Der mittlerweile neunte Workshop des im Jahre 2012 am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg gegründeten Pfalzenarbeitskreises Sachsen-Anhalt (PFAK) fand anlässlich der 1100. Wiederkehr der Ersterwähnung in der Welterbestadt Quedlinburg statt. Vor dem Glasfenster von Ferdinand Müller (1901), das die Königserhebung Heinrichs I. im Jahre 919 im Stile des Historismus schildert, referierten hochrangige Wissenschaftler:innen zum Thema „Einblicke in das Leben auf einer Königspfalz“.
Den Auftakt machte STEPHAN FREUND (Magdeburg) „Quedlinburg – 22. April 922 und die Folgen“. Ausgehend von Heinrichs I. am Ostermontag des Jahres 922 ausgestellter Urkunde für die Mönche von Kloster Corvey, benannte Freund zunächst Gründe für die Wahl Quedlinburgs als Ort, an dem Heinrich I. Ostern feierte und skizzierte die zeitlichen und inhaltlichen Hintergründe der Urkundenausstellung. Anschließend ging er der Frage nach, wer nach dem Tod des Königs im Jahre 936 das Frauenstift in Quedlinburg gegründet habe – Heinrich selbst, dessen nunmehrige Witwe Mathilde oder aber der gemeinsame Sohn Otto. Freund zeigte auf, dass es sich vermutlich um eine von mehreren Personen und aus unterschiedlichen Gründen vorgenommene Stiftung gehandelt habe und die Suche der Forschung nach einer einzigen Gründergestalt auf anachronistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts beruhe. In den nächsten beiden Abschnitten skizzierte er die weitere Entwicklung Quedlinburgs nach dem Ende der Herrschaft der Ottonen und betonte vor allem, welche besondere Rolle „starke Frauen“ über Jahrhunderte im Stift und für die Geschicke der Stadt spielten. In einem Epilog ging er abschließend auf „Quedlinburg und die Mächtigen“ im 20. und 21. Jahrhundert ein, würdigte die Bemühungen der Stadt um einen kritischen Umgang mit dem Nationalsozialismus und zur Stärkung der Demokratie und die Bedeutung Heinrichs I. für die Verleihung des UNESCO-Welterbestatus.
TOBIAS GÄRTNER (Halle) widmete sich der „Entwicklung Quedlinburgs vom 10.–14. Jahrhundert“ auf der Grundlage der „archäologischen Quellen“. Er verwies auf die Situation auf dem Stiftsberg, wo sich bislang keinerlei Spuren einer Besiedlung vor dem 10. Jahrhundert haben nachweisen lassen, aber auch auf das durch spätere Nutzungen (Friedhof, LPG) archäologisch schwierige Umfeld von St. Wiperti. Für das 10. Jahrhundert rechnet Gärtner mit einer repräsentativen Bebauung des Stiftsbergs bereits zu Zeiten von Königin Mathilde. In die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts ist auf alle Fälle der bis heute erhaltene sogenannte ottonische Keller einzuordnen. Die weiteren Ausführungen galten dann den Arealen Westendorf, Altstadt und Neustadt, wo bislang ebenfalls keine Funde auf eine Besiedlung vor dem 10. Jahrhundert hindeuten. Spektakulär sind jedoch die Erkenntnisse zum Marktplatz, für den die Grabungen der Jahre 2012/2013 eine einphasige Schotterung zutage gefördert haben, die als die Straßen- und Marktoberfläche des 10. Jahrhunderts anzusprechen ist, was mit dem Marktrechtsdiplom des Jahres 994 in auffallender Weise korrespondiert. Etwa zu dieser Zeit muss der weitere Ausbau der Marktsiedlung in den Bereichen Pölle, Jüdengasse und Schmale Straße erfolgt sein.
THOMAS WOZNIAK (Tübingen) flankierte die archäologischen Erkenntnisse um die Schilderung der „Topographie Quedlinburgs“ auf der Grundlage der „historiographischen Quellen“ vornehmlich im Hochmittelalter. Im Unterschied zur bisherigen Sichtweise der Forschung wollte Wozniak die Bedeutung der 69 Herrscheraufenthalte in Quedlinburg weniger als politische Vorgänge interpretieren, sondern in erster Linie als Besuch ihrer als Äbtissinnen fungierenden Töchter bzw. Schwestern. Die Wahl Heinrichs I. sei deshalb auf Quedlinburg gefallen, weil es Wozniak zufolge fernab der den Ungarn bekannten Verkehrsverbindungen gelegen sei. Räumlich hielt er das Areal um die später so benannte Turnierbreite für die Anlegung einer aus einfachen Materialien (Holz-Erde) errichteten Schutzburg für besonders geeignet. Für die im weiteren Verlauf des 10. Jahrhunderts geschaffene Sakraltopographie verwies Wozniak auf die Rekognitionszeichen in ottonischen Urkunden, die stärkere Berücksichtigung finden sollten.
