Scheitern in der Vormoderne? Narrative Konzeptionalisierungen in Literatur, Hagiographie und Historiographie

Scheitern in der Vormoderne? Narrative Konzeptionalisierungen in Literatur, Hagiographie und Historiographie

Organisatoren
Internationale Gesellschaft für Höfische Kultur; Margit Dahm / Andreas Bihrer / Timo Felber, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
PLZ
24118
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
12.05.2022 - 14.05.2022
Von
Philipp Frey, Abteilung für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Emma Göttle, Germanistisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

In ihrer Einleitung der Tagung benannte MARGIT DAHM (Kiel) deren Ziel, das Phänomen des Scheiterns, welches durch seine Omnipräsenz im gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs zunächst als genuin modernes Phänomen erscheint, in der Vormoderne – und gleichermaßen als überzeitliches Phänomen – zu beleuchten. Damit griffen Germanistik und Geschichtswissenschaft einen Gegenstand auf, der bislang vorrangig in der soziologischen Forschung in den Blick genommen wurde. Dahm führte aus, dass das Scheitern gegenwärtig eine produktive Strategie für die biographische Selbsterzählung von Individuen, Gruppen oder Institutionen darstelle. Das Scheitern werde oftmals als konstitutiver Bestandteil von oder notwendige Zäsur für Aufwärts- und Erfolgsbewegungen präsentiert und durch diese Verknüpfung mit einem Progressionsgedanken umcodiert. Inwieweit vergleichbare Strategien in der Vormoderne fassbar sind, sei fraglich. Im Rahmen der Veranstaltung gelte es, den historischen Erscheinungsformen dieses variablen Phänomens nachzugehen. Mit Blick auf die kulturelle Signifikanz des Tagungsgegenstandes warf die Veranstalterin eine Reihe von Fragestellungen auf, die den weiteren Tagungsaustausch begleiteten. Diese reichten von den Terminologien und Beschreibungsformen für das Scheitern, das wortgeschichtlich tatsächlich ein neuzeitliches Phänomen darstelle, über seine narrativen und moralisierenden Funktionalisierungen, über Deutungs- und Bewältigungsstrategien desselben bis hin zu text- und gattungsspezifischen Darstellungsmustern. Von Belang war weiterhin die Historisierung des Phänomens, also die Frage nach Konstanten und Transformationen in den Vorstellungen, Deutungen und Sinnstiftungen des Scheiterns. Diesen und weiteren Fragen sollte sich anhand literarischer, historiografischer und hagiografischer Texte angenähert werden.

MATTHIAS WEBER (Bochum) präsentierte in seiner Untersuchung Darstellungen des „schlechten Todes“ in der Historiographie des ausgehenden 11. Jahrhunderts. Die angenommene Korrelation zwischen der Form des Sterbens und Handlungen zu Lebzeiten könne als ein Seismograph für das Scheitern oder Nicht-Scheitern einer Person gelesen werden. Anhand der hochmittelalterlichen Todesdarstellungen von Bischöfen legte Weber dar, dass – anders als in der frühmittelalterlichen Historiographie – nun auch Bischöfe schlecht sterben und damit scheitern konnten. Die Todesberichte seien dabei häufig als literarisierte, typologisierte und symbolisierte Propagandamittel genutzt worden.

FRANCESCO MASSETTI (Wuppertal) ging es um eine Dekonstruktion des Narrativs vom Scheitern. Der Referent unternahm den Versuch, eine andere Lesart der hauptsächlich von seinem Hauptverleumder Bischof Bonizo von Sutri geprägten Biographie des bisher als gescheitert dargestellten Hugo Candidus anzubieten. Massetti verstand Candidus als Opfer der gregorianischen Propaganda und die Vorwürfe gegen ihn als politisches Mittel im Investiturstreit. Im Grunde könne Hugo Candidus aber eine erfolgreiche Amtszeit vorweisen. Folglich sah Massetti nicht ihn als gescheitert, sondern dessen Gruppierung, die Wibertiner, die insbesondere auf der Ebene der memoria-Politik als Kollektiv absolut und dauerhaft versagt hätten.

