XXII. Stipendiatenkolloquium der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

XXII. Stipendiatenkolloquium der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Organisatoren
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
PLZ
98527
Ort
Suhl
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.04.2022 - 30.04.2022
Von
Nadine Jenke, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Nachdem das jährliche Stipendiatenkolloquium der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 2021 pandemiebedingt virtuell stattfand, konnte die Leiterin des Arbeitsbereichs Wissenschaft FRANZISKA KUSCHEL die Teilnehmer:innen in diesem Jahr wieder in Suhl begrüßen. Traditionell ist das Kolloquium in die dort stattfindende Geschichtsmesse integriert, die sich 2022 dem Thema „Demokratie unter Druck. Freiheit, Protest und Extremismus in Europa nach 1989/90“ widmete.

Den Auftakt machte ERIK FISCHER (Leipzig) mit der Präsentation seines Projekts „Schule im Umbruch – Die Transformation des sächsischen Schulwesens am Beispiel des Schulbezirks Leipzig (1980-2005)“. Darin analysiert er die Aushandlungsprozesse, die mit der ab 1989/90 einsetzenden Reform des Leipziger Schulsystems einhergingen. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stünden insbesondere die vielfältigen lokalen Akteure wie Lehrer:innen und Schüler:innen, Verwaltungsinstanzen oder Gewerkschaften, ihre Agenden, Netzwerke, Handlungsspielräume bzw. -reichweiten. Ihre Rollen und Einflüsse auf die Schullandschaft bzw. Schulgesetzgebung stünden in der bisherigen Forschung im Schatten. Viele Problemlagen seien jedoch lokal zu verorten, die es demzufolge in Verschränkung mit der Landespolitik als Makroebene zu beleuchten gelte. Als Beispiele nannte Fischer neben der Art und Weise der Ausgestaltung des Schulwesens und der Schulinfrastruktur u.a. das Verhältnis zwischen Lehrer:innen, Schüler:innen und Eltern sowie den demografischen Wandel. Er hob zudem das Spannungsfeld zwischen der Unterrichtssicherung und gleichzeitiger Umsetzung von Reformideen hervor. Die Reformdiskurse würden sowohl vor dem Hintergrund bildungspolitischer Erneuerungsimpulse in der späten DDR als auch in ihrer Konsolidierung im Laufe der 1990er-Jahre betrachtet. Fischer kann für seine geplante Studie auf einen vielschichtigen Quellenkorpus zurückgreifen, zu dem neben amtlichen Dokumenten wie Landtagsanfragen auch Presseartikel, Interviews und u.a. Schülerzeitungen oder Projektarbeiten zählen.

Einen Schwerpunkt der sich anschließenden Diskussion bildeten die Akteure und hierin u.a. Fragen nach Legitimationen und personellen Kontinuitäten. Fischer skizzierte, wie sich die Netzwerke der Transformationsphase häufig aus Personen zusammensetzten, die sich bereits vor 1989/90 kannten, z.B. aus Kirchenkreisen. Aufgeworfen wurde zudem die Frage, inwieweit es eine Vergleichsfolie benötige, um Spezifika sichtbar zu machen.

Den abschließenden Vortrag des ersten Kolloquiumstages hielt ANNA HESSE (Mainz/ Paris), die ihr Projekt „Zwischen Bonn und Bautzen: Die ostdeutschen Abgeordneten des 12. Bundestages und die politisch-kulturellen Transformationsprozesse in der Bundesrepublik (1990-1994)“ vorstellte. Darin geht sie zum einen den Handlungen und zugrundeliegenden Strategien ostdeutscher Abgeordneter nach. Konkret konzentriert Hesse sich auf Männer und Frauen, die in der DDR sozialisiert worden sind und Wahlkreise in den „neuen Bundesländern“ vertraten. Im Zentrum der Studie stünden zehn Personen aus den in der Legislaturperiode vertretenen Parteien. Ihre politische Sozialisation in der DDR werde als ein Erfahrungshintergrund begriffen, der sich auf die Erwartungen der Abgeordneten an ihre Mandatsausübung ausgewirkt habe. Zum anderen betonte Hesse, dass der Begriff des „Ost-MdB“ ein zeitgenössisches Konstrukt sei, welcher oft als Projektionsfläche von Erwartungen und Kritik diene. Diesen gelte es auch aufgrund seiner Unschärfe zu hinterfragen. Schließlich umriss sie die verschiedenen neuen Bezugsebenen, mit denen die ostdeutschen Bundestagsabgeordneten konfrontiert worden seien, wie das gleichzeitige Vertreten eines ostdeutschen Wahlkreises in Bonn und einer westdeutschen Bundespolitik in ihren Wahlkreisen. Daraus entwickelte sie die Leitfrage, ob es den Akteuren gelungen ist, diesen Ebenen bzw. den sich daraus ergebenen Anforderungen gerecht zu werden.

