Holocaust vor der Haustür: Todesmärsche ungarischer Juden im Spiegel von Nachkriegsjustiz und Erinnerungskultur

Holocaust vor der Haustür: Todesmärsche ungarischer Juden im Spiegel von Nachkriegsjustiz und Erinnerungskultur

Organisatoren
Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, Graz; Institut für Geschichte, Universität Graz; Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
PLZ
8010
Ort
Graz
Land
Austria
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
10.10.2022 - 10.10.2022
Von
Nadjeschda Stoffers, Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung

Als sich im April 1945 die Rote Armee näherte, zwangen SS-Mannschaften zehntausende ungarische jüdische Zwangsarbeiter:innen vom Bau des Südostwalls in Richtung KZ Mauthausen. Diese „Todesmärsche“ überlebten viele Gefangene nicht – aufgrund von Erschöpfung und Hunger oder weil sie unterwegs erschossen wurden. So fanden in Rechnitz, am Präbichlpass bei Eisenerz oder auch im Lager Liebenau Massenerschießungen statt. Einige dieser sogenannten Endphaseverbrechen wurden in der Nachkriegszeit vor alliierten Gerichten und österreichischen Volksgerichten prozessiert, danach „verschwand“ der „Holocaust vor der Haustür“ für Jahrzehnte aus dem öffentlichen Gedächtnis.

Aus Anlass des 75. Jahrestages des Liebenauer Prozesses veranstalteten das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung (BIK), das Institut für Geschichte der Universität Graz und das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien am 10. Oktober 2022 eine wissenschaftliche Konferenz zu den Themen Nachkriegsjustiz, Erinnerungskultur und Familiengedächtnis (Organisation: Lena Wallner & Martina Schneid). Neben Beiträgen von Wissenschaftler:innen kamen auch Nachkommen von zu Tode verurteilten Tätern zu Wort. Die Konferenz fand im Meerscheinschlössl an der Universität Graz statt und wurde von der Energie Steiermark AG, der Stadt Graz, dem Land Steiermark sowie dem Zukunftsfonds der Republik Österreich gefördert.

Unter der Moderation von PHILIPP LESIAK (Graz) sprachen CHRISTIAN HEUER (Graz), BARBARA STELZL-MARX (Graz) und KERSTIN VON LINGEN (Wien) sowie die Vertreter:innen der fördernden Institutionen URS HARNIK-LAURIS (Graz), GÜNTER RIEGLER (Graz), ELKE KAHR (Graz) sowie ALEXANDRA PICHLER-JESSENKO (Graz) Gruß- und Eröffnungsworte aus.

In seiner Funktion als Chair des ersten Panels betonte SIEGFRIED BEER (Graz) die Rolle der britischen Besatzungsmacht bei der Aufarbeitung der steirischen Endphaseverbrechen, anschließend begann Barbara Stelzl-Marx mit der Präsentation der Forschungen des BIK zum Lager Liebenau. Das Areal des ehemaligen Lagers bezeichnete sie als „verdichteten Kristallisationspunkt“ örtlicher Geschichte sowie der Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Nachdem im Mai 1947 Opfer der „Todesmärsche“ exhumiert worden waren, fand im Herbst desselben Jahres der fünftägige Liebenauer Militärgerichtsprozess statt. Mit den Vernehmungen von rund 60 Zeug:innen und den über zwei Täter verhängten Todesurteilen zog der Prozess große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, geriet danach aber weitestgehend in Vergessenheit, so Stelzl-Marx. Erst aufgrund eines Wasserkraftwerks, das auf dem Gelände gebaut werden sollte, wurde dem „unsichtbar“ gewordenen ehemaligen Lager Liebenau ab dem Jahr 2011 verstärkt Beachtung geschenkt.