MANUEL KAMENZIN (Bochum) beleuchtete die sogenannten Gegenkönige zu Friedrich II. und Konrad IV, die in der Forschung als gescheitert angesehen werden. Er stellte heraus, dass die zeitgenössischen historiographischen Quellen – je nach Intention des Autors – ein differenzierteres Bild darlegten, wenngleich die meisten Darstellungen negativ wären. Als Gründe für das Scheitern lieferten die Quellen beispielsweise Übermut oder auch Verderbnis durch päpstliches Unterstützungsgeld. Im Zuge dessen plädierte Kamenzin dafür, vom Scheitern von Projekten statt vom Scheitern von Personen zu sprechen. Auch in den von Kamenzin vorgestellten Quellen trat das Scheitern als propagandistische Fremdzuschreibung in Erscheinung. Eine objektivierbare Form des Scheiterns stellte Kamenzin in Frage. Zuletzt gab er zu bedenken, dass bei der Historisierung des Phänomens „Scheitern“ – nicht zuletzt wegen des Fehlens eines angemessenen lateinischen Äquivalenzwortes für die heutigen Vorstellungen von Scheitern – notwendigerweise von einem kontrollierten Anachronismus die Rede sein müsse.

MALINE KOTETZKI (Kiel) stellte die scheiternde Lespîa im Wigamur vor, die in ihrer ambivalenten Ausgestaltung zum Spiegel der höfischen Gesellschaft funktionalisiert werde. Anhand des merwîbes würden Problematiken vorgeführt, die aus der sozialen Undurchlässigkeit des Hofes entständen. Infolge ihrer intersektionalen Lesart, die hier das Zusammenwirken der Zuschreibungskategorien Geschlecht, Ethnizität und sozialer Status sichtbar machte, erkannte Kotetzki in der Lespîa sinnstiftendes Potential, Eigenes im Fremden wahrzunehmen. Über das Erzählen vom absoluten Scheitern werde im Wigamur ein Reflexionsraum eröffnet, in dem Handlungsoptionen abseits der textimmanenten adlig-höfischen Normen verhandelt werden könnten.

SILVIA BROCKSTIEGER (Heidelberg) stellte in ihrem programmatischen Beitrag zunächst das Fehlen eines lateinischen Wortes im Mittelalter, welches das heutige Konzept von Scheitern angemessen darstelle, heraus. Zudem beleuchtete sie das Motiv des Scheiterns in den beiden Autobiographien – einer prosaischen und einer poetischen – des Fabricius Montanus aus dem Jahr 1565, die Gattungszüge der Confessiones tragen. Brockstieger hob dabei die sinnstiftende Komponente des Erzählens vom Scheitern hervor. In der Prosavita diene das ständige Scheitern des Montanus dazu, die Notwendigkeit eines christlichen Lebens hervorzuheben, um den dauerhaften Misserfolgen trotzen zu können. Zurückgeführt würden diese auf externe Faktoren wie Montanus‘ Herkunft oder den Schmalkaldischen Krieg. In der Versvita gewänne dann die eigenständige Handlungsmacht sowohl als Kennzeichnung wie auch als Bewältigungsstrategie des Scheiterns eine hohe Bedeutung.

FRANZISKA QUAAS (Hamburg) illustrierte in ihrem Vortrag verschiedene narrative Mittel der Kausalitätsstiftung, die in historiographischen Quellen des frühen und hohen Mittelalters im Zusammenhang mit militärischem Scheitern fassbar sind. Als externe Zuschreibungen für eine Niederlage machte die Referentin zum Beispiel die göttliche Intervention aus. Auch naturgegebene Umstände wie das Wetter oder Gelände würden als Begründung angeführt. Daneben seien Schuldzuschreibungen, die laut Quaas interne Faktoren der Verlierenden adressieren, zu beobachten: Zum einen führten die Quellen Vermeidungsstrategien einzelner Parteien an, was in der Regel mit negativen Folgen für diese behaftet gewesen sei. Zum anderen würden militärische Niederlagen auf charakterliches Fehlverhalten wie Hochmut oder Habgier zurückgeführt. Dabei zeigte die Referentin plausibel das Potential von Deutungsmustern des Scheiterns in vormoderner Quellen auf.

