Fürstliche Residenz und städtische Gesellschaft (1350–1650)

Fürstliche Residenz und städtische Gesellschaft (1350–1650)

Organisatoren
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München; Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Stadtarchiv München; Arbeitskreis Stadtgeschichte München
PLZ
80539
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
06.09.2022 - 08.09.2022
Von
Jakob Mandel, Mittelalterliche Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die geschichtswissenschaftliche Forschung im 19. und 20. Jahrhundert nahm vielfach an, dass Fürsten und Stadtgemeinden grundsätzlich im Widerstreit lagen. Die aktuelle Forschung, so unter anderem das Residenzenprojekt der Göttinger Akademie der Wissenschaften1, arbeitet an der Revision und/oder Modifizierung dieser Annahme, die die Stadtgeschichte auf einen Dualismus zwischen Stadt und Fürst reduziert sowie die Städte zu politischen Akteuren zweiter Ordnung gegenüber den Fürsten degradiert. Der Arbeitskreis Stadtgeschichte München nahm sich dieser Aufgabe im Gefolge des Göttinger Residenzenprojekts an. Die Tagung untersuchte das „dynamische Beziehungsgefüge“ (HUBERTUS SEIBERT) zwischen städtischer Gemeinde und fürstlicher Residenz in München während der Vormoderne. In fünf Sektionen über „Höfische Zentralität und kommunale Formierung“, „Gesellschaftliche Strukturen und Lebensbedingungen“, „Stadt, Wirtschaft und Konsum“, „Die geistliche Stadt“ und „Repräsentation und Performanz“ diskutierten die Referent:innen die Beziehung zwischen den Wittelsbachischen Herzögen und der Münchner Stadtgemeinde. Die Vorträge beleuchteten den Transformationsprozess der „bürgerlichen“ zur „fürstlichen“ Stadt im Verlauf der Vormoderne.

Die erste Sektion machte deutlich, dass die bayerischen Herzöge München im Laufe des Spätmittelalters sukzessive unter ihre politische Kontrolle brachten. Grundlegend für die erste Sektion präsentierte MICHAEL STEPHAN (München) die politische Verfasstheit der Stadt: zwei elitäre Ratskollegien (der Innere und der Äußere Rat), deren Mitglieder sich aus der eingesessenen bürgerlichen Führungsschicht rekrutierten, und ein Großer Rat (die Gemeinde oder auch „Gemain“), der die Interessen der aufstrebenden Handwerkerschaft vertrat. Die Herzöge nutzten den politischen Widerstreit in der Münchner Bürgerschaft durchaus zu ihrem eigenen Vorteil aus. Am besonders aussagekräftigen Beispiel der städtischen Unruhen von 1397 bis 1403 demonstrierten dies GERHARD FOUQUET (Kiel) und EMANUEL LECHEMAYR (München): Über Finanzfragen hatten sich die bürgerliche Elite und die Handwerkerschaft zerstritten. Die zwei konkurrierenden Wittelsbachischen Linien von Bayern-München und Bayern-Ingolstadt verbündeten sich jeweils mit einer der verschiedenen innerstädtischen Parteien Münchens; am Ende nutzten die Herzöge von Bayern-München die Restitution von vertriebenen Münchner Ratsherrn als Anlass zur militärischen Einnahme der Stadt. Auch in Brandenburg respektive Berlin kam es zum politischen Bruch innerhalb der Bürgerschaft. Der sogenannte „Berliner Unwille“ 1447/48, ein Konflikt zwischen den Städten Berlin und Cölln über ein Schlossbauprojekt Kurfürst Friedrichs II., sei in Berlin und Lübeck zum mahnenden Beispiel für Spaltung innerhalb der Bürgerschaft geworden, wie SVEN RABELER (Kiel) mit seinen Quellenanalysen zeigte. Die bayerischen Herzöge bestimmten München 1506, als sich die Wittelsbachischen Teillinien wieder vereinten, zur Hauptstadt des Herzogtums. Die einzig verbliebene Wittelsbacher Linie von Landshut weitete ihren Einfluss auf die Stadt systematisch aus, begünstigt vom Aussterben mächtiger Ratsfamilien und dem Wunsch der dort verbleibenden Familien, in den Adelsstand aufzusteigen. Das Verwaltungspersonal der Stadt rekrutierte sich deshalb – statt aus der stadteigenen bürgerlichen Oberschicht – zunehmend aus einem überregionalen Kreis gut ausgebildeter Juristen, wie der von HANS-JOACHIM HECKER (München) gewürdigte Nikolaus Zyner.

