50 Jahre Gebietsreform 1972-2022. Arbeitstagung der historischen Vereine, Heimatvereine und Museen in Schwaben

50 Jahre Gebietsreform 1972-2022. Arbeitstagung der historischen Vereine, Heimatvereine und Museen in Schwaben

Organisatoren
Heimatpflege des Bezirks Schwaben; Historischer Verein für Schwaben
Veranstaltungsort
Pfarrzentrum St. Michael, Aichach
PLZ
86551
Ort
Aichach
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
25.06.2022 -
Von
Corinna Malek, Heimatpflege, Bezirk Schwaben

Die Arbeitstagung fand erstmals seit 2019 wieder statt. Ganz unbeeinflusst von Corona blieb die traditionell gemeinsame Veranstaltung der Bezirksheimatpflege Schwaben und des Historischen Vereins für Schwaben nicht, fand sie doch nicht wie üblich Ende Januar in Irsee statt. Bei sommerlichen Temperaturen tagten die Teilnehmer an der äußersten Grenze des Bezirks Schwaben, in Aichach. Ein Grund für die Auswahl des Ortes war auch das Thema, dem sich die Tagung widmete: das 50jährige Jubiläum der bayerischen Kreisgebietsreform. Diese hatte 1972 zu einer völligen Umstrukturierung der bayerischen Landkreislandschaft geführt. Neu in diesem Jahr war auch das Format der Tagung, das durch die Workshopsequenz und das Zeitzeugengespräch einen stärkeren partizipativeren Ansatz verfolgte.

Nach den Begrüßungen von Vertretern der Stadt Aichach und des Landkreises Aichach-Friedberg sowie der beiden Veranstalter, Christoph Lang für die Bezirksheimatpflege und Gisela Drossbach für den Historischen Verein für Schwaben, eröffnete GÜNTHER KRONENBITTER (Augsburg) mit seinem Impulsvortrag die Vormittagssektion der Tagung. Kronenbitter stellte fest, dass die Gebietsreform ein sehr spezielles Thema sei, dem man sich am besten über einen persönlichen Bezug nähere. Ein untrügliches Erinnerungszeichen an die Gebietsreform und ihre Auswirkungen fände sich auf Autokennzeichen, die als „Botschaften auf Blech“ die Erinnerung an die Altlandkreise wachhielten. Anhand der Fragen nach Räumen, Zeiten und Erinnerungen begab er sich auf die Spurensuche nach der Gebietsreform in unserem heutigen Bewusstsein. Er legte dar, wie das Abgrenzen imaginärer „mental maps“ die jeweilige Zeit und die Erinnerung an bestimmte Ereignisse beeinflusse und bis in die Gegenwart nachwirke. Dies bestimme den heutigen Umgang und Deutung der Gebietsreform mit, insbesondere im lokalen Raum.

Anschließend berichteten die Zeitzeugen RUPERT REITBERGER (Hollenbach), PETER FEILE (Friedberg) und ALFRED SIGG (Wertingen) in einer Podiumsdiskussion über die damaligen Ereignisse. Alle drei hatten nicht nur die Gebietsreform auf kommunalpolitischer Ebene miterlebt, sondern hatten diese auch selbst aktiv mitgestaltet. Aus ihren persönlichen Erinnerungen als Kreisräte für den 1972 neu geschaffenen Landkreis Aichach-Friedberg berichteten Reitberger und Feile, wie sich der neue Landkreis erst finden musste. Die gegenseitige Rivalität zwischen Friedbergern und Aichachern zeigten sich auch in den Debatten im Kreistag und im Wetteifern um den Sitz der Landkreisverwaltung sowie die Position des Landrats. Ähnliches berichtete Alfred Sigg aus dem Kreistag für den neu gegründeten Landkreis Dillingen, dem der Großteil des Altlandkreises Wertingen im Zuge der Reform zugeschlagen worden war. Durch den zeitlichen Abstand von 50 Jahren habe sich auch ihr heutiger Blick auf die Reform teilweise verändert, so die drei Zeitzeugen. Über die Notwendigkeit der Reform waren sich Feile und Reitberger bereits in den 1970er-Jahren einig, diese Einschätzung bestätige auch ihr heutiger Blick auf die damals beschlossenen Veränderungen. Auch Sigg sagte, dass er heute mit der Reform versöhnt sei und die Vorteile und Verbesserungen anerkenne, die diese doch gebracht habe. Intensiv diskutiert wurde auch die Frage nach einer schwäbischen bzw. lokalen Identität. Lokale Identitäten, geäußert auf Kennzeichen oder in anderer Form, nähmen, so die Beobachtung der Zeitzeugen, besonders unter der jüngeren Generation wieder vermehrt zu. Eine schwäbische Gesamtidentität sei jedoch nicht zu beobachten, besonders im Aichacher Raum bestünde eine solche bis heute nicht, vielmehr habe sich das Verständnis, „Altbayern in Schwaben“ zu sein, in der Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt. Diese besondere Identität trüge auch dazu bei, sich mit den Folgen der Gebietsreform versöhnen zu können.

