Studentenmigration, Gelehrtennetzwerke und Buchkultur. Basel und die Schweizer Hohen Schulen in ihren Bezügen zu (Ost)Mitteleuropa im 15. bis 17. Jahrhundert

Studentenmigration, Gelehrtennetzwerke und Buchkultur. Basel und die Schweizer Hohen Schulen in ihren Bezügen zu (Ost)Mitteleuropa im 15. bis 17. Jahrhundert

Organizer(s)
Matthias Asche, Universität Potsdam; Marek Durčanský; Christian Hesse, Bern; Martin Holý, Praha; Vojtěch Večeře, Praha/České Budějovice
Location
Prag
Country
Czech Republic
Took place
In Attendance
From - Until
14.06.2022 - 15.06.2022
By
Vojtěch Pelc, Center of Classical Studies, Institute of Philosophy, Akademie věd České Republiky / Academy of Sciences of the Czech Republic; Matthias Asche, Historisches Seminar, Allgemeine Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Potsdam

Die vierzehn Beiträge der Konferenz von Forscher:innen aus Tschechien, Polen, Deutschland, der Schweiz, Ungarn und den Vereinigten Staaten behandelten die Rolle der Schweizer Akademien und Universitäten – insbesondere diejenige der Universität Basel – im Prozess der Wissensverbreitung nach Mittel- und Ostmitteleuropa in der Frühen Neuzeit unter vielseitigen Aspekten.

Eines der Hauptthemen war die Frage der Migration von Studenten an verschiedene Universitäten und im Zusammenhang damit die Weitergabe von Wissen und der spezifischen Kultur des universitären Humanismus. Neben Beiträgen zu Methoden, in denen verschiedene Zugangsweisen bei der Arbeit mit bestehenden Quellen zur Immatrikulation von Studenten, ihrem Bildungsweg sowie zu weiteren Aspekten (Netzwerke gelehrter Kontakte, zu Korrespondenzen bzw. Stammbüchern) behandelt wurden, fanden auch konkrete Beispiele ehemaliger Basler Studenten wie ihre Karrieren oder ihre literarischen Betätigungen Erwähnung. In beiden Fällen, d.h. auf allgemeiner und auf konkreter Ebene, entstand vor den Augen der Konferenzteilnehmer:innen das Bild einer gelehrten Lebendigkeit, die sich im Netz personeller Kontakte und Studienreisen zwischen West- und (Ost-)Mitteleuropa abspielte.

Den einleitenden Vortrag hielt MATTHIAS ASCHE (Potsdam). Er stellte die Entwicklung der Universität Basel an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit bis zum 17. Jahrhundert dar und unterstrich ihre Bedeutung für die nichtkatholischen Studenten aus den Nachbarländern nach dem Beginn der Reformation: Die hiesige Universität war nämlich zudem ein idealer Ort, an dem sich sowohl frankophone Studenten als auch reformierte Studenten aus Frankreich, dem Herzogtum Savoyen-Piemont, England oder Italien als Glaubensflüchtlinge einschreiben konnten. Basel diente zudem als Transituniversität bei Bildungsreisen durch Europa im Rahmen der peregrinatio academica. Neben Basel widmete sich Asche auch den reformierten Hohen Schulen bzw. Akademien in Zürich, Bern, Lausanne und Genf sowie deren Stellung im schweizerischen Bildungssystem der Frühen Neuzeit; er erklärte deren Funktion (vornehmlich für die Pfarrerausbildung) sowie die regionale und soziale Herkunft der dortigen Studentenschaft, die ebenfalls teilweise aus dem Ausland stammte.

Es schloss sich ein Block an, der sich mit der peregrinatio academica der Studenten zwischen den einzelnen Lehranstalten befasste. CHRISTIAN HESSE (Bern) betrachtete den Einzugsraum der Universität Basel zwischen 1460 und 1550. Er stellte anhand der Berner Forschungsdatenbanken des Repertorium Academicum Germanicum (RAG),1 des Repertorium Academicm Helveticum (RAH)2 und des Repertorium Bernense (RB)3 die Hauptquellen für eine Untersuchung der regionalen und sozialen Herkunft der Basler Studenten vor und bot eine Visualisierung der grundlegenden Daten in Gestalt übersichtlicher Karten und Grafiken. Auf diese Weise wurde die internationale Zusammensetzung der Basler Studenten (obgleich die meisten aus der nächsten Umgebung kamen) klar ersichtlich, und zugleich wurde die Veränderung in der regionalen Zusammensetzung vor und nach der Einführung der Reformation deutlich. Den internationalen Charakter der Studentenschaft unterstrich auch jener Teil des Beitrags, in dem der Referent auf die nachweisbaren Wirkstätten der Basler Absolventen verwies, die dort in den späteren Phasen ihrer Laufbahn tätig waren. Als Beispiel wählte Hesse die Karriere von Sigismund Gelenius, dessen vielfältige Studien- und Publikationsaktivitäten sich an vielen Punkten auf der Karte Europas abzeichneten.

