtnis der deutschen Bevölkerung. In Australien dagegen geht der Gründungsmythos der Nation auf den Ersten Weltkrieg, besonders auf die Schlacht von Gallipoli, zurück, weshalb dem „Great War“, wie er in Australien genannt wird, ein höherer Stellenwert innerhalb der kollektiven Erinnerung zukommt als in Deutschland.

Seit 2020 hat sich eine Kooperation zwischen Forschenden der Universität Regensburg (Thomas Petraschka, Silvan Kufner, Anna Saller) und der Monash University in Melbourne (Andreas Dorrer, Tina Weller) entwickelt, die sich dem Thema intensiv widmet. Ein erstes Ergebnis dieser Arbeit war die Organisation der internationalen und interdisziplinären Tagung, deren Zielsetzung es war, die Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg aus diversen Perspektiven zu beleuchten. Insgesamt gelang eine komparatistische Darstellung der Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg im deutschen und australischen Kontext mit Fragestellungen, wie sie etwa nationale Narrative beeinflusste oder wie Erinnerung an den Krieg produziert und rezipiert wird. Dabei wurden unterschiedliche Stadien (von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis hin zu zeitgenössischen Diskursen) und Arten der Darstellung der Erinnerung (literarisch, historisch, politisch, psychologisch, linguistisch, didaktisch, künstlerisch u.a.) sowie verschiedene Kulturkreise (neben dem deutschen und australischen zum Beispiel auch der türkische und gesamteuropäische) untersucht.

HELMUTH KIESEL (Heidelberg), emeritierter Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, eröffnete die Konferenz mit seiner Keynote zu umstrittenen Heldenbüchern und zur Rezeption deutscher Weltkriegsbücher mit dem Schwerpunkt auf Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ und Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Eine zentrale These war, dass Jüngers Text in einer frühen Rezeptionsphase zur pazifistischen Literatur gezählt und gerade Remarque den Text in diesem Sinne gelesen habe. Erst in einer späteren Phase der Rezeption sei das Werk einseitig bellizistisch gedeutet worden.

Nach diesem Auftakt folgte ein Panel zu Traumata, das GUNDULA GAHLEN (Berlin) eröffnete. Sie analysierte, wie sich die psychische Versehrtheit von Offizieren des Ersten Weltkriegs sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdsicht während der Weimarer Republik darstellte. Psychische Traumata bzw. Kriegsneurosen waren ein vieldiskutiertes Thema dieser Zeit. Aus der Außensicht waren die an Geist und Körper versehrten Veteranen ein sichtbares Zeugnis für die Brutalität an der Front. Die Offiziere, die sich für eine erneute Kriegsmobilisierung als Reaktion auf die Niederlage und die erzwungene Abrüstung einsetzten, betonten hingegen das Heroische des Krieges und schienen sich nur unzureichend mit der eigenen psychischen Versehrtheit auseinandersetzen zu wollen.

Einen Beitrag aus literaturwissenschaftlicher Sicht zum Thema Trauma lieferte SILVAN KUFNER (Regensburg), indem er erneut Ernst Jüngers "In Stahlgewittern" in den Blick nahm. Im Vordergrund stand eine Kritik an psychoanalytischen Interpretationshypothesen, die maßgeblichen Einfluss auf die These hatten, dass Jüngers Text bellizistisch zu lesen sei. Wie ein Text erinnert wird, könne somit an wirkmächtigen Lesarten hängen, die in der Fachdisziplin selbst äußerst umstritten sind.

Es folgte ein Themenkomplex zur nationalen Identität und literarischen und filmischen Darstellung derselben. THOMAS PETRASCHKA (Regensburg) sprach zur Konstruktion und Dekonstruktion der nationalen Identität bei australischen und deutschen Soldaten, indem er vor allem den Begriff Dinkum Diggers beleuchtete. MARTIN GABRIEL (Klagenfurt) analysierte die Darstellung der nationalen Identität in der australischen Miniserie „Gallipoli“ (2015).

