Forum Stadtgeschichte 2022: Konfliktfeld Stadt – Historische Perspektiven

Forum Stadtgeschichte 2022: Konfliktfeld Stadt – Historische Perspektiven

Organisatoren
Dorothee Brantz, Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU), Berlin; Kirsten Heinsohn, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
02.06.2022 - 03.06.2022
Von
Tim Zumloh, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte; Joana Gelhart, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Mit dem diesjährigen Forum Stadtgeschichte setzte die Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU) ihre Tradition der Nachwuchstagung fort. Unter dem Motto „Konfliktfeld Stadt – Historische Perspektiven“ stellten neun Doktorand:innen ihre Projekte in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg zur Diskussion. Dorothee Brantz (Berlin) und Kirsten Heinsohn (Hamburg) eröffneten die Tagung.

Mit einem Beitrag zu deutschen Bombardements und französischen Stadtgesellschaften abseits der Front 1914-1918 begann die erste Sektion zu Konfliktherden. DAVID HAGER (Amiens) strich das doppelte Konfliktpotenzial in französischen Städten im Einflussbereich deutscher Flugzeuge, Luftschiffe und Fernkampfgeschütze heraus. Zum einen wurden Städte wie Dünkirchen, Châlons-sur-Marne, Nancy oder Paris zu eigentlichen Konfliktlandschaften des Krieges, in denen der Tod von Zivilpersonen und Zerstörungen eine unmittelbare Erfahrung des Krieges darstellten. Zum anderen riefen die Bombardements auch innerhalb der angegriffenen Städte Konflikte hervor, die sich vornehmlich um die Einhaltung von Schutzmaßnahmen wie Beleuchtungsvorschriften sowie den Umfang des von den Behörden gewährleisteten Schutzes drehten. Dorothee Brantz hob in ihrem Kommentar hervor, dass es hier gelinge, das Thema über die Militärgeschichte hinaus auch Stadthistoriker:innen zugänglich zu machen. Es zeige sich die Tendenz zur Totalisierung des Krieges. Damit ließe sich an bestehende Forschungsdebatten anschließen.

Aushandlungsprozesse der Revolution 1918/19 in Hamburg untersuchte CHRISTINA EWALD (Hamburg) anhand der Daseinsgrundfunktionen. Konflikte konnotierte sie dabei positiv und definierte sie als essenziellen Bestandteil funktionierender, stabiler Gesellschaften. Tradierte Dichotomien, wie etwa städtisch-politische Strukturen im Gegensatz zu revolutionären Umbrüchen, ließen sich so zu Gunsten einer differenzierten Betrachtung von Akteur:innen und Machtverhältnissen auflösen und der Lebensraum Stadt mit dem Erfahrungsraum Revolution in eine neue Beziehung zueinander setzen. Kirsten Heinsohn würdigte in ihrem Kommentar Ewalds Ansatz, Revolutionsgeschichte als Mikrogeschichte zu erzählen und mit einem positiven Konfliktverständnis zu verbinden, als innovativ. Er ermögliche, auch die Wandlungen in Anschauungen und Verhalten verschiedener Personen nachzuvollziehen. Sie machte allerdings darauf aufmerksam, revolutionäre Konflikte nicht als ausschließlich städtisches Phänomen zu begreifen.

In der Sektion zu Planungskonflikten präsentierte KATHRIN MEISSNER (Berlin) ihr planungsgeschichtliches Promotionsprojekt zu den Herausforderungen und Konfliktlinien kommunaler Stadtentwicklung am Beispiel des Ost-Berliner Stadtbezirks Prenzlauer Berg in den 1970er- und 1980er-Jahren. Darin betrachtet sie Stadtplanung in zweifacher Hinsicht als Projektionsfläche: einerseits von politischer Legitimation der Staatsführung, andererseits von gesellschaftlicher Identifikation mit dem unmittelbaren Lebensumfeld. Auf der Ebene der Kommunalpolitik des Stadtbezirks legte sie den (versuchten) Spagat dar zwischen politischer Interessenvertretung und Kontrolle sowie den alltäglichen Ansprüchen und Realitäten der lokalen Bevölkerung. Dabei zeigte sich, dass neben konformen Formaten individueller Interessenartikulation und gesellschaftlicher Teilhabe (Eingaben oder Verschönerungswettbewerbe) ebenso informelle Formate Freiräume und Handlungsmöglichkeiten bildeten. Kommentatorin Celina Kress (Berlin) schloss an die Bedeutung gesellschaftlichen Engagements in der Stadtplanung an. Sie hob die ideologische Legitimation und die pragmatische Umsetzung und Akzeptanz als tragende Säulen für das tatsächliche Funktionieren von Stadtplanung hervor.

