Moyen Âge vs. Mittelalter ? Un Moyen Âge franco-allemand : perspectives et objets actuels

Moyen Âge vs. Mittelalter ? Un Moyen Âge franco-allemand : perspectives et objets actuels

Organisatoren
Georg Jostkleigrewe, Universität Halle; Klaus Oschema, Universität Bochum
PLZ
06108
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
22.09.2022 - 24.09.2022
Von
Willem Derek Fiene, Professur für Geschichte des Mittelalters, Universität Halle

Der deutsch-französische Austausch kann auf eine lange Tradition in der Mediävistik zurückblicken und überdauert den allgegenwärtigen Wandel des Fachs in Forschung und Lehre beständig. Wie GEORG JOSTKLEIGREWE (Halle/Saale) und KLAUS OSCHEMA (Bochum) in ihrer Einführung zum Workshop betonten, existieren bereits verschiedene Foren des Austausches, die nicht zuletzt durch die Forschungsbiographien der Teilnehmenden präsent waren. Ziel der Veranstaltung war es daher ausdrücklich nicht, in Konkurrenz zu bestehenden Austauschformaten zu treten, sondern nach weiteren Ideen für die transnationale Kooperation zu suchen und die bestehenden Gesprächsfäden weiter zu spinnen. Das vielleicht zentrale Ergebnis der Abschlussdiskussion soll an dieser Stelle vorweggenommen werden: Eine weitere Vernetzung ist geplant und zu diesem Zweck soll unter anderem eine Mailingliste eingerichtet werden. Alle Interessentinnen und Interessenten sind herzlich eingeladen, sich per E-Mail an Georg Jostkleigrewe zu wenden.

In einem Impulsreferat konturierte PHILIPPE DEPREUX (Hamburg) mit Blick auf das Frühmittelalter, wie insbesondere geteilte Gegenstände der karolingisch-fränkischen Geschichte ein Spannungsfeld „zwischen europäischer Identität und nationalen Traditionen“ evozieren. Im Dialog zwischen deutschsprachiger und frankophoner Forschung zeige sich methodisch, dass im Grunde nichts selbstverständlich sei. Depreux kontrastierte die deutschsprachige Forschungstradition, die viel Wert auf begriffliche Präzision und Gründlichkeit lege, mit der frankophonen Forschungstradition, die stärker an der Geographie als an der Philosophie orientiert sei und jenseits begrifflicher Debatten mehr Raum für intellektuelle Kreativität lasse. Mit Blick auf die geteilte Geschichte des Frühmittelalters scheine die Differenz der Forschungsansätze überwunden und vielfach der Beweis erbracht, wie die komplementären Traditionen aneinander ergänzen können. Allerdings ließe sich in den letzten Jahren keine Intensivierung dieses produktiven Austausches beobachten, wobei Depreux die veränderten Sprachkenntnisse als wesentlichen Grund identifizierte. Beispielsweise nehme zwar die Zahl der deutsch-französischen Studiengänge zu, aber die Zielgruppe erweitere sich nicht. Nichtsdestoweniger bleibe der regard croisée für die Mediävistik wichtig, da sich aktuell wieder beobachten lasse, wie historische Phänomene der mittelalterlichen Epoche und damit aus überwiegend vornationaler Zeit wieder zunehmend unter nationalen Vorzeichen politisiert würden.

Die Fruchtbarkeit der grenzüberschreitenden Arbeit bewiesen die verschiedenen Vorträge zu aktuellen Forschungsvorhaben. Drei Beiträge behandelten vom deutschen und französischen Sprachraum geteilte Gegenstände und lassen sich zu einer ersten Gruppe zusammenfassen:

MATTHIAS ROZEIN (Lüttich) referierte zu den unterschiedlichen Forschungstraditionen hinsichtlich der vorgregorianischen Papstgeschichte in Deutschland und Frankreich. Zwar sei der Blick nach Rom allenthalben zu finden, aber viel stärker in konfessionelle als in nationale Fragen eingebunden, auch wenn sich mitunter länderspezifische Methodentraditionen beim universalen Gegenstand des Papsttums erkennen ließen. Vor diesem Hintergrund skizzierte Rozein den Forschungsansatz seines Dissertationsprojekts und plädierte dafür, die gewohnte Blickrichtung umzukehren, also von den regna nach Rom zu schauen, um die Einbindung des Papsttums als in unterschiedlichen Kontexten angerufene Autorität zu untersuchen.