Die zweite Sektion knüpfte an die Ergebnisse der ersten Sektion an: Die Elite des Stadtbürgertums suchte nicht nur politisch, sondern auch rechtlich und räumlich den Anschluss an den herzoglichen Hof und die Chance zur Nobilitierung. Diese Entwicklung war nicht spezifisch für München, sondern konnte von CHRISTIAN HAGEN (Kiel) auch für verschiedene Residenzen im Tiroler Raum (Burg Tirol, Meran, Innsbruck) nachgewiesen werden. Der rechtshistorische Beitrag von HANS-GEORG HERMANN (München) führte vor, welchen besonderen Rechtsstatus die Angehörigen des Hofes, die „Hofschutzverwandten“, genossen. Die städtische Rechtsprechung habe spätestens seit 1608, seit der „Authentischen Auslegung“ des sogenannten „Albertinischen Rezesses“ von 1561, keine Gewalt mehr über die Hofschutzverwandten ausgeübt. Auch die räumliche Nähe zur herzoglichen Residenz erschien den aufstrebenden oder bereits adeligen Münchner Familien als erstrebenswertes Ziel. Die Untersuchung der Sozialtopographie Münchens („die soziale Ungleichheit im Raum“) von LORENZ MAIER (München) zeigte, dass sich um die herzogliche Residenz im Norden der damaligen Stadt adelige Familien ansiedelten. Weniger in den Bannkreis des Hofes gerieten das Zentrum der Stadt, wo die eher vermögenden Bürgerfamilien lebten, und der Süden des damaligen Münchens, vorwiegend der Stadtteil der ärmeren Bevölkerung. Eine bemerkenswerte Ausnahme von der herzoglichen Durchdringung der Stadt stellten die Wasserversorgung und das Gesundheitswesen dar, so BETTINA PFOTENHAUER CANIATO (München / Venedig). Aus mangelndem Interesse hätten die Herzöge in diesem Bereich lange Zeit keine Kompetenzen an sich gezogen, obwohl die Gesundheit der Stadt und des Hofs in Zeiten wiederkehrender Seuchen direkt voneinander abhingen.

Die dritte Sektion mit zwei Beiträgen von HIRAM KÜMPER (Mannheim) und CORNELIA OELWEIN (Illmünster) nahm den Salz- und den Fischhandel in den Blick. Die beiden vorgestellten Handelsgüter standen damals unter grundlegend verschiedenen Voraussetzungen: Die Handelsroute des Salzes aus Reichenhall führte seit alters her über München nach Augsburg. Speisefisch dagegen war ein rares und teures Handelsgut, da die städtischen Teiche und oberbayerischen Seen den Bedarf Münchens nicht decken konnten. Trotz dieser Unterschiede glichen sich die Entwicklungen von Salz- und Fischhandel: Der Hof zog immer weitere Vorrechte an sich. Die Wittelsbacher bauten ihren Salinenbesitz bis hin zu einer fast monopolartigen Stellung im Salzgeschäft aus. Der bürgerliche Salzhandel verkümmerte, sodass Kümper den Status Münchens als „Salzstadt“ verneinte. Der oberbayerische Fischfang richtete sich ganz auf die Münchner Residenz aus, der gefangene Fisch wurde sogar wegen seines hohen Preises zum repräsentativen Geschenk für vornehme Gäste der Stadt.