Neben Rückfragen u.a. zur sozialen Zusammensetzung der Abgeordneten – sie repräsentierten nach Hesse die Gesellschaft der DDR und auch der Transformationsgesellschaft nur in begrenztem Maße – wurde in der Diskussion die Leitfrage reflektiert. Eine Anregung zielte auf einen stärkeren Fokus auf die Austauschbeziehungen mit Stakeholdern bzw. Ansprechpersonen. Überlegungen der Kulturgeschichte der Politik könnten zudem Anknüpfungspunkte für ergänzende Fragestellungen bieten.

JULIA KRETZSCHMANN (Berlin) eröffnete mit ihrer Präsentation zu dem Thema „Leergeräumt und ausverkauft? – Die Beschaffung von Kunstgegenständen und Antiquitäten in der DDR für den Verkauf ins westliche Ausland“ den zweiten Kolloquiumstag. Wie Kretzschmann ausführte, setzt ihr Projekt bei der Phase ab Gründung des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo) im Ministerium für Außen- und Innerdeutschen Handel der DDR im Jahr 1966 ein. Konkret fokussiert sie sich auf den zur KoKo gehörenden Außenhandelsbetrieb Kunst und Antiquitäten GmbH (KuA) und deren Aktivitäten im Rahmen der Beschaffung gewinnbringender Exportwaren. Kretzschmann stellte heraus, dass die Geschäftspraktiken der KuA nur wenig untersucht und das inländische Handelssystem bislang ausgeblendet worden seien. Ein Akzent liege auf dem der KuA angeschlossenen VEB Antikhandel Pirna als inländische Einkaufsorganisation sowie auf deren Abläufen, Personalstrukturen und Verbindungen zu staatlichen Behörden. Ziel sei die Sichtbarmachung von Netzwerken innerhalb des Kunst- und Antiquitätenmarkts der DDR, wofür auch private Sammler:innen und Händler:innen zu berücksichtigen seien. Sie stellte einige prägende Figuren des ostdeutschen Kunsthandels vor und zeigte etwa auf, wie die KuA private Suchstrategien adaptierte.

Nach dem Vortrag wurden zum einen Fragen der Operationalisierung (z.B. Kategorienbildung) und der Gewährleistung des Datenschutzes diskutiert. Zum anderen lag ein Schwerpunkt auf den Handlungsspielräumen der Akteure: Inwieweit gab es etwa Nischen, die die Einkäufer nutzen konnten; waren sie gewollt? Kretzschmann unterstrich die Relevanz der Grauzonen und gleichzeitig der Notwendigkeit, jeweils die individuellen Bedingungen zu berücksichtigen – je nach dem etwa, wie nützlich ein Einkäufer für die KuA gewesen ist.

Im Anschluss stellte FREDERIC VON VLAHOVITS (Mainz) sein Dissertationsprojekt zum Thema „Apparat Musikwissenschaft – Musikforschung in der DDR zwischen 1960 und 1980“ vor. Darin solle die Fachgeschichte der Musikwissenschaft in der DDR erstmals zusammengeführt und multiperspektivisch analysiert werden. Der zeitliche Zuschnitt begründe sich in Zäsuren in der Hochschul- und Kulturpolitik der SED in den 1960er- und 1970er-Jahren. Von Vlahovits verbindet eine institutionsgeschichtliche Herangehensweise, in deren Zentrum v.a. das Zentralinstitut für Musikforschung steht, mit einer Untersuchung der Strukturen und Inhalte des Musikwissenschaftsstudiums in der DDR sowie der Themenschwerpunkte der DDR-Musikforschung. Letztere standen im Fokus des Kolloquiumsvortrags. Er beschrieb die politische Funktionalisierung, wonach über einen Rekurs zur Aufklärung die deutsche Musikgeschichte in den Sozialismus integriert werden sollte. Es galt einerseits an den Gedanken des Erbes anzuknüpfen und andererseits Erneuerung zu versprechen – nicht zuletzt in Abgrenzung zu Westdeutschland, das als Fortsetzung des „Hitler-Faschismus“ in anderer Form angesehen wurde. Um herauszuarbeiten, wie sich diese Maxime konkret in die Musikforschung niederschlug, wertet von Vlahovits die über 4.000 Titel umfassende Bibliografie „Berichte über die musikwissenschaftlichen Arbeiten“ aus. Darüber werden u.a. inhaltliche Schwerpunkte, der Kanon, aber auch der Stellenwert DDR-spezifischer Themen sichtbar.