JANNIK NOESKE (Weimar) umriss die Untersuchungspotenziale im Hinblick auf das Verhältnis von Politik und Technologie in der räumlichen Planung und spürte – im deutsch-deutschen Vergleich – der Frage nach, wie Technologie von historischen Akteur:innen bestimmt werden konnte. Dabei zeigte er auf, wie Technologie die Praxis der räumlichen Planung geprägt hat und welche Kritik und Gegenbewegungen entstanden. Noeske führte aus, dass sich auch zivilgesellschaftliche Akteur:innen in der Stadtplanung Herrschaftswissen aneigneten und dass sie dieses zur Erstellung von Gegenplanungen nutzten. Gisela Mettele (Jena) sah großes Potenzial in dem Ansatz, durch neue Technologien entstandene Handlungsspielräume zu beleuchten. Sie regte in ihrem Kommentar an, nach Verknüpfungen zu übergeordneten Debatten und (Bürgerrechts-)Bewegungen zu suchen. Wichtig sei etwa die Kritik an Rationalisierung und Technokratie in stadtpolitischen Initiativen und in der Demokratiebewegung in der DDR.

In seinem Abendvortrag befasste sich CLEMENS ZIMMERMANN (Saarbrücken) mit dem Verhältnis von Stadt- und Regionalgeschichtsforschung auf der einen und Zeitgeschichte auf der anderen Seite. Erstere, so seine Beobachtung, sei seit den 1970er-Jahren gekennzeichnet von der Abkehr von einem unreflektierten Fortschrittsoptimismus. Wichtig wurden Fragen des Umwelt- und Katastrophenschutzes, der Infrastrukturpolitik sowie nach einem allgemeinen Krisenbewusstsein. Diese Zugänge unterscheiden sich damit wesentlich von der klassischen Urbanisierungsgeschichte, die durch das sprunghafte Städtewachstum im 19. und frühen 20. Jahrhunderts geprägt war. Auch die Zeitgeschichtsforschung habe sich in den letzten Jahren Fragen nach städtischen Konflikten und Lebensformen genähert. Allerdings stelle „die Stadt“ hier keinen programmatisch vertieften Forschungsrahmen dar. Eher betrachten zeithistorisch Forschende Städte und ihre Geschichte(n) aus einer politik- und ereignisgeschichtlichen Perspektive. Als diskussionswürdig erwies sich im Verlauf das Plädoyer Zimmermanns für komparatistische Studien, deren Erkenntniswert von den Teilnehmenden unterschiedlich beurteilt wurde.

Mit der Vorstellung seines Dissertationsprojekts zur Naturgeschichte der Tourismusstadt Luzern im 20. Jahrhundert eröffnete LINUS RÜGGE (Basel) die Sektion zu Interessenskonflikten. In seiner Fallstudie untersuchte er Konflikte über Natur am Rotsee, einem touristisch wenig prominenten Gewässer am Nordrand der Stadt. Der See wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts von der Kanalisation zum Naturschutzgebiet aufgewertet. Im Zuge dieser Aufwertung, so die Analyse, wurde „Natur“ nicht als ein kohärenter, programmatischer Begriff eingesetzt, sondern situativ je nach Anliegen für verschiedene Zwecke adaptiert. Kommentatorin Gisela Mettele griff insbesondere diesen Konstruktionscharakter der Ideale „Natur“ und „Idylle“ auf. In der Umdeutung einer durch vielfältige menschliche Nutzung belasteten Landschaft zur „bewahrenswerten“ Natur – im Interesse lokaler Akteur:innen – sah sie Potenzial zur analytischen Vertiefung. Sie plädierte in diesem Zusammenhang für eine Erweiterung der Perspektive auf die gesamte Stadt Luzern.