Genau jenen „ottonischen Urkunden des 10. Jahrhunderts für Quedlinburg“ widmete sich CHRISTIAN WARNKE (Magdeburg/Cobbel). Ausgangspunkt seines Beitrags waren seine eigenen Untersuchungen: Für D H I 20, die berühmte „Hausordnungsurkunde“ Heinrichs I., hat Warnke bereits 2019 einen Fälschungsverdacht sehr wahrscheinlich gemacht, ähnlich auch für D O I 1, die sogenannte Gründungsurkunde von Stift Quedlinburg. Für beide Urkunden begründete er den Fälschungsverdacht mit inhaltlichen und formalen Argumenten. In beiden Fällen machte er Streitigkeiten des Stifts mit den jeweiligen Schutzvögten bzw. mit Quedlinburger Gründungen als Fälschungsmotive verantwortlich. Bei strenger und konsequenter Anwendung der diplomatischen Methode hielt es Warnke für wahrscheinlich, dass einige weitere Quedlinburger Urkunden des 10. Jahrhunderts ebenfalls Verfälschungen oder Komplettfälschungen sind. Hintergründe seien in der Regel Besitzstreitigkeiten in der Zeit des Landesausbaus des 12. und 13. Jahrhunderts und das Bewusstsein, tatsächlich vorhandene, schriftlich aber nicht (mehr) nachweisbare Rechte behaupten zu müssen. Warnke sprach deshalb in Anschluss an Carlrichard Brühl von den „ehrbaren Fälscherinnen“ jener Zeit.
Um Auseinandersetzungen zwischen Personen(-gruppen), Vermittler, Königinnen, Kaiserinnen und Äbtissinnen ging es im Beitrag von KATHARINA MERSCH (Bochum), „Pfalz und Stift Quedlinburg in Konflikten des 10.–12. Jahrhunderts“. Sie erweiterte die Konzentration des Workshops auf den Ort um die konsequente Verfolgung des methodischen Ansatzes der Genderforschung und fragte danach, wie sich Frauen innerhalb einer männerdominierten Umwelt behaupten konnten. Merschs Augenmerk galt zunächst dem 10. Jahrhundert. Hier widmete sie sich dem Agieren der Königinwitwe Mathilde bei der Gründung von Stift Quedlinburg. Für die Zeit um 983 nahm Mersch das Handeln der Äbtissin Mathilde, der Tochter Ottos des Großen, in den Blick, als Heinrich der Zänker den Versuch unternahm, die Königswürde anstelle des noch unmündigen Ottos III. an sich zu bringen. Mathilde gelang es – im Zusammenspiel mit Theophanu und Adelheid – diesen Usurpationsversuch zu vereiteln. Für das 11. und frühe 12. Jahrhundert zeigte Mersch schließlich auf, wie sehr Stift Quedlinburg in die Wirren des Investiturstreits involviert wurde, bis hin zur von einigen Quellen behaupteten Vergewaltigung der Äbtissin Adelheid II. durch Gefolgsleute ihres königlichen Bruders.
Beschlossen wurde der erste Tag des Workshops mit einem öffentlichen Abendvortrag von CHRISTOPH MIELZAREK (Magdeburg) zu „Feiern in Quedlinburg“. Ausgehend von ritualtheoretischen Überlegungen, wie sie unter anderem in der Ethnologie seit längerem zum methodischen Instrumentarium zählten, machte Mielzarek mit einem alternativen Ansatz vertraut, Quedlinburg und seine Geschichte neu zu lesen und damit zugleich Verständnis für die sozialen Mechanismen einer fernen Kultur zu erzielen. Er interpretierte die für die Geschichte von Stift Quedlinburg mehrmals im Zusammenhang mit Königsaufenthalten bis ins 12. Jahrhundert hinein bezeugten Feste als „sequentielle Rituale langer Dauer“, wodurch das Fest als Ganzes größer wurde als seine einzelnen Teile. Sichtbar wurde durch Mielzareks vielschichtigen, reich illustrierten Vortrag, dass das Fest ein mächtiges Instrument mittelalterlicher Herrschaft war und Quedlinburg durch diese Feste zu einem bedeutenden, regelrecht symbolischen Ort für die Festigung und den Erhalt von Herrschaft wurde.
Die Vorträge des zweiten Tages führten zu einer Erweiterung des Blickwinkels über Quedlinburg hinaus auf andere königliche Aufenthaltsorte. Den Auftakt machte FELIX BIERMANN (Stettin/Halle), „Die Radegundiskirche Kaiser Ottos des Großen in Helfta und ihre Bestattungen“, der die Ergebnisse der Ausgrabungen von 2021 skizzierte. Die Grabungen in Helfta und Biermanns Werkstattbericht knüpften an jahrzehntelange lokale Bemühungen von Hans Herrmann und seinem Vater Joachim um die Bewahrung des archäologischen wertvollen Bestands auf der Kleinen Klaus an sowie an den Workshop des PFAK des Jahres 2017 und die gleichnamige Publikation zur „Vergessene(n) Pfalz“ von 2020. Die Grabungen des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt förderten nicht nur die Fundamente der großdimensionierten Radegundiskirche und zahlreiche Gräber mit Grabbeigaben und Skeletten zutage, darunter ein spektakuläres Kindergrab des 10. Jahrhunderts, sondern zudem ein weiteres großes Gebäude, bei dem es sich vermutlich um den – möglicherweise zweigeschossigen – Palas aus dem 10. Jahrhundert handelt. Zugleich demonstrierte der Vortrag die enorme Weiterentwicklung archäologischer Methoden bis hin zum Einsatz von 3D-Technik und von Digitalisierungsprogrammen zur Erstellung von archäologischen Modellen.
