Digital edieren

Organisatoren
Akademieprojekt „Burchards Dekret Digital“, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.04.2022 - 28.04.2022
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Von
Daniel Gneckow, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Universität Kassel

Im Mittelpunkt des Workshops zu digitalen Editionen standen Konzeption, Workflow, technische Umsetzung und Präsentation von Editionen mittelalterlicher Textkorpora, insbesondere zu rechtsgeschichtlichen Themen. Nach der Begrüßung durch Claudius Geisler, den Generalsekretär der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, und der Einführung durch Ludger Körntgen (Mainz) befassten sich die Vorträge der ersten Sektion mit digitalen Präsentationen, Editionsrichtlinien und der Plattform zur Texterkennung Transkribus.

JAN ODSTRČILÍK und LEON PÜRSTINGER (Wien) stellten das Karolingische Minuskel-Projekt vor, das als Teil des an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Kooperationsprojekts „Carolingian Culture in Septimania and Catalonia“ die Handschriften der C-Versionen der Decem Libri Historiarum Gregor von Tours in den Blick nimmt. Zentrales Thema sind die für diese Handschriftengruppe charakteristischen intensiven Überarbeitungen. Die Annotation mithilfe von Transkribus, das sowohl eine manuelle als auch eine automatische Transkription ermöglicht, erlaubt es zum einen, ältere Transkriptionen (etwa MGH SS rer. Merov. 1,1) zu korrigieren, und zum anderen, Bearbeitungsprozesse auf Makroebene wie Veränderungen auf Kapitelebene nachzuvollziehen, um die Abhängigkeiten zwischen den Handschriften zu analysieren. Wie die Referenten veranschaulichten, bietet Transkribus einfache Möglichkeiten, Transkriptionen zu korrigieren, online verfügbar zu machen und kooperativ zu bearbeiten, wobei sie insbesondere Effektivität und Interoperabilität als zentrale Faktoren einer erfolgreichen Nutzung herausstellten.

ANNETTE VON STOCKHAUSEN (Berlin) erläuterte die Ziele des Patristischen Textarchivs (PTA) als Arbeitsinstrument des Akademievorhabens „Die alexandrinische und antiochenische Bibelexegese in der Spätantike“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW). Die Publikationsplattform fungiert als Archiv für Editionen von Texten der christlichen Antike in allen Sprachen sowie für deren Übersetzungen. Der Fokus liegt auf kritischen Editionen mit umfassender Dokumentation der handschriftlichen Überlieferung, um eine bestmögliche Nachvollziehbarkeit der editorischen Entscheidungen zu gewährleisten. Das PTA teilt sich in eine via Open Access verfügbare Daten-Publikation und eine Web-Publikation auf. Als Grundlage für die Codierung der kritischen Edition diente ein eigenes TEI-Schema. Zur Präsentation der Web-Publikation stützt sich das Projekt auf eine Programmierschnittstelle (API) und eine darauf aufbauende Vue.js-Webapp, die vorkonfigurierte Zugänge zu den Texten und ausgewählte Hilfsmittel anbietet. Darüber hinaus betonte von Stockhausen die Notwendigkeit, identische Phänomene in standardisierter Form auszuzeichnen, um Varianzen möglichst gering zu halten und weitere, über den eigenen wissenschaftlichen Horizont hinausreichende Fragestellungen zu berücksichtigen, was die Relevanz des Projekts erhöhe.

Der Rolle von Transkribus im Editionsworkflow der Nürnberger Briefbücher widmeten sich JULIAN KRENZ und MARTIN MAYR (Erlangen). Das Projekt geht der Bedeutung Nürnbergs als Kommunikationszentrum im Reich des 15. Jahrhunderts nach. Innerhalb des Editionsworkflows nimmt Transkribus eine zentrale Rolle ein, denn es dient zur Erstellung von Basistranskriptionen, die die Grundlage für diplomatische Transkriptionen in XML-TEI bilden. Aus ihnen entstehen halbautomatisch normalisierte Textversionen. Während Transkribus das kollaborative Arbeiten erleichtert und sich durch die Möglichkeiten der Versionskontrolle und Exportfunktionen in gängige Formate empfiehlt, erfordern Problematiken bei der Erkennung der Textregionen und der automatischen Zeilenerkennung händisches Eingreifen. Da bei digitalen Editionen im Gegensatz zu klassischen Printeditionen auch die Vorarbeiten Teil der Publikation sind und entsprechenden Mehraufwand verursachen, unterstrichen die Referenten abschließend die beträchtliche Relevanz „infrastruktureller“ Mitarbeitender, um notwendige technische Strukturen bereitzustellen. Zudem hoben sie die Notwendigkeit hervor, die Workflows auf das Endprodukt zuzuschneiden und auch vermeintlich feste Größen innerhalb des editorischen Arbeitsprozesses zu problematisieren, um sich der spezifischen Anforderungen an digitale Editionen bewusst zu werden.