PHILIPP WINTERHAGER (Berlin) fokussierte mit seinen Ausführungen wie bereits Massetti die Dekonstruktion des Scheiterns als Deutungskategorie in der Forschung. So sei Erzbischof Bardo von Mainz eine Person gewesen, die während seiner Amtszeit extremen Widerständen ausgesetzt war und später in der Forschung als gescheitert wahrgenommen wurde. Die noch immer wenig beachtete Vita Bardonis von Vulkuld präsentiere allerdings Bewältigungs- und Umdeutungsmöglichkeiten für das vermeintliche Scheitern Bardos. Dabei werde Bardo durchaus mit den tugendhaften Schwächen nach Matthäus 5 attribuiert, jedoch bringe jede dieser Schwächen gleichzeitig die Chance auf Kompensation, welche Bardo stets – häufig durch Geldgaben – zu leisten imstande gewesen sei. Winterhager argumentierte in der Folge, dass Bardo vor allem dann nicht als gescheitert angesehen werden dürfe, wenn man andere Werteebenen als die bisherige Forschung ansetze und das kluge ökonomische Handeln als Maßkategorie nehme.

MARCUS MARTIN (Kiel) kontrastierte in seinem Vortrag historiographische und literarische Perspektiven auf das Scheitern des Spanienfeldzugs Karls des Großen. Während die Niederlage der Franken in den historiographischen Quellen verschleiert werde, verhandle das Rolandslied des Pfaffen Konrad das militärische Scheitern der Kämpfer um Roland in einer Ambivalenz, die sich aus dem Grundkonflikt von diesseitiger und jenseitiger Disposition ergebe. Scheitern werde in dieser Chanson de geste als Martyrium erzählt, welches absolutes Gottvertrauen als jenseitige Erfolgsversprechung propagiert. Brüchig werde diese ideologische Rahmung dort, wo die weltlichen Konsequenzen des Todes für die Hinterbliebenen thematisiert würden, etwa in Form der Zweifel Rolands und Oliviers.

KILIAN BAUR (Eichstätt-Ingolstadt) referierte zu hochmittelalterlichen Darstellungen von Herrschaftsumbrüchen, die stets ein Scheitern des gestürzten Herrschers bedeuteten, insbesondere, wenn sie gewaltsam herbeigeführt wurden. Er zeigte dabei, dass die Historiographen versuchten, das Scheitern der Herrscher in ihr eigenes, vom göttlichen Heilsplan geprägtes Weltbild zu integrieren und so in Form einer sinnstiftenden Narration zu vermitteln. Historiographen hätten mittels dieser narrativen Remontage das Scheitern der von Gott eingesetzten Herrscher derart überschrieben, dass es als von Gott selbst herbeigeführt erschien. Durch diese Strategie hätten die hochmittelalterlichen Autoren ihr providentielles Weltbild selbst vor dem Scheitern bewahren können.

KATHARINA GEDIGK (Genève) hob anhand des Willehalm von Orlens die Funktion des Scheiterns als Erkenntnisgenerator und Handlungsmotivator hervor. Das im Kontext des Stauferhofes entstandene Werk kennzeichne sich durch einen ausgeprägten didaktischen Impetus, der die narrative Verhandlung des Scheiterns maßgeblich prägt. Das Scheitern Willehalms des Älteren diene dabei als reines exemplum malum. Willehalm der Jüngere hingegen scheitere zunächst durch unreflektierte imitatio eines höfischen Ideals am richtigen Maß, wodurch sein Scheitern temporär und überwindbar sei. Gedigk schlug damit das adäquate Maßhalten als mögliche Kategorie für die Objektivierbarkeit von Scheitern vor.