AMÉLIE SAGASSER (Paris) verglich die Judenprivilegien im römisch-deutschen Reich und Frankreich anhand von Herrscherurkunden und Sammlungen des kanonischen Rechts. Auf der einen Seite könne im römisch deutschen Reich eine vergleichsweise umfassende Gewährung von Privilegien beobachten werden, die auf Urkunden Ludwigs des Frommen Bezug genommen und eine eigenständige Tradition ausgebildet habe. Auf der anderen Seite finde sich der Judenschutz in Frankreich vor allem im Zusammenhang mit der Kreditpolitik formuliert, nicht aber mit Blick auf den Schutz der Personen selbst. Dadurch sei die jüdische Bevölkerung zum Spielball zwischen König und lokalen Herrschaftsträgern geworden, wie an der Benutzung von Possessivpronomina für die jüdische Bevölkerung sinnfällig werde, die in dieser Form keine Entsprechung im römisch-deutschen Reich kenne. In beiden Herrschaftsgebilden seien Juden zwar servi genannt worden, jedoch mit unterschiedlicher Bedeutung. Weitergehend präsentierte Sagasser erste Untersuchungsergebnisse zur Intertextualität und historischen Kontextualisierung von Texten des kanonischen Rechts, wobei sie ein Textkorpus beeindruckenden Umfangs in den Blick nimmt.

KATHARINA SCHÜPPEL (Bamberg) präsentierte ein Projekt zu Madonnenskulpturen mit metallenen Oberflächen als einer von Frankreich, Deutschland und Nordspanien bzw. Katalonien geteilten Objektgruppe. Diese Skulpturen untersucht sie zum einen mit einem objektgeschichtlichen Ansatz aber auch mit Blick auf die Materialität. Dabei verglich sie Skulpturen aus Gold, Silber und Blei und beobachtete beispielsweise, dass die Konjunkturen dieser Metalle als Zahlungsmittel und Währung nicht mit dem Entstehen der entsprechenden Skulpturen übereinstimmten. Darüber hinaus plädierte sie dafür, bei der kunstgeschichtlichen Analyse vormoderner Objektgruppen nicht allein nach dem vermeintlichen Urbild zu suchen, sondern vielmehr mit den Begriffen der Serialität und Variation zu arbeiten.

Eine zweite Gruppe von Vorträgen umfasste Arbeiten aus dem deutschen Sprachraum zur französischen Geschichte:

ANNE GREULE (Jena) präsentierte die Ergebnisse ihrer Dissertation über die Predigttätigkeit des Alanus ab Insulis. Sie unterzog die oftmals vernachlässigte Textgruppe der Predigten einer grundlegenden Revision und erarbeitete auf dieser Grundlange eine neue Beurteilung des Alanus als Pariser Magister. Er sei keiner der üblichen „Schulen“ von Chartres oder Paris zuzuordnen und seine Geburt erst um das Jahr 1140 anzusetzen. Ebenso sei seine intellektuelle Biographie vor dem wissensgeschichtlichen Kontext des sozialen Milieus zu verstehen, das den fruchtbaren Boden für weitere Institutionalisierungen der Wissensvermittlung im 13. Jahrhundert darstellte. Beispielsweise zeige sich bereits bei Alanus eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Wissensdisziplinen. Während die auf Gott gerichtete Theologie für ihn zwar die höchste Wissenschaft gewesen sei, habe er den artes als propädeutischer Hinführung einen ebenso unschätzbaren Wert beigemessen und dort auch naturphilosophisches Wissen integriert.

Ebenfalls nach Paris und auf die dortige Institutionalisierung von Wissensvermittlung blickte MARIA KAMMERLANDER (Paris/Freiburg). Ausgehend von einer Lektüre der Ansprache Vivat rex des Jean Gerson formulierte sie weitreichende Thesen zur Anbindung der Pariser Universität an das politische Machtzentrum der französischen Monarchie. Seit der gewaltsamen Eskalation der Parteikämpfe von 1407 hätten Magister versucht, ihre politische Stellung durch die institutionelle Anbindung an die Pariser Universität zu behaupten, während gerade die Frage, wie die Grenzen der Institution zu bestimmen seien, wer also dazu gehöre oder für die Institution sprechen dürfe, von den Zeitgenossen heftig debattiert wurde. Schon die Chronistik des 15. Jahrhunderts weise der Universität eine politische Bedeutung zu, zeichne aber kein kohärentes Bild der institutionellen Grenzen. Die spezifische gesellschaftliche Stellung der fille du roy sei also gebunden an die Selbstbehauptungsstrategien des beobachtend-räsonierenden Milieus und damit nicht zuletzt der Nützlichkeit von Wissen, was im Gegenzug jedoch Anlass gebe, den Stellenwert der Universität als Institution zu hinterfragen.