Die zweite Sektion thematisierte das Verhältnis zwischen digitalen und gedruckten Editionen. KARL UBL und DOMINIK TRUMP (Köln) stellten das Akademie-Projekt „Edition der fränkischen Herrschererlasse“ vor, das seit 2014 an der Universität zu Köln angesiedelt ist. Das Projekt erarbeitet eine Neuedition der sogenannten Kapitularien. Kapitularien sind frühmittelalterliche Rechtstexte, die zu den wichtigsten Quellen des 8. und 9. Jahrhunderts gehören. Die Neuedition wird die Ausgabe von Boretius und Krause (1883/97) ablösen und ist als sogenannte Hybridedition angelegt. Das bedeutet konkret, dass es neben einer kritischen Edition in Buchform, die Apparat, Kommentar und deutsche Übersetzung beinhalten wird, eine digitale Edition gibt, die sich zum einen als Forschungsportal versteht und zum anderen Transkriptionen aller Textzeugen bietet. Mit diesem neuen Ansatz geht auch ein neues Verständnis der Kapitularien und ihrer Überlieferung einher. Der Vortrag beleuchtete zum einen die Grundideen des Projekts und zum anderen die technische Realisierung einer Hybridedition, die auf zwei unterschiedlichen technischen Frameworks beruht. Das Framework der Printedition fußt auf dem Classical Text Editor (CTE), während die digitale Edition auf TEI-XML setzt.

Vonseiten der Monumenta Germaniae Historica (MGH) informierte CLEMENS RADL (München) über die Umsetzung von Hybrideditionen. Zählt man die digital vorliegenden dMGH und openMGH nicht mit, liegt bei den MGH bislang noch keine Hybridedition final vor. Das künftige Konzept der Monumenta zu digitalen Editionen sieht vor, dass diese in Qualität und Zuverlässigkeit den Printeditionen gleichkommen sollen. Die Projekte werden regulär in Reihen aufgenommen und nach Bedarf kritisch begleitet und geprüft. Ihrer Verpflichtung zur Nachhaltigkeit kommen die MGH durch Langzeitarchivierung im XML-Format sowie durch eine für Notfälle vorgehaltene PDF-Datei nach. Als sinnvoll für viele Projekte erachtete Radl, Materialien wie etwa Transkriptionen online bereitzustellen, weshalb die MGH verschiedene Hilfsmittel und Datenbanken zu diversen Editionsprojekten auf ihrer Seite verlinken. Zur künftigen Gestalt von Hybrideditionen bei den Monumenta äußerte Radl, dass genaue Standards dafür nicht vorgegeben werden können und sollten, müssen diese doch in Absprache mit den entsprechenden Projekten erst entwickelt werden, um dem jeweils individuellen Bedarf sachgerecht nachkommen zu können. Auch auf technischer Ebene werde die Erstellung von Hybrideditionen Aushandlungssache bleiben, wobei künftig jede Druckedition idealerweise digitale Komponenten aufweisen könnte, um Ergänzungen und Korrigenda zu publizieren.

Im dritten Themenblock ging es um das Projekt „Burchards Dekret Digital“ und Oxygen als Arbeitsumgebung. MICHAEL SCHONHARDT (Kassel) und MICHELA PARMA (Mainz) eröffneten die Sektion mit einem Werkstattbericht, in dem sie die technischen Aspekte des Akademievorhabens erläuterten. Zu den Herausforderungen, die sich bei der Umsetzung einer digitalen Edition der Anfang des 11. Jahrhunderts entstandenen kirchenrechtlichen Sammlung zeigen, zählt vor allem die lebendige und dynamische Textgenese des Dekrets, das sich sowohl direkt als auch indirekt auf eine Vielzahl von Vorlagen stützte. Um diesen Faktoren Rechnung zu tragen, veranschaulichten Schonhardt und Parma die verschiedenen Dimensionen des Projekts: Geplant sind eine Handschriftendatenbank, die Darstellung der Handschriften in Text und Bild, die Erschließung des Textes mitsamt seiner Quellen und der Textgenese, Apparate und API. Zudem gaben sie einen Überblick über den komplexen Workflow und die anvisierten Outputs, zu denen neben dem Print bei den MGH ein Webportal mit Handschriftendatenbank, Transkriptionen und Edition sowie eine Rest-API gehören. Zentrale Elemente des Workflows sind der Import der Handschriftenscans mithilfe von iiif, die automatische Texterkennung in Transkribus mit anschließender manueller Korrektur und Strukturauszeichnung und die Überführung der Daten nach Python.