Der Nachmittag bestand aus zwei Sektionen. Zunächst wurde mit mehreren Vorträgen der Blick auf die Gebietsreform und ihren Niederschlag innerhalb von Archiven, Ausstellungen, Heimatvereinen und aus der Sicht der Verwaltung thematisiert. Anschließend an die Vorträge band man die Tagungsteilnehmer in drei Gesprächs-Workshops mit ihren persönlichen Erfahrungen und Perspektiven auf die Gebietsreform ein.

Die Vortragssektion eröffnete RAINER JEDLITSCHKA (Augsburg) mit einem Einblick in die vielfältigen Quellen, die sich zur Gebietsreform in den staatlichen und kommunalen Archiven erhalten haben und welche Voraussetzungen für ihre Benutzung bestehen. Anhand der bayerischen Archivtektonik schlüsselte der Referent hierarchisch abwärts, ausgehend vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv bis zur untersten Ebene kommunaler oder gemeindlicher Archive, die verschiedenen Quellenbestände auf und erläuterte deren Besonderheiten. Darüber hinaus wies Jedlitschka auf besondere Sammlungsbestände hin, die bei einer Recherche nicht außer Acht gelassen werden sollten. Diese fänden sich meist in privaten Archiven, beispielsweise von Parteien oder Vereinen, und seien nicht Teil der staatlichen und kommunalen Behördenüberlieferung, wodurch sie außerhalb des Sammlungsauftrags staatlicher Archive lägen. Gleichwohl seien diese für die Thematik von großer Bedeutung.

Wie sich ein abstraktes Thema, wie die Gebietsreform, museal darstellen lässt, darauf ging der Vortrag von WOLFGANG REINICKE (Regensburg) ein. Da der Referent leider erkrankt war, übernahm Christoph Lang die Präsentation. Unter der Leitfrage, wie eine Verwaltungsreform im Museum ausgestellt werden könnte, zeigte der Vortrag verschiedene Präsentationmöglichkeiten auf. Da sich die Suche nach Objekten bei diesem Thema schwierig gestalte, böten sich insbesondere im digitalen Raum viele Möglichkeiten für eine ansprechende museale Aufbereitung. Darüber hinaus sollte man sich kreativ auf die Suche nach Objekten begeben, insbesondere nach solchen, die für eine Ortszugehörigkeit oder den speziellen Zeitabschnitt der 1970er-Jahre stünden, beispielsweise alte Ortsschilder oder die Büroeinrichtung dieser Zeit. Ebenso besäßen Audio- und Videomaterial, beispielsweise Zeitzeugeninterviews, enormes Potential für eine solche Ausstellungskonzeption und sollten unbedingt berücksichtigt werden.

Wie sich die Gebietsreform auf die Heimatvereine in Schwaben auswirkte, untersuchte THERESA HAUCK (Augsburg). Basierend auf einer derzeit durchgeführten Erhebung über die vorhandenen Heimatvereine in Schwaben, berichtete die Referentin anhand von drei Beispielen über die Auswirkungen der Gebietsreform auf die Struktur der Heimatvereine nach 1972 sowie die Probleme, die sich bei der Erhebung der Daten derzeit ergäben. Da Heimatvereinen immer eine identitätsstiftende Funktion zukomme, blieb auch die Gebietsreform nicht ohne Auswirkungen auf die Vereine und ihre Vereinszwecke bzw. ihren Wirkungskreis. So vergrößerte sich beispielsweise für den 1949 in Neusäß gegründeten Heimatverein für den Landkreis Augsburg über Nacht das Zuständigkeitsgebiet, was sich in den Jahren nach 1972 vor allem in der Konzeption der Beiträge der eigenen Vereinspublikation widerspiegelte. Für die Heimatvereine Aichach und Friedberg veränderte die Gebietsreform das Forschungsfeld nachhaltig. Als verbindendes Element zwischen Alt- und Neulandkreis publiziert der Landkreis Aichach-Friedberg das Jahrbuch „Altbayern in Schwaben“. Mit dem dritten Beispiel des Heimatvereins Reischenau, der sich als Reaktion auf die veränderten Verhältnisse nach 1972 neu konstituierte, zeigte Hauck, einen weiteren Effekt auf die veränderte Situation nach 1972. Sie schränkte jedoch ein, dass Vereinsneugründungen, auch wenn diese in Reaktion auf die veränderten Strukturen stattfanden, doch eher selten vorkamen.