SEBASTIAN GENSICKE (Paris) präsentierte erste Ergebnisse einer Untersuchung der bischöflichen Urkundenausfertigung in der Kirchenprovinz Reims für den Zeitraum von 1050 bis 1150. Im Rahmen seiner Dissertation bedient er sich sowohl diplomatischer als auch netzwerkanalytischer Methoden. In seinem Vortrag fokussierte er den besonderen Fall der eng kooperierenden Bischöfe von Reims, Soissons und Laon, die sich mit den Grafen von Roucy demselben Konfliktgegner gegenübergestellt sahen und immer wieder gemeinsam in Urkunden in Aktion traten.

YANNICK POUIVET (Trier) nutzte ebenfalls netzwerkanalytische Methoden im Rahmen seiner Dissertation, um die aus dem 14. Jahrhundert überlieferten Akten der südfranzösischen Inquisition mit beeindruckender Detailarbeit nach häretischen Strukturen zu befragen. Insbesondere die Beherbergungspraxis erlaubt es ihm, jenseits aktuell verhärteter Fronten in der Debatte um die Konstruktion oder Dekonstruktion des Gegenstandes durch Inquisitoren und moderne Forschung vielmehr handfeste Ergebnisse auf Ebene der konkreten Interaktion zu erzielen, die die festgefahrene Diskussion für die Spätzeit der „Katharer“ nur bereichern können.

OLIVIA MAYER (Klagenfurt) fokussierte auf den französischen Anteil ihres Dissertationsvorhabens zur Magieanklage gegen adelige Frauen, für das sie englische und französische Fälle vergleichend untersucht. Als Beispiel diskutierte Mayer den Fall der Mathilde von Artois, gegen die am Tiefpunkt ihrer politischen Biographie prominent Magievorwürfe vorgebracht wurden. Zum einen war ihr Ansehen in der französischen Hofgesellschaft durch den Ehebruchskandal ihrer Töchter Johanna und Blanka zu Schaden gekommen. Beide Töchter waren mit Söhnen Philipps IV. und späteren Königen (Philipp V. und Karl IV.) verheiratet. Bianka soll sich allerdings zusammen mit Margarethe von Burgund, – einer weiteren Schwiegertochter Philipps IV., die mit dessen ältesten Sohn Ludwig (X.) verheiratet war, –in der berüchtigten Tour de Nesle mit einem normannischen Brüderpaar getroffen haben, während Johanna der Mitwisserschaft bezichtigt wurde. Zum anderen sah Margarethe ihre Machtansprüche im Artois untergraben, da artesische Adel mit einem Aufstand gegen sie opponierte und auch der Erbschaftsstreit um die Grafschaft Artois erneut losbrach. Nichtsdestoweniger sei es Mathilde gelungen, sich gegen die Versuche zu behaupten, sie sozial zu isolieren. Wie Mayer zeigte, sei Mathilde vielmehr bestens in der französischen Hof- und Adelsgesellschaft vernetzt gewesen und habe auch die juristische Expertise in ihrem Umfeld zu nutzen gewusst, sodass die Magieanklage gegen sie letztlich scheiterte.

PHILIPP STENZIG (Düsseldorf) stellte ein Editionsvorhaben zum Ende des Großen Abendländischen Schismas in den Ländern des Grafen von Armagnac vor, das dort noch bis in die 1430er-Jahre und darüber hinaus für den heutigen Blick mitunter skurrile Blüten trieb. Der Graf von Armagnac habe versucht, Majestätsrechte für sich zu beanspruchen und habe auch kirchenpolitisch autonom agieren wollen, sodass er exilierte Mitglieder der Universität von Toulouse bei sich aufnahm und sich zusammen mit ihnen noch lange nach 1417 zur avignonesischen Obödienz bekannte. Stenzig gelang es mit Blick auf das bekannte Fallbeispiel noch unbekanntes Material in den umfangreichen Beständen der Pariser Nationalbibliothek ausfindig zu machen, womit er das bekannte Überlieferungsbild anreichern kann und nun durch das Editionsvorhaben dem Kreis der Interessierten zugänglich machen will.