Der Beitrag von WOLFGANG MÄHRLE (Stuttgart) verwies auf die Zahl der aus den süddeutschen Reichsstädten zum Studium nach Basel kommenden Studenten. Zwischen 1460 und 1802 kamen aus jenem Gebiet mehr als 2.000 Studenten an die Basler Universität. Nach 1530 stieg die Beliebtheit Basels nochmals deutlich an. Mittels einer Statistik der nachweisbaren Immatrikulationen vermochte Mährle die Unterschiede in der Zahl der aus den einzelnen süddeutschen Reichsstädten nach Basel kommenden Studenten – die meisten aus Augsburg und Nürnberg – sowie die Unterschiede in der Beliebtheit der einzelnen Basler Fakultäten aufzuzeigen.

Als Pendant zum vorhergehenden Vortrag befasste sich ÁDÁM HEGYI (Szeged) mit den Basler Studenten aus den Ländern der Stephanskrone im 16. und 17. Jahrhundert – und zwar sowohl in einem generalisierenden Überblick als auch anhand von Einzelbeispielen. Am Exempel von Einzelbiografien zeigte er die personelle Verknüpfung zwischen den ungarländischen Studenten in Basel, die sich in Paratexten wie Widmungen und Versen, die ihren Dissertationen beigefügt waren, offenbaren. Hegyi betonte außerdem den hohen Anteil von Theologiestudenten unter dieser Besuchergruppe.

Außer Ungarn strebten auch viele Polen zum Studium nach Basel, denen ebenfalls ein thematischer Block gewidmet war. ROBERT TOMCZAK (Poznań) konzentrierte sich auf 432 in Basel immatrikulierte Studenten aus Polen und Litauen vom 15. bis 17. Jahrhundert. Er stellte deren sozialen Hintergrund, regionale Herkunft und konfessionelle, das heißt überwiegend calvinistische, Ausrichtung vor. Zudem nahm er die häufigsten Studienfächer in den Blick, deretwegen sie zum Studium nach Basel gekommen waren (besonders viele studierten Medizin). Tomczak stellte ferner einige bedeutende Persönlichkeiten unter den polnischen Studenten vor, etwa Marcin Chmielecki, der sogar zweimal zum Rektor der dortigen Universität gewählt wurde.

MACIEJ PTASZYŃSKI (Warszawa) befasste sich mit der Rolle, die der lange Zeit in Basel weilende berühmte Gelehrte Erasmus von Rotterdam für den kulturellen Transfer zwischen Basel und Polen gespielt hat. Erasmus war für eine ganze Generation polnischer Protestanten Vorbild und Modell, dem sie Verehrung zollten, wie dies gelehrte Korrespondenzen, aber auch materielle Gaben bezeugen, die er von einigen polnischen Studenten erhalten hat. Obgleich die Rezeption Erasmus' in Polen enorm war, verlief der kulturelle Wissenstransfer in beide Richtungen.

Die dritte große Gruppe von Studenten aus Ostmitteleuropa in Basel bildeten Studenten aus den böhmischen Ländern. Zunächst beschäftigte sich MARTIN HOLÝ (Praha) mit den Basler Matrikeln in der Zeit von 1460 bis 1630. Anhand ihrer Analyse zeigte er die grundlegende Tendenz in der Entwicklung der Besuchsfrequenz der Basler Universität durch Studenten aus Böhmen und Mähren, ferner ihre geografische, soziale und konfessionelle Zusammensetzung, das Bildungsprofil sowie deren anschließende Karrieren auf.

An Holýs Beitrag knüpfte MARTA VACULÍNOVÁ (Praha) an, die sich auf die literarische Tätigkeit der Studenten aus den böhmischen Ländern konzentrierte. Sie skizzierte die grundlegende Periodisierung, wobei als Schwerpunkte zwei Etappen genannt wurden: die erste im Zeitraum von 1507 bis 1550 (von Vaculínová als die Zeit der Buchdrucker und Editoren bezeichnet), und die zweite zwischen 1570 und 1630, die im Zeichen von Kavaliersreisen und Medizinstudien stand. Ferner machte sie auf die Rolle von Paratexten aufmerksam und umriss exemplarisch Bildungsbiografien einiger literarisch tätiger Basler Studenten aus den böhmischen Ländern.