Im Rahmen der Diskussion bettete von Vlahovits sein Erkenntnisinteresse in einen Turn in der Musikwissenschaft ein, den eine ausgeprägte Zuwendung zur eigenen Fachgeschichte kennzeichne. Die Musikwissenschaft in der DDR sei hierbei bislang unterrepräsentiert. Da von Vlahovits in seiner Gliederung zur Einordnung auch auf die Nachkriegszeit und die 1950er-Jahre eingeht, wurde angeregt, den gesamten Zeitraum des Bestehens der DDR zu untersuchen, also auch die 1980er-Jahre zu berücksichtigen.

FELIX SCHNEIDER (Halle-Wittenberg) sprach zum Thema „Polizei in der Transformation. Untersuchung zum Wandel der Polizei in Ost- und Westdeutschland während der 1980er und 1990er Jahre“. Schneider legt in seinem Projekt einen Schwerpunkt auf Großeinsätze – etwa bei Fußballspielen oder Demonstrationen – und betrachtet Ausbildung, Praxis sowie Debatten zu diesem Teil der Polizeiarbeit in der DDR und in der alten Bundesrepublik sowie nach der Wiedervereinigung. Aufbauend auf einem Vergleich der „geteilten“ Polizeiarbeit untersucht Schneider in einem verflechtungsgeschichtlichen Zugriff die Polizei während der Transformationszeit am Beispiel der Bundesländer Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Für den Vortrag griff er die Aspekte Polizeipraxis und -debatten (z.B. zu Polizeieinsätzen sowie -reformen) heraus. Wie Schneider herausstellte, lägen insgesamt die größten Unterschiede zur Bundesrepublik nicht in der Polizeipraxis, sondern in der Möglichkeit, eigenes Handeln kritisch zu reflektieren – dies habe sich erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre verbessert. Er betonte des Weiteren die Notwendigkeit, das Zusammenwirken der Volkspolizei mit anderen Kräften zu untersuchen und zwischen der verordneten Politik des Zusammenwirkens und der praktizierten Kultur des Zusammenwirkens zu unterscheiden. So problematisch ein Fehlen von Debatten in der DDR gewesen sei, so stabilisierend hätten diese in der Bundesrepublik gewirkt.

Neben Fragen zu personellen Überprüfungen bei der Polizei nach 1989/90, zur Rolle der sogenannten Freiwilligen Helfer der Volkspolizei sowie zu den Begriffen Polizei- bzw. Polizistenkultur wurde in der Diskussion der Aspekt der Ko-Transformation aufgeworfen. Schneider wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die westdeutsche Seite nur in begrenztem Maße eine Offenheit gegenüber der ostdeutschen Perspektiven gezeigt habe. Daher sei anstelle von Ko-Transformation vielmehr von Rückwirkung zu sprechen.

Nach der Mittagspause sprach ROBERT SCHOLZ (Halle-Wittenberg) über das Thema „#Unrechtsstaat. DDR-Vergangenheit auf Twitter – Aushandlungsprozesse und diskursive Deutungsmuster“. Scholz geht in seinem Dissertationsprojekt der Frage nach, wie welche Akteure auf Twitter welche Themen und Inhalte von DDR-Vergangenheit kommunizieren. Für die Analyse hat er drei Sammlungen von Tweets zusammengestellt, die anlässlich des 30. Jahrestags der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 bei Twitter abgesetzt worden sind und die Begriffe „Unrechtsstaat“, „Wiedervereinigung“ oder eine Wortkombination zu dem Jahrestag wie „30JahreEinheit“ enthalten. In der Operationalisierung werden die Tweets kategorisiert, auch wird z.B. zwischen Ursprungstweets und Antworten unterschieden. Anhand der Korpora zu „Unrechtsstaat“ und „Wiedervereinigung“ zeigte Scholz in seinem Vortrag, dass Diskurse einerseits auf Twitter entstanden, andererseits dort aus anderen Foren ihre Fortsetzung fanden. Exemplarisch skizzierte er, wie Tweets von Politikern in einem Spannungsfeld zwischen Echokammer und Korrektiv rezipiert worden seien. Durch die „Antworten“-Funktion könnten z.B. Privatpersonen mit nur wenigen Followern das Aufmerksamkeitspotenzial reichweitenstarker Personen wie Politiker:innen mitnutzen. Für die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit bedeute dies für herkömmliche Twitter-Nutzerinnen und -nutzer Partizipationsmöglichkeiten bei der Etablierung bzw. Manifestation historischer Narrative.

