10. Kartengeschichtliches Kolloquium: Die Welt im kartographischen Diskurs

10. Kartengeschichtliches Kolloquium: Die Welt im kartographischen Diskurs

Organisatoren
Ingrid Baumgärtner, Mittelalterliche Geschichte, Universität Kassel; Ute Schneider, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Duisburg-Essen; Martina Stercken, Allgemeine Geschichte des Mittelalters und Vergleichende Landesgeschichte, Universität Zürich
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
10.06.2022 - 11.06.2022
Von
Veronique Ritter, Fachbereich 05, Universität Kassel

Die kulturgeschichtliche Perspektive auf kartographische Erzeugnisse und das Interesse an Raum als historisch wandelbarer Kategorie deckte auf, dass Karten nicht nur der Welterfassung, sondern auch der Verhandlung von Weltbildern dienten. Dem wurde im Rahmen des Kartengeschichtlichen Kolloquiums Rechnung getragen. Die Veranstaltung mit Workshopcharakter ist dabei sowohl Zeugnis des über die letzten Jahre gewachsenen Interesses an der kulturwissenschaftlichen Kartographiegeschichte als auch zugleich ein Katalysator dieser Entwicklung. So bot sie Nachwuchswissenschaftler:innen bereits zum zehnten Mal ein Forum zur Vorstellung ihrer Forschungsarbeiten sowie deren methodischer Konzeption, wobei der Austausch sowohl untereinander als auch mit etablierten Forscher:innen im Fokus stand. Von besonderer Bedeutung ist der interdisziplinäre und epochenübergreifende Zuschnitt, der es erlaubt, Entwicklungen der Kartographie über eine lange Perspektive vom Mittelalter bis hin in die Neuzeit zu verfolgen.

ERIC WOLEVER (Kassel) eröffnete das Kolloquium mit einem Einblick in sein Postdoc-Projekt zur Konzeption des Westens im langen 12. Jahrhundert und zeichnete am Beispiel des Liber Floridus (um 1120) Lamberts von Saint-Omer (um 1060–1125) die Umverortung zweier Toponyme der römischen Antike nach. So lokalisierten spätantike Autoren wie Orosius, Plinius und Isidor etwa die Insel Thule im Norden oder Nordosten der Welt, während sie auf der Europakarte Lamberts weit nach Westen gerückt ist. Durch den Vergleich dieser kartographischen Darstellung mit Honorius Augustodunensis‘ (um 1080–1150/51) Imago mundi (ca. 1110–1154), welche die Insel im Westen von Spanien verortet, konnte Wolever aufzeigen, dass die Dislokation im Kontext von zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert stattfindenden Veränderungen des Wissens über die Geographie des Nordens zu erklären ist. Zeuge dieser Entwicklung ist etwa die Getica (um 551) des Jordanes († nach 552), in der Thule ebenso wie Britannien im Westen verortet wird. Anhand eines zweiten Toponyms zeigte Wolever wiederum eine Verschiebung gegenüber der römischen Geographie auf, wobei Raetia hier in deutlicher Entfernung zu den Alpen auf einer Halbinsel situiert ist. Auch diese Verschiebung ist, wenngleich ungewöhnlich, nicht einzigartig; sie ist etwa auf der berühmten Ebstorfer Weltkarte zu sehen. Die an Thule und Raetia exemplifizierten Dislokationsphänomene bezeugen, so schloss Wolever, wie Himmelsrichtungen im Früh- und Hochmittelalter als geographische Konzepte und als kulturelle Kategorien zur Strukturierung bei der Konstruktion von Karten und geographischen Texten beitrugen.

RAOUL DUBOIS (Zürich) zeigte an zwei spätmittelalterlichen Jerusalemkarten auf, wie solchen Pilgerkarten die „Essenz des Pilgerns“ um 1500 eingeschrieben ist. An beiden Kartierungen verdeutlichte er das Nebeneinander und Zusammenspiel verschiedener temporaler Ebenen, die auch das Erleben der christlichen Besucher der Heiligen Stätten kennzeichnete. So bildet die Sebald Rieter zugeschriebene Stadtansicht mehrere, in einem Spannungsverhältnis zueinander stehende zeitliche Ebenen ab. Eine zwischen Stephans- und Davidstor verlaufende Achse unterteilt die Kartendarstellung in einen zeitgenössischen muslimischen Bereich auf der linken und einen von christlicher Architektur und Pilgerstätten geprägten Raum auf der rechten Seite. DuBois untermauerte seine These an der den Kreuzweg Christi abbildenden Jerusalemkarte Hans Tuchers (1428–1491). Bereits am Haus des Pilatus als Startpunkt offenbart sich an den unterschiedlichen Leserichtungen der zugehörigen Textsignaturen die Verhandlung der Diskrepanz zwischen Kreuzweg und tatsächlichem Pilgerweg. Entsprechend stellte das Pilgern eher ein Laufen neben diesem Weg dar, wobei die Karten die mentale Vergegenwärtigung des Weges Christi verhandeln.