Im nächsten Panel ging es um Denkmäler. CHRISTIANE WELLER (Melbourne) gab detaillierte Informationen zu den australischen Avenues of Honour. Dabei handelt es sich um Alleen, in denen jeder Baum einen Soldaten des Ersten Weltkriegs repräsentiert. Neben diesen im deutschen Raum eher unbekannten Baumdenkmälern wurden auch bekanntere Formen des Denkmals behandelt: TOBIAS ARAND (Ludwigsburg) erzählte die Geschichte der deutschen Kriegserinnerung anhand eines Denkmalensembles der württembergischen Garnisonsstadt Ludwigsburg. Arand legte dar, warum die Geschichte des Ersten Weltkriegs nicht ohne Verweise auf den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 erzählt werden könne, und argumentierte insofern für eine Kontinuität der Betrachtung, die mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, was sich gerade am genannten Denkmal nachweisen lasse.

In der zweiten Keynote beleuchtete BRAD WEST (Adelaide), Soziologe der University of South Australia, den „Schlachtfeld-Tourismus“ nach Gallipoli als eine Form der Pilgerfahrt. Sein Fokus lag auf Reisedarstellungen, die bisher kaum beachtet wurden, auf den Schlachtfelderfahrungen und der Gestaltung der Geschichtsdarstellung in Australien, die sich seit 1915 kaum verändert habe.

Es folgte ein Panel zur Darstellung der Kriegserinnerung in Reden, Zeitschriften und im öffentlichen Diskurs. ANNA SALLER (Regensburg) analysierte Reden, die zum 100-jährigen Gedenken des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Australien gehalten wurden. Eine Betrachtung der Metaphern und Metonymien zeigte, wie unterschiedlich das durch den Ersten Weltkrieg geprägte nationale Selbstverständnis in Deutschland und in Australien ist.

AMANDA LAUGESEN (Canberra) untersuchte verschiedene Veteranen-Zeitschriften. Im Zentrum des Vortrags stand die Frage, wie sich die Erinnerung an den Krieg und die Identität der australischen Soldaten sprachlich zeigte und sich so eine Sprache der Erinnerung formte.

Weniger auf die Sprache an sich, sondern mehr auf den Diskurs war ANDREAS DORRER (Christchurch/Melbourne) fokussiert: Er widmete sich den 100-Jahr-Feiern 2018 im deutschen und im australischen Kontext und untersuchte, in welchem Modus sie begangen wurden. Dabei ergaben sich viele Übereinstimmungen mit dem Beitrag von Anna Saller. Hier ist insbesondere die Bedeutung der nationalen Identität in Australien zu nennen, die der übernationalen Europäisierung im deutschen Kontext gegenübersteht. Für den Fokus auf Europa ist insbesondere Frankreich wichtig, da die deutsch-französische Freundschaft gerade vor dem Hintergrund der ehemaligen Feindschaft zwischen diesen beiden Staaten höchst bedeutend ist.

Eine weitere Perspektive eröffnete SEBASTIAN HARTUNG (Regensburg), der beleuchtete, wie der Erste Weltkrieg in den schulischen Lehrplänen behandelt wird. Die Schule sei eine nicht zu unterschätzende Institution, die die Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs und auch die kulturelle Erinnerung daran nachhaltig geprägt habe und präge. Interessanterweise scheint Multiperspektivität und Alteritätserfahrung im Geschichtsunterricht in Australien eine größere Rolle zuzukommen als in Deutschland. Dies mag auch daran liegen, dass der Erste Weltkrieg hier vergleichsweise wenig Raum einnehme. Nichtsdestoweniger spiegelten die Lehrpläne im Großen und Ganzen den Wertekanon der beiden Nationen wider.

CATHÉRINE PFAUTH (Ludwigsburg) griff das Thema der nationalen Identität auf. Sie zeigte Gemeinsamkeiten und Unterschiede der inneren Bildungsprozesse der Nationalstaaten am Beispiel von Denkmälern, Feiertagen und Schulbuchnarrationen auf. Darüber hinaus argumentierte sie, wie auch Tobias Arand, dass der Erste Weltkrieg in Kontinuität zu 1870/71 stehe. Sie erläuterte, inwiefern der zentrale Gedenktag zur Erinnerung an die Kapitulation Napoleons III., der Sedantag, der sich vom Tag der preußisch-militärischen Siegesfeier allmählich zum Feiertag der Reichsgründung wandelte, wesentliche Gemeinsamkeiten zum australischen ANZAC-Day aufweise. Beide Gedenktage erhielten im Laufe der Zeit eine große Bedeutung für das Nationalbewusstsein.