Mit der vierten Sektion schenkte die Tagung dem geistlichen Leben in der Residenzstadt mehr Aufmerksamkeit als die bisherige Forschung. Beispielhaft führte JÖRG SCHWARZ (Innsbruck) vor, wie die fürstliche Residenz das geistliche Leben in einer Stadt beeinflusste: Der habsburgische König Friedrich III. richtete in Wiener Neustadt 1444 ein Kollegiatsstift ein und forcierte 1469 die Gründung eines Bistums mit Sitz in Wiener Neustadt, um für seinen Hof eine Kirche mit ranggemäßer Bedeutung als geistliche Bühne besitzen. Mit der Flucht der Habsburger vor dem ungarischen König Matthias Corvinus 1480 verlor Wiener Neustadt jede Bedeutung. In München konnten die Wittelsbacher nicht so umfassend wie Friedrich III. auf die Geistlichkeit zugreifen. Von Kaiser Ludwig IV. im 14. Jahrhundert bis zu Kurfürst Maximilian I. im 17. Jahrhundert versuchten mehrere Wittelsbachische Herrscher, München als geistlich-administratives Zentrum Bayerns zu etablieren, so DIETER J. WEIß (München). Sie scheiterten jedoch am Widerstand der Freisinger Bischöfe. Die Alternative zum geplanten herzoglichen Hofbistum zeigte GERHARD IMMLER (München) auf: Da der Hof im Zeitalter der Konfessionalisierung den katholischen Glauben in der Residenzstadt stärken wollte, gründeten die Herzöge Wilhelm V. (1548–1626) und Maximilian I. (1573–1651) in und um München verstärkt Klöster der neuen Reformorden, darunter sogar eines der griechisch geprägten Basilianer. Außerdem warb der herzogliche Hof häufig geistliche Ratgeber und Kanzleimitglieder an. Das Bürgertum hatte außer durch fromme Stiftungen keine Möglichkeit, auf das geistliche Leben in der Residenzstadt einzuwirken.

Die fünfte Sektion widmete sich Kunst und Kultur in der vormodernen Residenzstadt München. Auch in diesem Bereich wuchs der Einfluss des fürstlichen Hofs zusehends von 1350 bis 1650. Die Beiträge von MANFRED HEIMERS (München) und KLAUS WOLF (Augsburg) zeigten dies für Theater und Literatur: Aufführungen und Schauspiele fanden nach dem 30-jährigen Krieg in großem Stil nur noch am Hofe statt; dem Bürgertum blieb allenfalls die Rolle als Publikum. Die Literaturschöpfung hatte der Hof schon vorher, bis zum Jahr 1500, zentralisiert. Da ein Künstlerleben keine Aussicht auf ein gesichertes Einkommen versprach, stammten die meisten literarischen Werke und Theaterstücke ohnehin aus den Federn adliger oder großbürgerlicher Autoren, die nicht auf einen regelmäßigen Lohn angewiesen waren. Im Bereich der bildenden Kunst hoben die Vorträge der Kunsthistoriker STEPHAN HOPPE und MATTHIAS WENIGER (beide München) auf die Gestaltung der wichtigsten Bauwerke Münchens in der Vormoderne ab: die Residenz selbst, die Residenzkirche St. Michael, die Frauenkirche und das Alte Rathaus am Marienplatz. Für die Konzeption der neuen Residenzbauten um 1600 legte Hoppe dar, dass der Stuckateur Hans Krumpper als deren Schöpfer anzusehen sei, nicht der von der Forschung bisher vermutete Hofarchitekt Friedrich Sustris. In der Bildersprache der großen Gebäude der Stadtgemeinde finden sich auffällig viele Elemente, die auf die Wittelsbachischen Stadtherren hindeuten, so Weniger. Im Falle der neu gebauten Frauenkirche, deren Vorgängerbau den Wittelsbachern schon als Grablege gedient hatte, überrascht das kaum. Doch dass ausschließlich adlige Wappen den Festsaal des „Tanzhauses“ (heute Altes Rathaus) schmücken, bleibt weiter erklärungsbedürftig. Diesen Raum nutzte und finanzierte nämlich in erster Linie das Münchner Stadtbürgertum.