JULIAN JAROSCH, DOMINIK KASPER und ELENA SUÁREZ CRONAUER (Mainz) gaben einen Einblick in die von der Akademie bereitgestellte Arbeitsumgebung für Editions- und Sammlungsprojekte, insbesondere in den OxygenXML-Editor und eXist-db. Für die Gestaltung der Arbeitsumgebung gilt es zunächst, den Bedarf eines jeden Projekts abzustecken, um zu klären, worin das Ziel der Edition liegt, wie umfangreich sie ist und welche Anforderungen an die Forschungsdaten daraus resultieren. Im Anschluss erläuterten die Referent:innen die Möglichkeiten, die Arbeitsumgebung zu gestalten. Dazu zählen etwa der Oxygen-XML-Editor und eXist-db, eine kostenfrei nutzbare Open-Source-Software, die in der DH-Community weit verbreitet und nicht nur eine Datenbank ist, sondern auch eine Plattform für Webanwendungen. Vorteile des Ersteren sind vor allem Nutzerfreundlichkeit, der Support durch das Entwicklungsteam sowie die durch die weite Verbreitung gewährleistete Interoperabilität; ein Nachteil ist die Kostenfrage. Zu nennen ist ferner Ediarum, eine von der BBAW entwickelte Arbeits- und Publikationsumgebung, die bereits ein Set von Funktionen in benutzerfreundlicher Formularform bereitstellt und aufgrund ihrer Modularität nach Bedarf um neue Funktionalitäten ergänzt werden kann. Ediarum ist nicht nur als All-in-one-Lösung verwendbar, sondern auch in Kombination mit anderen Arbeitsumgebungen. Alternativ dazu ist die Entwicklung einer eigenen Editionsumgebung möglich. Wie die Referent:innen illustrierten, spart die Nachnutzung bereits etablierter Arbeitsumgebungen allerdings entwicklungstechnische und damit zeitliche Ressourcen, zumal sich Projekte zudem auf eine große Community stützen können, um Probleme zu diskutieren und zu lösen.

Die vierte Sektion behandelte die Möglichkeiten der inhaltlichen Erschließung. TIM GEELHAAR (Bielefeld) präsentierte Vorüberlegungen zur Operationalisierung des Projektes „Vergleichende Verfahren – Präzedenzrecht im spätmittelalterlichen England“ im Bielefelder SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens“. Ausgehend von der Grundannahme, dass Präzedenzrecht inhärent vergleichend ist, untersuchte er, welche Vergleichspraktiken vorkommen und wie diese zu klassifizieren sind. Im Gegensatz zu den anderen Projektpräsentationen stand nicht das digitale Edieren, sondern die Nachnutzung und Auswertung von Forschungsdaten im Vordergrund. Dazu wird das Quellenmaterial – die Lehrschriften des Bracton und die year books für 1268 bis 1377 – mittels der Vorverarbeitungspipeline nopaque (nopaque.uni-bielefeld.de) in Textdaten überführt. Anschließend werden diese in die Annotationsumgebung CATMA (catma.de) der Technischen Universität Darmstadt eingespeist. Entscheidend ist die Modellierung der zu untersuchenden Praktiken im Gerichtsverfahren, insbesondere der darin vorkommenden Vergleichspraktiken. Dieses lässt sich mit CATMA kollaborativ auf die Texte anwenden, was allerdings fast vollständig manuell geschehen muss. Die so gewonnenen Forschungsdaten sollen später exportiert und mithilfe von Graphentechnologie visualisiert und ausgewertet werden.