Die Abschlussdiskussion kreiste zum einen um die Frage der weiteren Vernetzung. Neben dem bereits erwähnten Ergebnis, dass eine Mailingliste eingerichtet werden soll, wurde der Plan gefasst, in Zukunft regelmäßige Treffen anzugehen. Zum anderen wurden die Bedingungen und Möglichkeiten des deutsch-französischen Austausches thematisiert. Besonders die sich verändernden Sprachkenntnisse der Studierenden und des wissenschaftlichen Nachwuchses boten Gesprächsstoff. Dabei wurde zusammenfassend beobachtet, dass sich das Fach in zweifacher Hinsicht im Umbruch befindet, und dies auf beiden Seiten des Rheins auf ähnliche Weise. Einerseits globalisieren sich die nationalen Fachkulturen zunehmend, sodass Karrieren und Forschungsvorhaben stetig internationaler werden (können) und globalgeschichtliche Perspektiven immer wieder dazu anhalten (können), das klassisch verstandene, lateinische Mittelalter in Forschung und Lehre zu „provinzialisieren“. Gleichzeitig lässt sich eine Exotisierung der klassischen Mediävistik selbst beobachten, da andere Räume und Epochen zunehmend in den Fokus rücken. Diese doppelte Entwicklung scheint in besonderem Maße auf den Kontakt zwischen deutschsprachiger und frankophoner Mediävistik zu wirken. Das Englische als neue lingua franca fundiert den Dialog zwar zunehmend auf „neutralem“ Boden, verortet das Gespräch aber an sich wiederum in anderen fachlichen Kontexten und Traditionen. Mehr noch: Was den persönlichen Austausch zwar befördern mag, reicht wiederum oft nicht aus, um sich die Forschungstraditionen der jeweils anderen Seite produktiv aneignen zu können, da deren elaborierte Fachprosa eben nur selten übersetzt wird. Die Vorträge der Veranstaltung verdeutlichten, dass der Austausch weiterhin fruchtbar und für die Bearbeitung vieler Themen unabdinglich bleibt. Große Einigkeit herrschte in diesem Sinne darüber, dass die zu Beginn dieses Berichts erwähnte Tradition des deutsch-französischen Austausches immer wieder unter den veränderten Rahmenbedingungen aktualisiert zu werden verdient.

Konferenzübersicht:

Georg Jostkleigrewe (Halle/Saale)/Klaus Oschema (Bochum): Begrüßung und Einführung

Anne Greule (Jena): Prediger der Transformation. Alain von Lille und die Pariser Schulen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts

Maria-Elena Kammerlander (Paris): La fille du roy. Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Universität in Paris

Olivia Mayer (Klagenfurt): Gescheiterte Magieanklage. Familienstreit um die Grafschaft Artois

Philippe Depreux (Hamburg): Impulsreferat: Das Frühmittelalter im Spannungsfeld zwischen europäischer Identität und nationalen Traditionen

Matthias Rozein (Lüttich), L’histoire des papes en français ? Médiévistique francophone et recherches sur les papes du haut Moyen Âge – Papstgeschichte en français? Französischsprachige Mediävistik und frühmittelalterliche Papstforschung

Sebastian Gensicke (Paris): Ein Netzwerk in Aktion? Die gemeinsamen Urkundenausstellungen der Bischöfe Samson von Reims, Joscelin von Soissons und Bartholomäus von Laon

Amélie Sagasser (Paris): Judenprivilegien im Reich vs. Privilèges des juifs au Royaume de France (11. bis 13. Jahrhundert)

Yannick Pouivet (Trier): Häretische Netzwerke Okzitaniens um 1300. Das „katharische“ Beherbergungssystem im Spiegel der Inquisition des Bernard Gui, Geoffroy d’Ablis und Jacques Fournier

Philipp Stenzig (Düsseldorf): Unedierte Quellen zum Ende des Großen Abendländischen Schismas in den Ländern des Grafen von Armagnac

Katharina Schüppel (Bamberg), Mittelalterliche Madonnenskulpturen mit metallenen Oberflächen. Französische und deutsche Perspektiven auf einen geteilten Gegenstand

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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Französisch, Deutsch
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