Im „dynamischen Beziehungsgefüge“ zwischen Stadtgemeinde und adeliger Residenz dominierte zunehmend und eindeutig der Fürst, wie die Tagungsbeiträge für München mit mannigfachen Analysen feststellten. Das Stadtbürgertum suchte die Nähe zum Hof und versuchte in den Adelsstand aufzusteigen. Die Befunde der Tagung regen dazu an, weitere Städte aus dem Alten Reich und aus Oberitalien auf das Wechselspiel von städtischer Gesellschaft und fürstlicher Residenz hin zu untersuchen. In München stechen besonders die Bereiche hervor, in denen die Wittelsbacher nicht die volle Gestaltungsmacht an sich zogen oder an sich ziehen konnten: das Gesundheitswesen und das geistliche Leben. Die Frage, ob sich ähnliche Fälle in anderen Städten ausmachen lassen, bietet einen vielversprechenden Anknüpfungspunkt für weitere Forschungen. Auch als landesgeschichtlicher Zugang zur Stadtgeschichte respektive zur Residenzbildung bot die Tagung eine Vielfalt von Herangehensweisen, Methoden und Analysen unter besonderer Berücksichtigung von zahlreichen ungedruckten Quellen aus dem Münchner Stadtarchiv.

Konferenzübersicht:

Hubertus Seibert (München): Einführung

Michael Stephan (München): Ratsverfassung und Münchner Patriziat im Wandel

Hans-Joachim Hecker (München): Stadtschreiber und Jurisprudenz – Dr. Nikolaus Zyner und sein Münchner Privilegienbuch von 1532

Sven Rabeler (Kiel): Herrschaft – Rat – Gemeinde. Formen politischer Interaktion in norddeutschen Residenzstädten während des späten Mittelalters

Gerhard Fouquet (Kiel): Der Münchner Ratsherr Jörg Kazmair und seine Denkschrift über die Unruhen in der bayerischen Residenzstadt zwischen 1397 und 1403

Lorenz Maier (München): Sozialtopographie: München

Bettina Pfotenhauer Caniato (München / Venedig): Gesundheit, Umwelt, Nahrung – Lebensbedingungen in der Residenzstadt München um 1500

Christian Hagen (Kiel): Residenzstädte und Funktionsträger. Städtische Führungsgruppen in Brixen, Innsbruck und Meran

Emanuel Lechenmayr (München): Konflikte zwischen Stadt und Herzögen: die innerstädtischen Unruhen in München um 1400 und die Politik der Stadtherren

Hans-Georg Hermann (München): ‚Münchner deluxe‘ – Die Hofschutzverwandten im Albertinischen Rezess und danach

Hiram Kümper (Mannheim): Gesalzene Rechnungen und manche versalzene Suppe: der Münchner Salzhandel in Spätmittelalter und früher Neuzeit

Cornelia Oelwein (Ilmmünster): Die Versorgung von Stadt und Hof mit Speisefisch am Beispiel München

Jörg Schwarz (Innsbruck): Stadt – Residenz – Kollegiatsstift. Wiener Neustadt im 15. Jahrhundert

Dieter J. Weiß (München): Residenzstift und Landesbistum: München

Gerhard Immler (München): Geistliches Zentrum ohne Bischof: Klöster und Hofklerus in München

Manfred Heimers (München): Stadtkultur in Zeiten der Krise. Die Haupt- und Residenzstadt München unter der Regentschaft Maximilians I.

Klaus Wolf (Augsburg): Hof und Universität als Katalysatoren für Bildung, Humanismus und Theater. München, Ingolstadt, Heidelberg und Wien im Städtevergleich

Stephan Hoppe (München): Der herzogliche Schlossbau der Renaissanceepoche in München (1463–1623). Neue Forschungsansätze im überregionalen Kontext

Matthias Weniger (München): Der Festsaal des Alten Rathauses – höfische versus städtische Repräsentation

Anmerkungen:
1 Vgl. den Webauftritt des Projekts auf der Seite der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen unter https://adw-goe.de/forschung/forschungsprojekte-akademienprogramm/residenzstaedte/ (28.09.2022).