CLAUDIA KURETSIDIS-HAIDER (Wien) beleuchtete in ihrem Beitrag ausgewählte österreichische Volksgerichtsprozesse an den Oberlandesgerichten Wien, Graz, Linz und Innsbruck zu den „Todesmärschen“. Sie betonte, dass durch die örtliche Unmittelbarkeit der Märsche und die dementsprechende direkte Zeug:innenschaft der ansässigen Bevölkerung über diese Endphaseverbrechen in den ersten Nachkriegsjahren durchaus gesprochen wurde: Die Täter hatten ihre Verbrechen in aller Öffentlichkeit verübt und waren oft ortsbekannt. Anhand der sechs Engerauer Prozesse zeichnete Kuretsidis-Haider exemplarisch die immer wiederkehrenden Berufungen auf „Befehlsnotstand“, die Urteile sowie die in mehreren Fällen stattgefundene spätere Begnadigungen durch Bundespräsidenten nach.

Nach der Kaffeepause referierten NICOLE-MELANIE GOLL (Wien) und GEORG HOFFMANN (Wien) im zweiten Panel (Chair: Kerstin von Lingen) über den Verbrechenskomplex Graz-Wetzelsdorf. Goll beleuchtete die Untersuchungen von österreichischer, britischer und US-amerikanischer Seite sowie die verschiedenen Opfergruppen. Sie attestierte dem Verfahren grobe Mängel bei der Vorbereitung des Prozesses sowie Verfahrens- und Taktikfehler und wies auf nicht weiter verfolgte Widersprüche in den Aussagen hin. Hoffmann analysierte denselben Prozess mit Blick auf die Opfergruppen und verschiedenen Täterebenen (Führung, Umsetzung, Durchführung). Er konstatierte, dass im Laufe des Prozesses der Verbrechenskomplex als losgelöstes Einzelverbrechen behandelt wurde. Damit einhergehend wurde eine „Reduktion der Täterschaft“ sowie die Abkoppelung von anderen Verbrechensorten wie dem Lager Liebenau oder dem Raum Feliferhof vollzogen. Dementsprechend, so Hoffmann, kam es zu keiner Verurteilung; auch dieser Fall geriet nach Beendigung des Verfahrens in Vergessenheit.

JOHANNES GLACK (Wien) rekonstruierte in seinem Vortrag verschiedene Tätermotive bei Endphaseverbrechen im Raum Scheibbs durch eine Analyse von Volksgerichtsakten. Die drei von ihm untersuchten Massaker wurden von Angehörigen der Hitlerjugend, der SS, des SD, der lokalen Verwaltung und der Partei verübt. Glack konstituierte, dass die Täter ihren Taten eine ideologische Deutung als „Kampf gegen innere Feinde“ nach Vorbild des „Werwolf“-Gedankens beimaßen. Er betonte zudem, dass insbesondere aus der Perspektive kriegsversehrter Täter eine Beteiligung an den Morden die Möglichkeit bot, „soldatische Männlichkeit“ zu beweisen und wieder als aktiver Teil der Kameradschaft gesehen zu werden.

Nach der Mittagspause startete das dritte Panel, dessen Chair HEIDEMARIE UHL (Wien) innehatte. Zuerst sprach BARBARA GLÜCK (Wien) über die Herausforderungen und Möglichkeiten der Gedenkstättenarbeit. Sie berichtete über Kooperationen, die sich durch kontaminierte Orte in privatem Besitz ergaben, interaktive Gedenkbereiche sowie digitale und virtuelle Angebote der Gedenkstätte Mauthausen und gab einen Ausblick auf zukünftige Möglichkeiten, Erinnerungsarbeit zu leisten. Glück betonte auch die Bedeutung von Initiativen der Zivilgesellschaft, die versuchen, in Vergessenheit geratene Schauplätze von NS-Verbrechen wieder sichtbar zu machen.

Anschließend gab HANNA STEIN (Graz) einen Überblick über die Erinnerungskultur zum Lager Liebenau. Bezugnehmend auf theoretische Überlegungen von Aleida Assmann referierte sie über „intendiertes Vergessen“, Schweigen, die aktive Zerstörung von Erinnerungsträgern und Bebauung von kontaminierten Orten, wie den geplanten Bau eines neuen „Top-Spots“ am Gelände des ehemaligen Lager Liebenaus. Stein betonte aber auch Fortschritte in der Erinnerungsarbeit, etwa die mittlerweile vorgeschriebenen archäologischen Begleitungen der Grabungsarbeiten auf dem Gelände oder die Errichtung einer „Stolperschwelle“ am alten Puchsteg über die Mur. Sie zeichnete somit einen unbeständigen Wandel vom Vergessen zum Erinnern nach, verwies auf die Bedeutung archäologischer Funde im Zuge von Bauarbeiten und unterstrich die tragende Rolle von zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Akteur:innen.