JAN GLÜCK (München) erweiterte mit der Betrachtung des Renart empereur das literarische Spektrum der Tagung um die Tierepik und konnte wie Kotetzki den Verweischarakter scheiternder Figuren plausibel hervorheben. Glück zeigte auf, dass der Fuchs Renart zwar selbst an seinen machtpolitischen Ambitionen scheitere und dem legitimen Löwenkönig Noble unterliege, das Scheitern der Figur jedoch darüber hinaus auf die politische und soziale Wirklichkeit der erzählten Welt verweise, die stets prekär erscheine. Die Niederlage des Fuchses enttarne das Fundament des scheinbar idealen Königtums als ausgesprochen instabil. So handle es sich beim Renart empereur um mehr als nur eine Satire auf usurpierende Fürsten, in der eine totale Disruption des sozialen höfischen Gefüges gezeigt werde. Vielmehr hebe der Text auf die Notwendigkeit klugen Handelns in der höfischen Gesellschaft ab, da der Löwenkönig Noble zum Erhalt seiner Herrschaft sich dieses – gleichsam füchsische – Handeln aneigne. So scheitere zwar der Fuchs, nicht aber das Füchsische.

Wie schon der Eröffnungsbeitrag ging auch der Vortrag ANNA CHALUPA-ALBRECHTs (Frankfurt am Main) vom Tod als Moment des Scheiterns aus. Anhand von verschiedenen Mirakelerzählungen des Passionals beleuchtete sie die objektseitige Imitation des Schemas von Scheitern – wunder– Bekehrung durch Reliquien. So werde im ersten Beispiel das Wunderwirken eines Bildnisses des heiligen Nikolaus erst möglich, nachdem das Objekt selbst durch seinen Besitzer gemartert wurde. Die Spuren dieses Martyriums und der anschließende Konversionserfolg seien damit auf Dauer gestellt. Auch die Erzählungen von einer Attacke auf ein Kruzifix sowie die von dem Versäumnis eines Mönches, einer verstorbenen Jungfrau aus dem Gefolge der Heiligen Ursula den versprochenen Schrein zu bauen, werden als Scheitern der Heiligen in ihrem artifiziellen Nachleben verstanden, die jeweils conversio-Momente bewirken. In allen Fällen werde das erneute Scheitern der Objekte, mit dem sich das Bekehrungsmoment der hagiographischen Erzählung wiederholt, zum Geltungsgrund ihrer artifiziell behaupteten Wirksamkeit.

SARAH LEHNER (Wien) diskutierte anhand des Buch von Akkon der Steirischen Reimchronik aus dem frühen 14. Jahrhundert die erzählte Graduierung des Scheiterns. Gezeigt wurde ein großes Spektrum von Episoden und Formen des Scheiterns, das in die Erzählung von dem finalen und absoluten Scheitern integriert ist, den der Verlust der letzten großen Kreuzfahrerbastion als große Katastrophe der Christenheit darstellt. So wäre im Buch von Akkon auf der individuellen Ebene ebenso wie auf der kollektiven Ebene die gesamte Christenheit gescheitert. Dabei stellte Lehner ebenfalls die Perspektivabhängigkeit im Zusammenhang mit der Markierung einer gescheiterten Person oder eines gescheiterten Vorhabens heraus. Auch zeigte sie die Prozesshaftigkeit des Scheiterns unter Bezugnahme auf die angrenzenden Termini „Krise“ und „Katastrophe“ auf und erweiterte damit die Begriffsebene des Scheiterns.

BERNWARD SCHMIDT (Eichstätt-Ingolstadt) zeigte anhand der sogenannten altgläubig-katholischen Luthergegner, dass sich diese – trotz des Scheiterns ihrer Kirche, eine stabile Gegenposition im Herzogtum Sachsen gegen die Lehren Luthers zu bilden – selbst nicht als gescheitert wahrnahmen. In der Gesamtschau erwiesen sich die Selbstbeschreibung als Opfer und die Suche nach Ursachen als zentrale Deutungs- und Bewältigungsmuster des Scheiterns. So habe der Theologe Johannes Cochlaeus vor allem die politischen Umstände und institutionellen Rahmenbedingungen für seine persönlichen Rückschläge verantwortlich gemacht. Julius Pflug sähe das Scheitern der katholischen Kirchen ebenfalls nicht in seiner Person, sondern in der mangelhaften Ausbildung des katholischen Klerus begründet. Pflug selbst könne als wahrhaft christlicher Mensch in seiner eigenen Argumentation indes gar nicht scheitern.