Abschließend stellten ANDREAS KUCZERA (Gießen) und Schwester MAURA ÉVA ZÁTONYI (Eibingen) ihr Projekt zu den zwischen 1146/47 und 1179 entstandenen Briefen der Hildegard von Bingen vor. Eine besondere Herausforderung bei der digitalen Edition der mehr als 900 Briefe von und an Hildegard, die in sechs Briefsammlungen überliefert sind, ist deren äußerst unterschiedlicher Umfang. Entgegen unserem modernen Verständnis spielen Ort und Datum der Verfassung keine Rolle, denn die Briefe sind als literarische Werke zu verstehen. Alle sechs Handschriften haben aufgrund ihrer jeweiligen Spezifika, etwa des genannten Personenkreises, einen Eigenwert, weshalb sie jeweils individuell zu erschließen sind. Kuczera und Zátonyi veranschaulichten den Workflow ihres Projekts, im Rahmen dessen zunächst Transkriptionen unter Verwendung des Leidener Klammernsystems in Plain Text erstellt und dann in Codex überführt werden, einer Standoff-basierten Annotationsumgebung, die im Gegensatz zu XML überlappende Auszeichnungen erlaubt. Das Projekt bedient sich der Semantik von TEI, ohne XML zu verwenden. Grundlage für die graphbasierte Editionsumgebung ist neo4j. Ergebnis der ersten Projektphase ist eine digitale Edition des Liber epistolarum mit entwicklungsgeschichtlicher Analyse.

Die Workshop-Beiträge und die intensiven Diskussionen gaben einen Überblick über die Chancen und Herausforderungen digitaler Editionstätigkeit. Deutlich traten auf der einen Seite die gemeinsamen Probleme und Schwierigkeiten der verschiedenen Projekte zutage, insbesondere hinsichtlich der Entwicklung effizienter Workflows und flexibler digitaler Arbeitsumgebungen und des Strebens nach einer zukunftsorientierten Gestaltung der Editionen, die auch für künftig aufkommende Fragestellungen offen sein sollen. Auf der anderen Seite demonstrierten die Beiträge die enorm vielgestaltigen technischen Lösungsansätze, die von Umfang, Laufzeit, Gegenstand, Zielsetzung und nicht zuletzt den personalen Ressourcen des jeweiligen Editionsprojekts abhängen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Claudius Geisler, Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz

Ingrid Baumgärtner / Klaus Herbers / Ludger Körntgen, Akademieprojekt „Burchards Dekret Digital“

Sektion 1: Digitale Präsentation, Editionsrichtlinien und Transkribus
Moderation: Klaus Herbers (Universität Erlangen)

Jan Odstrčilík / Leon Pürstinger (Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften): Das Karolingische Minuskel-Projekt: Möglichkeiten und Herausforderungen für die Anwendung von Transkribus

Annette von Stockhausen (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin): Modellierung und Präsentation von kritischen digitalen Editionen am Beispiel des Patristischen Textarchivs (PTA)

Julian Krenz / Martin Mayr (Universität Erlangen): Transkribus im Editionsworkflow der Nürnberger Briefbücher

Sektion 2: Verhältnis von Digital und Druck – Hybrideditionen?
Moderation: Ingrid Baumgärtner (Universität Kassel)

Karl Ubl / Dominik Trump (Universität Köln): Capitularia. Die Edition der fränkischen Herrschererlasse zwischen Buch und Datenbank

Clemens Radl (Monumenta Germaniae Historica, München): Die Umsetzung von Hybrideditionen bei den MGH

Sektion 3: Burchards Dekret Digital und Oxygen als Arbeitsumgebung
Moderation: Melanie Panse-Buchwalter (Universität Kassel)

Michael Schonhardt (Universität Kassel) / Michela Parma (Universität Mainz): Burchards Dekret Digital – ein Werkstattbericht

Julian Jarosch / Dominik Kasper / Elena Suárez Cronauer (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz): OxygenXML-Editor und eXist-db – Einblicke in eine moderne Arbeitsumgebung für Editions- und Sammlungsprojekte der Akademie

Sektion 4: Möglichkeiten der inhaltlichen Erschließung
Moderation: Ludger Körntgen (Universität Mainz)

Tim Geelhaar (Universität Bielefeld): Mittelalterliche Rechtspraktiken computergestützt analysieren. Modellieren, Annotieren, Auswerten in der Forschungspraxis

Andreas Kuczera (Technische Hochschule Mittelhessen, Gießen) / Schwester Maura Éva Zátonyi (St. Hildegard-Akademie Eibingen): Das Buch der Briefe der Hildegard von Bingen. Genese – Struktur – Komposition


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