Daran anknüpfend referierte MANFRED PFAFFENTHALER (Graz) zur Rolle der Zivilgesellschaft: Er gab zunächst einen begriffsgeschichtlichen Überblick und widmete sich anschließend einer Präsentation der „Meilensteine“ in Recherche, Aufarbeitung und Öffentlichkeitsarbeit zum Grünanger/Lager Liebenau als Gedächtnisort. So hob Pfaffenthaler u.a. Berichte von Zeitzeug:innen, Luftbildanalysen und archäologische Begleitmaßnahmen der Baustelle hervor, verwies aber auch auf die Arbeit von Nachbarschaftszentren, Schulprojekten und künstlerischen Interventionen. Abschließend betonte er die Errichtung zweier Gedenktafeln sowie das Mitwirken der Gedenkinitiative Graz-Liebenau an diversen Publikationen.

GEORG TIEFENGRABER (Wien) präsentierte in seinem Vortrag den Umgang mit potenziell historisch „belasteten“ archäologischen Fundstücken aus dem ehemaligen Lagerareal aus musealer Perspektive. Er beschrieb den Prozess des Aufnehmens, Lagerns, Auswählens, Sortierens, Dokumentierens und Zugänglichmachens von mehreren Tonnen Fundmaterial, die auf dem Gelände des ehemaligen Lager Liebenaus und auf den Reininghaus-Gründen gefunden worden waren. Tiefenthaler hob das Wirken der 2020 gegründeten Stadtarchäologie (Graz Museum) hervor und gab einen Überblick betreffend der Fundbestände, deren Eigentümer sowie des mehrstufigen Übernahmeprozesses und der Erstellung eines Thesaurus.

Nach der Kaffeepause fand ein Runder Tisch unter der Moderation von Barbara Stelzl-Marx statt, in dem drei Nachfahr:innen von zu Tode verurteilten Tätern sowie MARGIT REITER (Salzburg) über Familiengedächtnisse und den innerfamiliären Umgang mit den verurteilten (Groß-)Vätern sprachen. Berichtet wurde u.a. von Tabuisierungen der Verbrechen im Lager Liebenau und am Präbichl-Pass innerhalb der Familien, den verschiedenen Möglichkeiten und Formen, die begangenen Verbrechen (auch transgenerational) aufzuarbeiten sowie Anstößen dazu, die oft von außen kamen. Weiters wurde der eigene Umgang mit den verurteilten Vorfahren angesprochen, ebenso die vielen Facetten von (Mit-)Täter:innenschaft und Fragen der Schuld und Scham sowie der Verantwortung. Auch die unterschiedlichen innerfamiliären Reaktionen zur eigenen Aufarbeitung und Teilnahme an der Podiumsdiskussion wurden thematisiert. Im Anschluss zeigte das Publikum großes Interesse und auch das Bedürfnis, eigene Erlebnisse zu erzählen. Zusammenfassend wurde auf die Bedeutung von Familiennarrativen zwischen Tabuisierung, Hinweisen, Andeutungen und Idealisierungen und insbesondere die Rolle von Frauen bzw. Müttern im transgenerationalen Familiengedächtnis verwiesen.

Als letzter Programmpunkt wurde der Film „Lager Liebenau. Ein Ort verdichteter Geschichte“ von Markus Mörth gezeigt, in dem u.a. von wissenschaftlicher, zivilgesellschaftlicher und politischer Seite zu der ortsgebundenen Aufarbeitung des ehemaligen Lager Liebenaus Stellung bezogen wurde. Nach den Schlussworten von Barbara Stelzl-Marx und Kerstin von Lingen wurde zum Empfang der Bürgermeisterin der Stadt Graz geladen.