MANUEL BRAUN (Stuttgart) widmete sich anhand von Wernhers des Gartenæres Helmbrecht dem Scheitern in seiner poetischen Ausgestaltung. Mit Blick auf die rhetorische Inszenierung des Scheiterns im Text plädierte er dafür, den Helmbrecht nicht nur als Negativexempel zu lesen, das vor dem Ausbruch aus dem gottgegebenen ordo warne. Denn Wernher lasse nicht nur den Sohn, sondern auch den Vater in seiner Erziehungsverantwortung scheitern. Diese rhetorische Brechung als Erzählmittel des Scheiterns versuchte Braun mittels Lotmans Sujet-Begriff zu deuten. So trage das Sujet des Textes, dessen Held den Bauernstand verlässt und einen adligen Lebensentwurf verfolgt, das Potential in sich, ein ständisches Weltbild herauszufordern. Als Folge der doppelten Motivierung – Demonstration eines Exempels bei gleichzeitiger rhetorische Entfaltung eines Sujets – sah Braun den Text in letzter Konsequenz an bzw. mit seiner Ideologie gescheitert.

ULRICH HOFFMANN (Münster) erweiterte das begriffliche Repertoire der Tagung um die Dichotomie von Autonomie und Providenz. Er argumentierte, dass Thüring von Ringoltingen in der Melusine die autonome Handlungsmacht der Figuren und die gattungsimmanente Providenz, die zum Scheitern führen muss, durch einen Zweischritt miteinander vereinbar macht. So gebe es zunächst ein imperatives, graduelles Scheitern, quasi ein Scheitern nach Plan, wenn Reymund Melusine heimlich beobachtet und anschließend Vorkehrungen triftt, um keine Folgen seiner Handlung zu zeitigen. Dieses erste Scheitern werde mit der öffentlichen Rede Reymunds, in der er Melusine bloßstellt, in ein zweites soziales und absolutes Scheitern überführt, der Ritter scheitert an der Treue zu seiner Frau sowie an den Konventionen affektkontrollierter Rede. Hoffmann begreift jenes Erzählen vom Tabu bzw. Tabubruch als genealogisches Erzählen vom Ursprung der Dynastie von Lusignan, welches somit doch eine Zukunuftsperspektive eröffne.

MARC CHINCA (Cambridge) näherte sich schließlich der Poetologie des Scheiterns am Gegenstand der Unfähigkeits- und Unsagbarkeitstopik. In der antiken Rhetorik und Poetik habe sich der Poet durch Argumente zur Fortsetzung der dichterischen Mimesis vor dem Scheitern am eigenen Unvermögen sowie an der Widerständigkeit seines Themas bewahrt. Gänzlich anders sei die Topik im Tristan Gottfrieds von Straßburg ausgestaltet, wie Chinca am Beispiel von Tristans Schwertleite und der Darstellung des Zauberhündchens Petitcreiu aufzeigte. Der Autor lasse sein dichterisches Vermögen absichtlich an der Darstellungsresistenz des Themas scheitern und so eine andere Art von Poesie entstehen: eine Phantasmagorie, die Chinca als poiēsis – ein ‚Machen‘ – in und mit der Sprache im elementarsten Sinn des Worts klassifizierte.

In der Zusammenfassung der Tagung stellten MARGIT DAHM und TIMO FELBER heraus, dass zu den wichtigsten Ergebnissen die Perspektivgebundenheit des Scheiterns gehört, bei dem zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung sowie zwischen zeitgenössischer und retrospektiver Einordnung unterschieden werden muss. Ebenfalls wurden Spannungsfelder zwischen scheiterndem Individuum und scheiterndem Kollektiv, episodischem und absolutem Scheitern, dem Scheitern von Projekten oder Vorhaben und dem Scheitern von Personen deutlich. Darüber hinaus habe sich gezeigt, dass in der narrativen Darstellung der Unterschied zwischen dem Scheitern als Ereignis oder als Prozess von Bedeutung ist. Bei der Frage nach den Deutungen des Scheiterns zeigt sich, dass es neben verschiedenen, oftmals transzendenten Bewältigungsnarrativen auch Formen der Umdeutung des Scheiterns gibt, wobei bei allen Strategien der Deutung und Sinngebung ebenfalls nach dem Gelingen oder Scheitern derselben gefragt werden kann. Auch unterstrichen die Veranstalter:innen die vielfältigen Funktionen des Scheiterns, das in den Quellen nicht nur als Erfahrungs- und Deutungsmuster, sondern auch als wichtiges Element individueller und kollektiver Sinnstiftung fassbar ist. Scheitern erweist sich oft als Reflexionsfigur, über die implizite Ordnungen wie auch die immanenten Schwächen normativer Ordnungen offen gelegt werden können.