Spuren wissenskultureller und geopolitischer Aneignungsprozesse in den Handschriften des Liber insularum Archipelagi (1418) standen im Zentrum des Vortrags von BEATRICE BLÜMER (Kassel). Mit diesem Werk begründete Christoforo Buondelmonti (1386–ca. 1430) das Genre der Isolarii mit Karten und Beschreibungen zur Inselwelt des Mittelmeers. Blümer legte zunächst die komplexe Überlieferungssituation des noch bis weit ins 17. Jahrhundert kopierten und rezipierten Werks dar. Anhand von drei ausgewählten Exemplaren des Werks aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeigte sie anschließend an den Karten von Chios, Patmos und Berg Athos beispielhaft die Unterschiede in der kartographischen Gestaltung auf, die, so Blümers These, die Agency der Kopist:innen des Werks widerspiegeln. Die Variationen der Umsetzung geographischer wie historiographischer Informationen und ikonographischer Details sind dabei als jeweils spezifische Bildstrategien zu interpretieren, die die Wahrnehmung des Inselraums entsprechend den Wünschen der Kopist:innen und ihrer Auftraggeber lenken. Rückgebunden an den Kontext der osmanischen und venezianischen Ansprüche auf die Ägäis können diese als Legitimationsstrategien einer maritimen Expansion gelesen werden.

ISABELLA VALDIVIESO (Hagen) leitete ihren Vortrag zur Rolle der Darstellung der atlantischen Inseln auf Karten um 1500 mit der Beobachtung ein, dass die Bezeichnung „imaginär“ eine Rückprojektion darstelle, die in Bezug auf die zeitgenössische Wahrnehmung fehlleitend sei. Denn das Narrativ über das Zeitalter der Entdeckungen neuer Kontinente verkenne, dass diese aus heutiger Sicht mythischen Inseln tatsächlich die Ziele der See-Expeditionen waren. So verstelle, wie Valdivieso betonte, der Fokus auf die Entdeckungen den Blick auf die dahinterliegenden Handlungen und Akteure. Vor diesem Hintergrund analysierte sie an einer Vielzahl von Seekarten sowie Globen die Verortung und Darstellung der Insel Brasil, mit deren Entdeckung sich ökonomische wie politische Hoffnungen verbanden. Hinter dem Namen „Isla de Brasil“ identifizierte die Referentin vier verschiedene Inseln, die mal an der Westküste Irlands, mal bei den Azoren, dann wieder westlich von Britannien oder östlich von Neufundland verortetet wurden. Mit diesen divergierenden Platzierungen unter gleichem Namen verbanden sich zudem unterschiedliche Darstellungstraditionen; der unsichere Status Brasils zeigte sich innerhalb der bei Irland verorteten Gruppe etwa in der Verwendung der emblematischen Kreisform.

Zum Auftakt des zweiten Tages analysierte LISA WEIGELT (Zürich) die Quellen und die Autorschaft der Gough-Map, eines um 1400 entstandenen und später noch mehrfach bearbeiteten Beispiels früher Regionalkartographie. Die Karte zeichnet sich durch eine hohe Dichte eingeschriebener Informationen aus, die Weigelt in ihrem Promotionsprojekt in fünf verschiedene Wissenscluster unterteilt. Um das Wissen des Kartographen, den die Referentin konzeptionell als Autor fasst, zu ermitteln, werden diese Cluster mit enzyklopädischen, historiographischen und geographisch-kartographischen Quellen abgeglichen. Weigelt demonstrierte an drei Wissensclustern, wie sich die politischen Ambitionen und Eroberungen Edwards I. (reg. 1272–1307) auf der Karte niederschlugen: Hervorgehoben sind nicht nur seine Burgen- und Städtegründungen, sondern auch seine Ansprüche auf die Herrschaft über ganz Britannien, die sich in der Weglassung interinsularer Ländernamen wie auch in einer von ihrer Form her stärker als Einheit konzipierten Inselgeographie manifestierten. Ähnlich wie Blümer fokussierte auch Weigelts Beitrag den Auswahlprozess, der sich anhand der Bild- und Textsignaturen rekonstruieren lässt. Denn die Ermittlung des Wissenshorizonts des Autors erlaube es, so Weigelts These, diesen Prozess nachzuvollziehen, um die hinter der Karte stehenden, stetig im Wandel begriffenen Absichten, Ziele und Intentionen offenzulegen.