In der Sektion zu Netzwerken präsentierte KASPAR GUBLER (Bern) Visualisierungsmodelle der mit der Universität Basel verknüpften gelehrten Netze in der Zeit zwischen 1460 und 1550 und deren Darstellungsmöglichkeiten. Zunächst stellte er die über 60.000 Personen erfassende Datenbank Repertorium Academicum Germanicum vor und zeigte anschließend, auf welche Weise man mit Hilfe dieser Datenbank dynamische Visualisierungen von Bewegung, Karriere und Beziehungen von Einzelpersonen erzielen kann. Die breiten Verwendungsmöglichkeiten der Datenbank illustrierte der Referent am Beispiel der Wanderung von Sigismund Gelenius zwischen den einzelnen europäischen Gelehrtenzentren, bei der Gelenius neue Kontakte knüpfte.

Der Beitrag von AMY NELSON BURNETT (Lincoln, NE) betraf die Briefkontakte der deutschen Gelehrten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Anhand eines Korpus publizierter Korrespondenzen (mit mehr als 2.500 Briefschreibern) stellte sie Ergebnisse vor, die sie aus dem Charakter und der Art der Herausbildung von gelehrten Korrespondenznetzen gewonnen hatte. Sie verfolgte gleichfalls die Spezifika des Korrespondenznetzes der Gelehrten an der Universität Basel im Vergleich mit anderen Universitäten und Hohen Schulen im Heiligen Römischen Reich und in der Schweiz. Ihr Fazit: In vorreformatorischer Zeit habe es überraschenderweise nur wenige gelehrte Kontakte zwischen dem Norden und dem Süden gegeben. Die Korrespondenznetzwerke bestanden also eher regional.

Außer der Korrespondenz lassen sich persönliche Bindungen anhand von Eintragungen in Stammbüchern (alba amicorum) rekonstruieren. Diese stellte MARIE RYANTOVÁ (České Budějovice) vor, die zunächst über Geschichte und Funktion der Stammbücher sprach. Anhand der Datenbank Repertorium Alborum Amicorum (RAA)4 widmete sie sich den Stammbüchern böhmischer Studenten sowie deren Eintragungen in denjenigen der Basler Professoren. Eingehender befasste sie sich sodann mit dem Stammbuch von Johannes Maconius.

ONDŘEJ PODAVKA (Praha) stellte den bedeutenden böhmischen Adligen Ladislav Velen von Žerotín vor. Er befasste sich eingehender mit dessen Bildung und Reisetagebuch (Itinerarium), in dem Žerotín als junger Student die Erlebnisse seiner Studienreise (1589–1594) festgehalten hatte, die ihn für anderthalb Jahre in die Schweiz und auch nach Basel geführt hatte. Anhand dieser Eintragungen rekonstruierte Podavka den Schweizer Studienaufenthalt Ladislav Velens von Žerotín und dessen dort geknüpfte Kontakte.

Der letzte Konferenzblock war der Buchkultur und der damit verbundenen Wissensverbreitung gewidmet. VOJTĚCH VEČEŘE (Praha/České Budějovice) befasste sich mit dem mehrfach herausgegebenen und in seiner Zeit sehr verbreiteten Predigthandbuch des Basler Professors Johann Ulrich Surgant; anschließend rekonstruierte er dessen Quellen. Er konnte zeigen, dass Surgants Zugang zur ars praedicandi noch fest in scholastischer Tradition wurzelte, obgleich er gewöhnlich als Humanist bezeichnet wird.

KAMIL BOLDAN (Praha) machte auf die Rezeption Basler Drucke im böhmischen Gelehrtenmilieu aufmerksam. Er präsentierte eine Statistik, an der man die Zahl der sich in böhmischen und mährischen Bibliotheken erhaltenen ursprünglichen Basler Bücher ablesen konnte, unter denen die Exemplare der Jahre zwischen 1530 und 1570 am stärksten vertreten sind. Ferner verfolgte Boldan den prozentualen Anteil der Basler Drucke in jenen tschechischen Bibliotheken, deren zeitgenössische Kataloge erhalten sind bzw. deren Zusammensetzung man anderweitig rekonstruieren kann, zum Beispiel bei den Herren von Rosenberg, in der Bibliothek der Lateinschule in Joachimsthal (Jáchymov) oder in der Jesuitenbibliothek des Prager Clementinums. Zudem wies er auf einige Basler Drucke konkret hin, die in Böhmen rezipiert wurden, wie beispielsweise die 1542 von der Druckerei Froben edierten Schriften Galens oder die von Erasmus von Rotterdam besorgte und 1520 gleichfalls von Froben herausgegebene Plutarch-Übersetzung.