Konferenzübersicht:

Sektion I - Absolutes und exemplarisches Scheitern von Individuen und Kollektiven
Einführung: Margit Dahm (Kiel)
Moderation: Rike Szill (Kiel)

Matthias Weber (Bochum): Scheitern bis zum Tod – Bischöfe in historiographischen Quellen des ausgehenden 11. Jahrhunderts

Francesco Massetti (Wuppertal): Wibertiner als Verlierer – gescheiterte Reformer im Umfeld des Reformpapsttums

Manuel Kamenzin (Bochum): Im Sterben gescheitert? Die Tode der gegen Friedrich II. und Konrad IV. erhobenen Könige in der zeitgenössischen Historiographie

Maline Kotetzki (Kiel): Scheitern auf ganzer Linie. Betrachtung der Lespiâ aus dem Wigamur unter Einbezug raumnarratologischer Aspekte

Sylvia Brockstieger (Heidelberg): „Scheitern“ in der Gelehrtenautobiographik der Frühen Neuzeit (am Beispiel von Johannes Fabricius Montanus, 1527-1566)

Franziska Quaas (Hamburg): Dimensionen militärischen Scheiterns in der Historiographie des frühen und hohen Mittelalters

Sektion II - Deutungen, Bewältigungsstrategien und Sinnstiftungen des Scheiterns
Moderation: Janina Lillge (Kiel)

Philipp Winterhager (Berlin): Mit den Mitteln eines Erzbischofs. Funktionen des Erzählens vom Scheitern in Vulkulds Vita des Bardo von Mainz

Marcus Martin (Kiel): swem got die gnâde gibet, daz er durch sînen schephaere hier geliget [...]. Zur narrativen Verarbeitung historischen Scheiterns in hagiographischer Absicht im Rolandslied des Pfaffen Konrad

Kilian Baur (Eichstätt-Ingolstadt): Wenn die Niederlage Gottes Wille ist. Das Phänomen Scheitern und Herrschaftswiederherstellungen in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung

Katharina Gedigk (Genéve): Fehlbarkeit als Chance oder: Die Notwendigkeit des Scheiterns in Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens

Moderation: Uta Görlitz (Kiel)

Jan Glück (München): Die soziale und politische Signifikanz des Scheiterns des Fuchses in der mittelalterlichen Tierepik

Anna Chalupa-Albrecht (Frankfurt am Main): Scheitern am Rest. Reliquiare, Reliquien und Rezipienten im Passional

Sarah Lehner (Wien): beidiu jâmer unde quâl von diesen sachen noch geschiht. Zum Prozess des Scheiterns im Buch von Akkon aus der Steirischen Reimchronik

Bernward Schmidt (Eichstätt-Ingolstadt): Sind Luthers Gegner gescheitert? Ein Versuch über Deutungen der Reformation

Sektion III - Poetologie des Scheiterns
Moderation: Daniel Eder (Kiel)

Manuel Braun (Stuttgart): Von den Schwierigkeiten, Scheitern zu begründen, zu erzählen und zu gestalten oder: Wissen, Narration und Rhetorik in Wernhers Helmbrecht

Mark Chinca (Cambridge): Poesie des Scheiterns. Zur Unfähigkeits- und Unsagbarkeitstopik bei Gottfried von Straßburg

Ulrich Hoffmann (Münster): Scheitern nach Plan. Möglichkeiten und Grenzen im Erzählen vom Tabu (Thüring von Ringoltingen: Melusine)

Zusammenfassung: Margit Dahm (Kiel) und Timo Felber (Kiel)

Abschlussdiskussion

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