EVELIEN TIMPENER (Gießen) richtete ihren Blick auf die bislang unberücksichtigt gelassene Besitzergreifung und Nutzbarmachung des wasserreichen Raumes. Sie verdeutlichte die Darstellung von Herrschafts- und Nutzungsrechten von Auen und Flussinseln in hessischen Augenscheinkarten anhand von zwei Kartenbeispielen, die sie jeweils in Kombination mit den zugehörigen Reichstagsakten untersuchte. Die in einer solchen Analyse zu berücksichtigende enge Verbindung von Karten und Akten ist dem spezifischen Entstehungskontext zu verdanken, stellen die Augenscheinkarten doch das Ergebnis einer kartierten Inaugenscheinnahme im Zuge der Beweisaufnahme eines Prozesses am Reichskammergericht dar. Die von Timpener zur Verdeutlichung herangezogenen Karten des Oberrheins aus den Jahren 1573 und 1575 dokumentieren einen solchen juristischen Streitfall und bezeugen damit die Bedeutung, die die wandelbaren Auen- und Flusslandschaften vor den Flussbegradigungen für die landwirtschaftliche Wertschöpfung und den Fischfang hatten. Die Untersuchung offenbart sowohl verschiedene Ansprüche auf Herrschafts- und Nutzungsrechte als auch die Strategien der beiden Streitparteien, ihre ungestörte Herrschaft zu beweisen.

FABIAN FECHNER (Hagen) zeichnete die Entwicklung der „Entdeckerkarte“ vom 17. bis ins 19. Jahrhundert an einer Vielzahl von Kartenbeispielen nach. Diese Kartenform, die in Atlanten des 19. und 20. Jahrhunderts allgegenwärtig ist, stellt den geographisch-kartographischen Wissenserwerb seit dem 15. und 16. Jahrhundert unter eurozentristischer Perspektive als „Entdeckungen“ dar. Fechner spürte den Vorläufern nach, indem er veranschaulichte, dass bereits frühe Erzeugnisse wie der Atlas Novus (1702–1710) Heinrich Scherers (1628–1704) Karten enthalten, auf denen die Routen der Entdeckungsfahrten die Erschließung durch europäische Reisende und Nationen abbilden. Der Wert des epochenübergreifenden Zuschnitts der Veranstaltung zeigte sich in der anschließenden Diskussion zudem in dem Hinweis, dass die Entwicklungslinien dieses Kartentyps unter Einbezug von Manuskriptkarten sogar bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Wie die „Ikone der explorativen Geographie des 19. Jahrhunderts“ im langen Untersuchungszeitraum wahrgenommen wurde, lassen schließlich über die Kartentexte hinaus auch Begleittexte und zeitgenössische Rezensionen erkennen, die die hinter den Karten stehenden Fachdiskussionen und Diskurse dokumentieren.

Den Prozessen und Akteuren im Hintergrund widmete sich auch CLAUDIA BERGER (Erfurt). Anhand der Afrikaexpedition Theodor von Heuglins (1824-1876) in den Jahren 1861/62 und der dabei entstandenen kartographischen Materialien erläuterte sie, wie Verlagshäuser des 19. und 20. Jahrhunderts Expeditionen anleiteten, das dabei gewonnene geographisch-kartographische Wissen auswerteten und zu Karten verarbeiteten. So war Heuglins Expedition vordergründig als humanitäre Mission geplant und entwickelte sich trotz ihres Scheiterns für den Verlag Justus Perthes in Gotha zu einem großen wirtschaftlichen Erfolg. Die Überlieferung der Manuskriptkarten, frühen Kartenentwürfe und Umarbeitungen aus dem Nachlass des von 1785 bis 2008 bestehenden Unternehmens ermögliche es, wie Berger betonte, den Prozess der Kartenproduktion in allen Stadien der Konzeptionierung und Fertigung zu erforschen. Die entsprechenden Materialien sind im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts „Kartographien Afrikas und Asiens (1800–1945) der Universität Erfurt, einem Digitalisierungsprojekt zur Sammlung Perthes Gotha am Forschungskolleg Transkulturelle Studien und an der Forschungsbibliothek Gotha, digitalisiert zugänglich gemacht worden.