Den Helfta-Faden weiterspinnend thematisierte GERRIT DEUTSCHLÄNDER (Halle) „Helfta in der urkundlichen Überlieferung des Spätmittelalters“. In einem weitgespannten Forschungsüberblick, der bis zum Untergang der Anlage auf der Kleinen Klaus in der Zeit der Reformation reichte, stellte er die wechselnden Besitzverhältnisse nach dem Ende der Königsaufenthalte dar und förderte dabei nicht nur zahlreiche noch weiter auszuwertende urkundliche Befunde zutage, sondern überraschte auch mit dem Ergebnis, dass das in Mitteldeutschland ohnehin ausgesprochen seltene Radegundis-Patrozinium in Helfta anscheinend schon im 12. Jahrhundert dem Gertruden-Patrozinium gewichen ist.
Mit dem Thema „Hinterland und Versorgung mittelalterlichen Pfalzen und Königshöfe“ knüpfte MATTHIAS HARDT (Leipzig) an Fragen des Abendvortrags an und setzte zugleich die inhaltlichen Betrachtungen zum Leben in einer Königspfalz fort. Gestützt auf zahlreiche, bisweilen an entlegener Stelle getätigte Quellenfunde, schilderte Hardt, durch welch komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Personengruppen die Versorgung des bisweilen ca. 1.000 Personen umfassenden Königshofes gewährleistet wurde. Anhand konkreter und anschaulicher Beispiele demonstrierte Hardt, dass königliche Grundherrschaften, zu Dienstleistungen verpflichtete Klöster und Bischöfe ganz erhebliche Leistungen erbringen mussten, um Hoftage wie den des Jahres 973 in Quedlinburg überhaupt durchführen zu können. Für heutige Betrachter entziehen sich die dabei angewandten Mittel und die konkreten Wege freilich einer genauen Einsicht, weil es im Mittelalter entbehrlich schien, darüber zu schreiben. Einen Ausweg aus dieser mitunter problematischen Gemengelage eröffnete schließlich – so Hardt – die durch den Silbererzbau im Harz (insbesondere im Rammelsberg bei Goslar) für das Königtum neu zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, Versorgungskäufe auf regionalen und überregionalen Märkten zu tätigen.
Der als Ergänzung und zur Abrundung dieses Komplexes praktischer Aspekte gedachte Vortrag von MARKUS C. BLAICH (Hannover) „Vom Bauen einer Pfalz – Schlussfolgerungen aus der Werla“ musste aufgrund einer Erkrankung des Referenten leider entfallen. Sein Beitrag wird in der Veröffentlichung jedoch enthalten sein.
Der wissenschaftliche Ertrag der Tagung war ausgesprochen groß: Es kam zu regen Diskussionen über inhaltliche und methodischen Fragen und zu einem echten interdisziplinären Austausch über die Fächergrenzen hinweg. Nicht zuletzt leistete der Workshop einen gewichtigen Beitrag zum externen Qualitätsmanagement des an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg angesiedelten Forschungsvorhabens „Repertorium der deutschen Königspfalzen. Band Sachsen-Anhalt“, indem eigene Studien einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Überprüfung präsentiert wurden.
Konferenzübersicht:
Begrüßung / Grußworte: Kerstin Frommert (Quedlinburg); Stephan Freund (Magdeburg)
Stephan Freund (Magdeburg): Quedlinburg, 22. April 922, und die Folgen
Tobias Gärtner (Halle) Die Entwicklung Quedlinburgs vom 10.–14. Jahrhundert – die archäologischen Quellen
Thomas Wozniak (Tübingen): Zur topographischen Entwicklung Quedlinburgs anhand der historischen Quellen (10.–14. Jahrhundert)
Christian Warnke (Magdeburg/Cobbel): Die Quedlinburger Urkunden des 10. Jahrhunderts
Katharina Mersch (Bochum): Pfalz und Stift Quedlinburg in Konflikten des 10.–12. Jahrhunderts
Öffentlicher Abendvortrag von Christoph Mielzarek (Magdeburg): Feiern in Quedlinburg
Felix Biermann (Halle/Stettin): Die Radegundiskirche Kaiser Ottos des Großen in Helfta und ihre Bestattungen – Ergebnisse der Ausgrabungen 2021
Gerrit Deutschländer (Halle): In der Nachfolge der Pfalz. Helfta in der urkundlichen Überlieferung des Spätmittelalters
Matthias Hardt (Leipzig): „ex omni conlaboratu eiusdem curtis“ (D O I, 1): Hinterland und Versorgung mittelalterlicher Pfalzen und Königshöfe
Markus C. Blaich (Hannover): Vom Bauen einer Pfalz – Schlussfolgerungen aus der Werla (krankheitsbedingt entfallen)