MARTIN BAYER (Berlin) brachte eine neue Perspektive aus der Kunst ein, indem er anhand zahlreicher Gemälde veranschaulichte, wie der Erste Weltkrieg in der deutschen Kunst zum Ausdruck gebracht wurde. Während der Impressionismus die Realität des Krieges nicht hinreichend habe darstellen können, sei es die expressionistische Kunst gewesen, die das neue Ausmaß der Zerstörung adäquater abzubilden vermochte. Anhand verschiedener Maler zeigte Bayer, dass es nie ein einheitliches deutsches Kriegsnarrativ gab und sich die Themen, die Stilrichtungen und auch die intendierten Effekte im Laufe des vergangenen Jahrhunderts veränderten.

Einen weiteren Einblick in die Geschichtsdidaktik lieferte ANDREA BRAIT (Innsbruck), die sich auf deutsche Dauerausstellungen in Militärmuseen „in der Erweiterung“ spezialisierte. Ihr ging es in erster Linie um die Frage, inwiefern ein „deutsches Narrativ“ identifizierbar ist. Ihr Vortrag löste eine Debatte darüber aus, wie Museen für die Zielgruppe „Schule“ gestaltet sein sollten, um für Schülerinnen und Schüler möglichst gewinnbringend und didaktisch sinnvoll zu sein.

PETER DE BOURGRAAF (Amsterdam) rundete die Konferenz mit der Vorstellung seines Projekts aufa 1001 ab. Dieses Projekt widmet sich der Erinnerungskultur der beiden Weltkriege und hat das Ziel, einer transnationalen Geschichtsschreibung und einer gemeinsamen Erinnerungskultur näherzukommen. Er ging auch auf die Frage „ANZAC – und was gab es davor?“ ein und beschrieb die Grundlagen der militärischen Erinnerungskultur in Australien. Schließlich griff er die bis dahin mehrmals angesprochene Kontinuität der Kriege im deutschen Kontext auf und problematisierte nicht zuletzt die konventionelle Datierung des Ersten Weltkriegs auf 1914/1918.

Konferenzübersicht:

Keynote

Helmuth Kiesel (Heidelberg): Umstrittene Heldenbücher: zur Rezeption deutscher Weltkriegsbücher

Gundula Gahlen (Berlin): Psychisch versehrte Offiziere in den Erinnerungsdiskursen an den Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik

Silvan Kufner (Regensburg): Trauma – Panzerung – Humanität. Interpretation und Konstruktion der Erinnerung am Beispiel von Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“

Thomas Petraschka (Regensburg): „Landsknechte“ und „Dinkum Diggers“ – Konstruktion und Dekonstruktion nationaler soldatischer Identität im deutschen und australischen Kriegsroman

Martin Gabriel (Klagenfurt): Krieg und nationale Identität in der australischen Miniserie Gallipoli (2015)

Christiane Weller (Melbourne): Baumsoldaten – Australische „Avenues of Honour“ als belebter Gedächtnisraum zwischen Stadt und Landschaft

Tobias Arand (Ludwigsburg): „Wie Anno 70“ – Eine Geschichte der deutschen Kriegserinnerung erzählt an einem Denkmalensemble

Keynote

Brad West (Adelaide): Journeys to Gallipoli: The role of travel imaginaries, battlefield experience and immobility in the forge of national history in Australia since 1915

Anna Saller (Regensburg): Language use in public speeches commemorating World War I: Germany and Australia compared

Amanda Laugesen (Canberra): Returned servicemen magazines and the shaping of a language of memory, identity, and commemoration in interwar Australia

Andreas Dorrer (Christchurch): 100 Jahre nach Kriegsende: Der Erinnerungsdiskurs in Deutschland und Australien am Beispiel der 100-Jahr-Feiern 2018

Sebastian Hartung (Regensburg): Von der Tradition zur Tradierung – Ein didaktischer Vergleich am Beispiel des Ersten Weltkrieges

Cathérine Pfauth (Ludwigsburg): Mit „festem Blutkitt“ zur Nation – Die Bildung nationaler Identität aus dem Geist des Krieges

Martin Bayer (Berlin): Picturing the Great War – The First World War in German fine arts

Andrea Brait (Innsbruck): Deutsche Dauerausstellungen in Militärmuseen „in der Erweiterung“

Peter de Bourgraaf (Amsterdam): Vorstellung seines Projekts aufa 100 / ANZAC – und was gab es davor? Die Royal Australian Navy und die Grundlagen militärischer Erinnerungskultur in Australien

Anmerkung:
1https://www.aufa100.com/team/