Mit der Übergabe einer Festschrift trugen deren Herausgeber DANIEL GNECKOW, ANNA HOLLENBACH und PHILLIP LANDGREBE (Kassel) zudem der richtungsweisenden Bedeutung der diesjährigen Gastgeberin für die Kartographiegeschichte des Mittelalters und der Renaissance Rechnung. Seit ihrer ersten Publikation zur vormodernen Kartographie im Jahr 1995 hat Ingrid Baumgärtner in zahlreichen Aufsätzen und Monographien maßgeblich zur Erforschung dieses Themenfeldes beigetragen und mit ihrem Fokus auf die Beziehungen zwischen Bild und Text bedeutende Impulse zur Untersuchung kartographischer Erzeugnisse gegeben. Diese Bedeutung spiegelt sich in zehn Aufsätzen Baumgärtners wider, die nun erstmals in englischer Sprache vorliegen1. Die kurze Vorstellung der Publikation übernahm CHRISTOPH MAUNTEL (Tübingen), der den Nutzen und die Zugänglichkeit für das internationale Fachpublikum betonte, die sich aus der Open Access-Veröffentlichung mit den Übersetzungen ins Englische und der Auswahl neuerer Beiträge auf das Beste ergäben.

Die Vorträge, die sich sowohl hinsichtlich der Art und Entstehungszeit der kartographischen Erzeugnisse als auch der gewählten methodischen Zugänge unterschieden, führten die diskursive Vielfalt kartographischer Weltbilder vom Mittelalter bis in die Neuzeit vor Augen. Wiederkehrende zentrale Themen und lebhaft geführte Diskussionen zeugten von der großen Relevanz, die dem epochenübergreifenden und interdisziplinären Austausch im Bereich der Kartographiegeschichte zukommt. Grundlegende gemeinsame Fragestellungen bezogen sich etwa auf die Bedeutung der Rekonstruktion der hinter einer Karte liegenden Schaffensprozesse sowie auf die Frage nach den unterschiedlichen Zeitschichten, die den Karten eingeschrieben sind. Verbindende Themen waren ferner der Niederschlag von Entdeckungsreisen in Karten und deren Kartierung auf einer Metaebene sowie die Rolle der Inselkartographie. Wichtige Grundlagen bieten dafür die Zugänglichkeit von Forschungsergebnissen via Open Access sowie der digitale Zugriff auf kartographische Quellen. Angesichts dieses reichen Ertrags ist ein nächstes Treffen für Juni/Juli 2023 in Essen geplant.

Konferenzübersicht:

Sektion I
Moderation: Ingrid Baumgärtner (Kassel)

Eric Wolever (Kassel): Dislocating Raetia and Thule: North and West as Structural Categories in Medieval Geography

Raoul DuBois (Zürich): A Tale of two Cities: Hybride Temporalitäten in den Jerusalemdarstellungen Sebald Rieters und Hans Tuchers

Sektion II
Moderation: Nils Bennemann (Duisburg-Essen)

Beatrice Blümer (Kassel): Strategien einer maritimen Expansion? Der Liber insularum Archipelagi zwischen wissenskultureller und geopolitischer Aneignung

Isabella Valdivieso (Hagen): Islas Imaginadas – Die Visualisierung der imaginären und imaginierten Inseln als Ziele der Entdeckungsfahrten vor Kolumbus in der Kartographie vor und nach der „Zeitenwende“ um 1500

Daniel Gneckow, Anna Hollenbach und Phillip Landgrebe (Kassel): Buchpräsentation: Mapping Narrations – Narrating Maps. Concepts of the World in the Middle Ages and the Early Modern Period, hrsg. von Daniel Gneckow, Anna Hollenbach und Phillip Landgrebe, Berlin/Boston 2022

Sektion III
Moderation: Christoph Mauntel (Tübingen)

Lisa Weigelt (Zürich): Die Gough Map. Wissenscluster und Autorenschaft

Evelien Timpener (Gießen): Stadt, Land, Fluss. Die Darstellung von Herrschafts- und Nutzungsrechten über Auen und Flussinseln in hessischen Lokal- und Regionalkarten

Sektion IV
Moderation: Ute Schneider (Duisburg-Essen)

Fabian Fechner (Hagen): Vom Fachdisput ins Schulbuch: Die „Entdeckerkarte“ vom 17. bis ins 19. Jahrhundert

Claudia Berger (Erfurt): Den Kartographen über die Schulter schauen? Das Digitalisierungsprojekt zu den Kartographien Afrikas und Asiens der Sammlung Perthes (1800–1945)

Anmerkung:
1 Ingrid Baumgärtner, Mapping Narrations – Narrating Maps. Concepts of the World in the Middle Ages and the Early Modern Period (Research in Medieval and Early Modern Culture, 34), hrsg. von Daniel Gneckow, Anna Hollenbach, Phillip Landgrebe, Berlin 2022. DOI: doi.org/10.1515/9781501516016.