Vor dem Hintergrund, dass z.B. der Korpus „Wiedervereinigung“ allein 874 originäre Tweets umfasst, wurde im Anschluss an den Vortrag u.a. über Möglichkeiten der Eingrenzung bzw. über die Gewichtung von quantitativem und qualitativem Vorgehen diskutiert. Auf inhaltlicher Ebene hob Scholz noch einmal hervor, dass Twitter-Diskurse zur DDR-Vergangenheit fast ausschließlich durch Expert:innen (z.B. Politiker:innen oder Journalist:innen) angestoßen würden.

Abschließend stellte MARIELUISE LABRY (Leipzig) ihr Dissertationsprojekt „Der Erinnerungsraum DDR in der Gegenwartsliteratur seit 2010 – Ein verschwundener Raum wird erzählt“ vor. Angesiedelt in den Literaturwissenschaften fragt Labry danach, wie der „historische Raum DDR“ im 21. Jahrhundert erinnert wird. Anhand zehn ausgewählter fiktionaler Erzähltexte (u.a. von Angelika Klüssendorf, Daniela Krien und Lukas Rietzschel) untersucht sie, inwieweit durch Werke der Gegenwartsliteratur das kollektive Gedächtnis zur DDR beeinflusst wird und welchem Wandel letzteres in diesem Zusammenhang unterliegt. Hierbei machte sie neben anderen eine Tendenz aus, mittels einer fiktionalen Erzählform von der DDR vielschichtige Bilder zu zeichnen und z.B. über transkulturelle Erfahrungen der Figuren Komplexitäten aufzuschlüsseln. In ihrem Vortrag betonte Labry, wie durch den fiktionalen Erzählraum Leerstellen der Erinnerung und Konflikte zutage treten. Ihre Analyse soll zudem aufzeigen, dass die Zeitbegriffe „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“ mithilfe der Literatur neukonstituiert werden können. Das Konzept des kulturellen Gedächtnisses – und damit verbunden von Erinnerung und Identität – und raumnarratologische Debatten wurden aufgegriffen und miteinander verknüpft.

Im Diskussionsteil ging Labry noch einmal auf die von Aleida Assmann konstatierte Verschmelzung der benannten Zeitbegriffe ein. Vergangenheit sei nach Assmann nicht mehr so abgeschlossen, wie zunächst angenommen, und wirke stark in die Gegenwart hinein. Unter Hinzuziehung des Raum-Begriffs entstehe ein Raum „DDR“ im Sinne einer neuen DDR im Erinnerungsdiskurs. Auf Rückfrage stellte Labry im Weiteren hinaus, dass der Aspekt der Autofiktion in der Gegenwartsliteratur zur DDR sehr verbreitet sei.

In der Schlussbesprechung wurde neben einem einhellig positiven Feedback zu den inhaltlichen Diskussionen darüber gesprochen, wie trotz weiter zunehmender Stipendiat:innenzahl künftig sowohl ein produktives Kolloquium als auch eine Wahrnehmung von Inhalten der Geschichtsmesse gewährleistet werden kann. Franziska Kuschel umriss zudem Überlegungen für separate Workshops, z.B. zu Methodenthemen, sowie zum Ausbau des Alumni-Netzwerks.

Konferenzübersicht:

Erik Fischer (Leipzig): Schule im Umbruch. Die Transformation des Bildungswesens im Leipziger Raum (1985-2005)

Anna Hesse (Mainz/Paris): Zwischen Bonn und Bautzen: Die ostdeutschen Abgeordneten des 12. Bundestages und die politisch-kulturellen Transformationsprozesse in der Bundesrepublik (1990-1994)

Julia Kretzschmann (Berlin): Leergeräumt und ausverkauft? – Die Beschaffung von Kunstgegenständen und Antiquitäten in der DDR für den Verkauf ins westliche Ausland

Frederic von Vlahovits (Mainz): Apparat Musikwissenschaft – Musikforschung in der DDR zwischen 1960 und 1980

Felix Schneider (Halle): Polizei in der Transformation. Untersuchung zum Wandel der Polizei in Ost- und Westdeutschland während der 1980er und 1990er Jahre

Robert Scholz (Halle): #Unrechtsstaat. DDR-Vergangenheit auf Twitter – Aushandlungsprozesse und diskursive Deutungsmuster

Marieluise Labry (Leipzig): Der Erinnerungsraum DDR in der Gegenwartsliteratur seit 2010 – Ein verschwundener Raum wird erzählt

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