TIM ZUMLOH (Münster) betrachtete die Folgekonflikte der Motorisierungswelle in den 1960er-Jahren am Beispiel der aufstrebenden Mittelstadt Gütersloh. Der Wachstumsanspruch der Stadt sorgte für Auseinandersetzungen über die Verkehrsgestaltung. Zunächst kreisten diese Konflikte um die Verkehrssicherheit insbesondere der Kinder. Zu Beginn der 1970er-Jahre gewannen darüber hinaus Positionen an Einfluss, die eine weitergehende Zurückdrängung des motorisierten Verkehrs forderten, was zur Eröffnung einer ersten Fußgängerzone im Jahr 1972 führte. Kommentator Christoph Strupp (Hamburg) empfahl, stärker die spezifischen Entwicklungen der Stadt herauszuarbeiten und weniger übergeordnete Entwicklungen vor Ort nachzuvollziehen. Mögliche Schwerpunkte könnten die Debatten über Zersiedlung, Mittelstädte, Infrastrukturen (insbesondere ÖPNV), Radfahren in der Stadt und Verkehrssicherheit sein. Wichtig sei zudem eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Automobils zwischen Fortschrittsversprechen und Belastung für den Stadtraum.

SAMAHER SOLIMAN (Berlin) erweiterte die Tagung mit der Betrachtung des ägyptischen Heliopolis – ein Stadtteil Kairos – um einen außereuropäischen Stadtraum. Sie zeichnete die städtebauliche Entwicklung von einer geplanten Satellitenstadt im frühen 20. Jahrhundert hin zu einer eigenständigen Stadt im Großraum Kairo nach. Ursprünglich wurde Heliopolis als Entlastungsstadt konzipiert, als Kairo das Bevölkerungswachstum nicht mehr bewältigen konnte. Der Einfluss europäischer Parkstädte ist dabei in der städtischen Struktur und in der Planung des Straßennetzes unübersehbar. Soliman beleuchtete die verschiedenen Faktoren des Wandels und die rechtlichen Rahmenbedingungen der jeweiligen Phasen. Ferner legte sie durch eine stichprobenartige Beobachtung den stadtbauhistorischen Wandel dar. In seinem Kommentar schloss Thomas Großbölting (Hamburg) vor allem an diese Vertiefung an und schlug vor, hier noch stärker quellenkritisch zeitgenössische Konflikte herauszuarbeiten.

Die abschließende Sektion widmete sich städtischen Konflikträumen. PIA KLEINE (Berlin) suchte in Erfahrungsgeschichten von Bewohner:innen deutscher Großsiedlungen nach räumlichen Konflikten, die entweder durch äußere Bestimmungen (politische Entscheidungen, bauliche Maßnahmen, Mietangelegenheiten) provoziert wurden oder von Bewohner:innen ausgingen. Seit den 1980er-Jahren wirkten Leerstände, Verteilungspolitiken, Sanierungs- und Abrissdiskussionen zunächst auf die Großsiedlungen der alten, dann auch auf jene der neuen Bundesländer ein. Wie die Bewohner:innen diese Herausforderungen und Konflikte in Großsiedlungen wahrnahmen und in welchem Maße sie selbst die Debatten anstießen, wird in deutsch-deutsch vergleichender Perspektive und über den gesellschaftlichen Umbruch von 1989/90 hinaus anhand von Interviews in zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Studien und weiteren Quellenmaterialien der Bewohner:innen selbst untersucht. Dorothee Brantz warf in ihrem Kommentar die Frage auf, was Großsiedlungsbewohner:innen eigentlich ausmacht und ob die Menschen vor Ort sich als solche identifizieren. Zudem wurden mögliche Typologisierungen und das Potenzial, vor allem mittelgroße Städte und ihre Siedlungen aufgrund ihrer Eigenheiten in den Blick zu nehmen, diskutiert.

JOANA GELHART (Hamburg) spürte Aushandlungen städtischen Selbstverständnisses am Beispiel der wachsenden Mittelstadt Gütersloh seit den 1970er-Jahren nach. Anhand des Konflikts über den Theaterneubau, der in den 2000er-Jahren seinen Höhepunkt erfuhr, zeigte sie auf, dass der Bau nicht nur zum finanz- und kulturpolitischen Zankapfel, sondern auch zum Kristallisationspunkt der Selbst- und Fremdbilder einer Stadt avancierte, die zwischen klein- und großstädtischem Verständnis pendelte. Sie begriff den Konflikt als Zugang, in dem unterschiedliche Vorstellungen von Stadt aufeinandertreffen, sichtbar und damit untersuchbar werden. Gleichwohl offenbarte der Beitrag die Grenzen eines solchen Zugangs und warf die Frage auf, wie bedeutsam derartige Identitätsfragen für Teile der Stadtgesellschaft überhaupt waren. Mögliche Anknüpfungspunkte bot Clemens Zimmermann, der in seinem Kommentar auf das Verhältnis von Kultur und Wirtschaft und die Bedeutung Güterslohs im Stadtgefüge abhob. Dabei plädierte er für eine Quellenbasis, die verschiedene mediale Berichterstattungen berücksichtigt.