Beschlossen wurde die zweitägige Konferenz von Christian Hesse und Martin Holý, die die wesentlichen Ergebnisse zusammenfassten. Dabei kamen nicht nur Aspekte der untersuchten Problematik vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kultur- und Bildungsgeschichte, der politischen und Kirchengeschichte sowie die große Bedeutung der Schweizer Universitäten und Hohen Schulen für die Länder (Ost-)Mitteleuropas zur Sprache, sondern es wurden auch weiterführende Fragen angeschnitten – sei es zu den (personenbezogenen und gelehrten) Quellen und zu Problemen ihrer methodischen Auswertung oder zu Fragen ganz grundlegender Art, die sich durch die bislang eher einseitige Konzentration der Forschung auf die Universität Basel und die Genfer Akademie Johannes Calvins ergeben, wohingegen die Hohen Schulen in Zürich, Bern und Lausanne nur selten Beachtung finden. Die Beiträge zur Konferenz werden in der Zeitschrift „Acta Universitatis Carolinae. Historia Universitatis Carolinae Pragensis“ Band 63 (2023) Heft 1 veröffentlicht.

Konferenzübersicht:

Einführungsvortrag

Matthias Asche (Potsdam): Das höhere Bildungswesen der Schweiz. Institutionen und Formen der Peregrinatio academica

Sektion 1: Student migration I
Moderation: Eva Doležalová (Praha)

Christian Hesse (Bern): Die Universität Basel und ihr Einzugsraum zwischen 1460 und 1550

Wolfgang Mährle (Stuttgart): Süddeutsche Reichsstädter an der Universitat Basel (1460–1802)

Sektion 2: Student migration II – Swiss institutions in relation to Hungary
Moderation: Lucie Storchová (Praha)

Ádám Hegyi (Szeged): Das Netzwerk der ungarländischen Studenten in Basel im 16. und 17. Jahhundert. Unbekannte Beziehungen in den Hochschulschriften

Sektion 3: Student migration III – Swiss institutions in relation to Poland
Moderation: Martin Holý (Praha)
Robert Tomczak (Poznań): Polish and Lithuanian Students at the University of Basel from the 15th to the 17th Century

Maciej Ptaszyński (Warszawa): Die Universität Basel und die politischen und intellektuellen Eliten in Polen-Litauen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts

Sektion 4: Student migration IV – Swiss institutions in relation to the Bohemian lands
Moderation: Matthias Asche (Potsdam)

Martin Holý (Praha): Studenten aus den Böhmischen Ländern in Basel. Matrikelauswertung (1460–1630)

Marta Vaculínová (Praha): Studenten aus den Böhmischen Ländern und ihre literarischen Aktivitäten im Umfeld der Universität Basel

Sektion 5: Scholarly networks I
Moderation: Pavel Soukup (Praha)

Kaspar Gubler (Bern): Gelehrtennetzwerke der Universität Basel im Repertorium Academicum Germanicum (RAG) 1460–1550

Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE): The University of Basel and the Formation of a Learned German Elite, ca. 1500–1550

Sektion 6: Scholarly networks II
Moderation: Marta Vaculínová (Praha)

Marie Ryantová (České Budějovice): Studenten in Basel und ihre Kontakte auf Grund der Stammbücher

Ondřej Podavka (Praha): Ladislav Velen of Žerotín and his Study Stay in Switzerland

Sektion 7: Book culture
Moderation: Dušan Coufal (Praha)

Vojtěch Večeře (Praha/České Budějovice): Johann Ulrich Surgant’s „Manuale curatorum praedicandi“ as a Product of Medieval Intellectual Heritage in Basel Libraries

Kamil Boldan (Praha): Basler Druck und dessen Bedeutung für Böhmen

Abschlussdiskussion
Moderation: Christian Hesse (Bern) & Martin Holý (Praha)

Anmerkungen:
1https://rag-online.org/.
2https://repac.ch/helveticum/project.
3https://repac.ch/bernense/project.
4https://raa.gf-franken.de/de/startseite.html.

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