Die Konferenz bot vielschichtige Einblicke in die Themenfelder Nachkriegsjustiz, Erinnerungskultur und Familiengedächtnis. Nach sämtlichen Konferenzbeiträgen sowie dem Runden Tisch strichen lebhafte Nachfragen und Diskussionen das weitere Potenzial dieser Forschungsfelder hervor. Bereichert wurde die Tagung durch die Vorstellung diverser Perspektiven von Wissenschaft, Museen, Gedenkstätten und zivilgesellschaftlichen Engagements sowie den Beiträgen von Nachkommen verurteilter Täter über transgenerationale innerfamiliäre Umgangsweisen.

Konferenzübersicht:

(Organisation: Lena Wallner & Martina Schneid)

9.00-9.30 Uhr – Begrüßung und Eröffnung

Moderation: Philipp Lesiak (Graz)

Christian Heuer (Graz)
Barbara Stelzl-Marx (Graz)
Kerstin von Lingen (Wien)
Urs Harnik-Lauris (Graz)
Günter Riegler (Graz)
Elke Kahr (Graz)
Alexandra Pichler-Jessenko (Graz)

9.30-11.00 Uhr - Panel 1: Nachkriegsjustiz I

Chair: Siegfried Beer (Graz)

Heimo Halbrainer (Graz): "Rückführung der Juden aus dem Stellungsbau". Die Todesmärsche ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter durch die Steiermark 1945 (abgesagt)

Meinhard Brunner (Graz): „Military Government Courts are established for the occupied territory …” Britische Nachkriegsjustiz in der Steiermark im Überblick (abgesagt)

Barbara Stelzl-Marx (Graz): Zum Tode verurteilt. Der Liebenauer Prozess 1947

Claudia Kuretsidis-Haider (Wien): „Im Namen der Republik“ Todesmärsche ungarischer Jüdinnen und Juden im Spiegel der Justizakten der österreichischen Volksgerichte nach 1945 (vorgezogen)

11.30–13.00 Uhr – Panel 2: Nachkriegsjustiz II

Chair: Kerstin von Lingen (Wien)

Nicole Goll (Wien) / Georg Hoffmann (Wien): The Wetzelsdorf Case. Britische Untersuchungen, amerikanische Nachkriegsprozesse und die Suche nach Opfern sowie Tätern

Johannes Glack (Wien): „Unserem Vaterland feindlich gesinnt und möglicherweise gefährlich“ Rekonstruktion von Tätermotiven bei Endphaseverbrechen im Kreis Scheibbs aufgrund von Volksgerichtsakten

14.00–15.30 Uhr – Panel 3: Erinnerungskultur

Chair: Heidemarie Uhl (Wien)

Hanna Stein (Graz): Das Lager Liebenau im Spiegel der Erinnerungskultur

Barbara Glück (Wien): Erinnern an Todesmärsche ungarischer Juden nach Mauthausen und Gusen

Manfred Pfaffenthaler (Graz): Zur Rolle der Zivilgesellschaft

Georg Tiefengraber (Wien): Archäologische Funde aus dem Areal des ehemaligen Lagers Liebenau. Zum Umgang mit potenziell historisch „belasteten“ Fundstücken

16.00–17.15 Uhr – Panel 4: Runder Tisch: Familiengedächtnis

Moderation: Barbara Stelzl-Marx (Graz)

Teilnehmer:innen:
Brigitte Hirner (Schwerpunkt Eisenerz)
Heidemarie Pekler (Schwerpunkt Lager Liebenau)
Margit Reiter (Salzburg)
Christian Schmidt (Schwerpunkt Eisenerz)

17.15–18.00 Uhr Film

„Lager Liebenau. Ein Ort verdichteter Geschichte“ von Markus Mörth

18.00 Uhr Schlussworte

Kerstin von Lingen (Wien)
Barbara Stelzl-Marx (Graz)

Im Anschluss

Empfang der Bürgermeisterin der Stadt Graz