Durch verschiedene Zugriffe und Themen eröffnete die Tagung den Teilnehmer:innen ein breites Panorama auf das „Konfliktfeld Stadt“. Das thematische Dach ermöglichte es, die vielfältigen Arbeiten übergreifend zu diskutieren. Betont wurde der Konflikt als mögliche Sehhilfe, um den Blick der Forschenden auf die Ebene der Akteur:innen zu lenken und Differenzierungen auch innerhalb verschiedener (Interessens-)Gruppen herauszuarbeiten. Fraglos richtet eine Konfliktprspektive den Fokus auf Machtverhältnisse und Handlungsspielräume der jeweiligen Akteur:innen. Damit verband sich ein besonderes Interesse der Teilnehmer:innen an informellen Netzwerken und Handelnden, deren Wirken sich allein über das klassische Quellenmaterial kaum greifen und erklären lässt. Eine wichtige Erkenntnis bestand darin, dass die Forschung den Fokus auf Metropolen und Großstädte allmählich löst und sich zunehmend auch Klein- und Mittelstädten zuwendet, wie viele der vorgestellten Projekte zeigten. Abschließend reflektierten die Teilnehmer:innen die eigene Forscher:innenrolle in gegenwärtigen Konflikten und knüpften damit an das Plädoyer Zimmermanns für eine bessere Sichtbarkeit von Historiker:innen in öffentlichen Debatten an. Aufgabe sei es, eigene Standpunkte und Erkenntnisse proaktiv in die aktuelle Diskussion einzubringen und sich damit an Fragen des Zusammenlebens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beteiligen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung: Kirsten Heinsohn (Hamburg) und Dorothee Brantz (Berlin)

Sektion 1: Konfliktherde

David Hager (Amiens): „On n’est en sécurité nulle part“. Deutsche Bombardements und französische Stadtgesellschaften abseits der Front, 1914-1918

Kommentar: Dorothee Brantz (Berlin)

Christina Ewald (Hamburg): Konfliktfeld Alltag. (Politische) Aushandlungsprozesse in der Revolution 1918/19 in Hamburg

Kommentar: Kirsten Heinsohn (Hamburg)

Sektion 2: Planungskonflikte

Kathrin Meißner (Berlin): Stadtplanung als gesellschaftlicher Aushandlungsprozess! Kommunalpolitik im Prenzlauer Berg als Gegenstand und Austragungsort von Interessenkonflikten

Kommentar: Celina Kress (Berlin)

Jannik Noeske (Weimar): Information und Gegenplanung. Informationstechnologie und räumliche Planung jenseits technokratischer Machtdurchsetzung? Eine deutsch-deutsche Annäherung

Kommentar: Gisela Mettele (Jena)

Abendvortrag

Clemens Zimmermann (Saarbrücken): Die Stadt neu denken. Perspektiven zeithistorischer Stadt- und Regionalforschung

Sektion 3: Interessenskonflikte

Linus Rügge (Basel): Von der Bewahrung eines ‚Idylls‘. Konflikte um Natur am Luzerner Rotsee im 20. Jahrhundert

Kommentar: Gisela Mettele (Jena)

Tim Zumloh (Münster): Verkehrsbeziehungen. Auseinandersetzungen um Personenmobilität in der wachsenden Mittelstadt Gütersloh seit 1945

Kommentar: Christoph Strupp (Hamburg)

Samaher Soliman (Berlin): Cairo’s Heliopolis between the Past and the Future

Kommentar: Thomas Großbölting (Hamburg)

Sektion 4: Konflikträume

Pia Kleine (Berlin): Konfliktreiche Räume? Deutsche Großsiedlungen als Erfahrungsräume seit den 1980er Jahren

Kommentar: Dorothee Brantz (Berlin)

Joana Gelhart (Hamburg): „Alles nur Theater?“ Städtische Repräsentationen Güterslohs im Wandel (1970–2020)

Kommentar: Clemens Zimmermann (Saarbrücken)

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