Zum Abschluss des Vortragsblocks warf WOLFGANG BRANDNER (Aichach) noch einen Blick auf die Bedeutung der Gebietsreform für die Verwaltung und ihre tägliche Arbeit. Anhand des Beispiels des neu geschaffenen Landkreises Aichach-Friedberg schilderte der Referent, der selbst beruflich aus dem Verwaltungsbereich kommt, die Schwierigkeiten und Hürden, die im täglichen Verwaltungshandeln nach Durchführung der Reform bestanden und überwunden werden mussten. Besonders die Herausforderung zwei bis 1972 völlig voneinander unabhängig arbeitenden Verwaltungen zu einer gemeinsamen Kreisverwaltung zu verbinden und an einem Ort zu lokalisieren, bestimmten den beruflichen Alltag der Angestellten bis Ende der 1970er-Jahre. Darüber hinaus erhielt die Verwaltung durch die Reform eine Vielzahl an neuen Aufgaben, denen sie sich ebenfalls stellen musste.

Im Anschluss an die Vorträge wurden die Anwesenden in drei Workshopgruppen eingeteilt. Ziel der Workshoparbeit war es, im Plenum die individuellen Erfahrungen, Erinnerungen und Einschätzungen an die Gebietsreform zu diskutieren und anschließend zusammenzutragen. Ausgehend von der Frage der jeweiligen Autokennzeichen entwickelten sich in allen drei Gruppen ertragreiche Diskussionen, aus denen deutlich wurde, dass bis heute an vielen Orten die jeweilige Identität durch die Folgen der Gebietsreform geprägt ist. Auch zeigte die Diskussion, dass Fragen der lokalen Identität in der Gegenwart wieder mehr an Bedeutung gewinnen und besonders betont würden. Darüber hinaus konnte anhand der Gespräche erarbeitet werden, dass ein Zusammenwachsen bereits in vielen Bereichen funktioniert habe, aber dennoch in manchen Bereichen noch Differenzen zwischen Gefühl und Identität und dem realen Verwaltungszuschnitt der Gemeinden bestünden. Gleichwohl ergab die Diskussion auch, dass viele positive Entwicklungen, von denen man heute profitiere, ohne die Gebietsreform schwer zu realisieren gewesen wären, beispielsweise der Ausbau lokaler Infrastrukturen.

Zum Abschluss der Veranstaltung fasste Christoph Lang nochmals die Ergebnisse zusammen. Die Tagung habe gezeigt, dass die Gebietsreform auch nach 50 Jahre noch ein bewegendes Thema sei, das vielerorts nach wie vor eine Rolle für die eigene Identität spiele. Es wurde deutlich, dass die Reform auch noch viele Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen biete. Ein Vorteil hierfür sei die noch große Zahl an Zeitzeugen und Akteuren der Reform, die hierzu noch befragt werden können. Auch zeigte sich Lang erfreut, dass das neue Format, das die Tagung in diesem Jahr erprobte, so positiv von den Teilnehmern angenommen wurde und sich diese rege daran beteiligten. Die regen Diskussionen in den Gruppen zeigten, dass beim gewählten Thema noch Redebedarf bestünde, auch über Schwaben hinaus. Erfreut waren die Veranstalter, dass das neue, stärker auf Partizipation ausgerichtete Format so positiv von den Anwesenden mit Leben gefüllt wurde. Die sich daraus ergebenden spannenden und kontroversen Diskussionen und Wortmeldungen hätten gezeigt, dass sich ein solches Format auch für zukünftige Veranstaltungen bewähre.

Konferenzübersicht:

Christoph Lang (Augsburg) / Gisela Drossbach (Augsburg): Begrüßung

Günther Kronenbitter (Augsburg): Impuls-Referat "50 Jahre Kreisgebietsreform"

Rupert Reitberger (Hollenbach) / Peter Feile (Friedberg) / Alfred Sigg (Wertingen): Podiums-Gespräch mit Zeitzeugen zur Gebietsreform

Rainer Jedlitschka (Augsburg): Die Gebietsreform aus Archivsicht

Wolfgang Reinicke (Regensburg): Die Gebietsreform in der Ausstellung

Theresa Hauck (Augsburg): Gebietsreform und Heimatvereine

Wolfgang Brandner (Aichach): Die Gebietsreform aus Sicht der Verwaltung

Christoph Lang (Augsburg): Zusammenführen / Vorstellen der Ergebnisse aus den Workshopgruppen

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