Identitätskonstruktionen für das Ruhrgebiet seit den 1970er-Jahren

Identitätskonstruktionen für das Ruhrgebiet seit den 1970er-Jahren

Organisatoren
Sarah Thieme, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Juliane Czierpka, Ruhr-Universität Bochum; Florian Bock, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
14.01.2022 - 24.06.2022
Von
Constanze von Wrangel, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum; Rike Richstein, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Die Veranstalter:innen der Workshopreihe „Identitätskonstruktionen für das Ruhrgebiet seit den 1970er-Jahren“ Sarah Thieme (Münster), Juliane Czierpka (Bochum) und Florian Bock (Bochum) fanden auf die Planungsunsicherheit in pandemischen Zeiten eine ebenso kluge wie überzeugende Antwort. Anstatt die Vorträge und Diskussionen in einem klassischen Präsenzworkshop anzubieten, wurden die Inhalte im ersten Halbjahr 2022 in sechs monatlichen, digitalen Sitzungen diskutiert. Dies ermöglichte eine längerfristige, kontinuierliche und intensive Auseinandersetzung mit Fragen zu Identitätskonstruktionen im Ruhrgebiet. Der Workshop wurde im Juni mit einer hybriden Abschlussveranstaltung im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum abgerundet. Jede Sitzung stand dabei unter einer von den Veranstalter:innen formulierten These, auf die Vorträge und anschließende Diskussionen Bezug nahmen.

„Das Ruhrgebiet eint eine Kern-Identität“ – lautete etwa die erste dieser Thesen. In diese Kern-Identität gingen, so die Veranstalter:innen, Bilder von „Kumpel-Mentalität“, hart arbeitenden Menschen und einem solidarischen Miteinander ein. Sie speise sich aus den Mythen der Montangeschichte des Ruhrgebiets und schließe dabei Teile der Bevölkerung aus, die sich nicht in den Erzählungen wiederfinden. Damit verbunden war die grundsätzliche Annahme und Kritik einer vereinheitlichenden, sehr positiven Erzählung der Ruhrgebietsgeschichte für die Zeit nach dem Strukturwandel, in der Schattenseiten der Geschichte nicht zum Ausdruck kommen.
Auch den folgenden Sitzungen waren Thesen zugeordnet, welche die Kritik an einer politisch-gestifteten Kern-Identität des Ruhrgebiets erweiterten und etwa deren Funktionalisierung als Tourismus- und Marketinginstrument oder deren nostalgische Inszenierung durch die nächste, vom Bergbau entfremdete Generation kritisierten. Einige der Thesen verbanden sich mit der Forderung nach multipleren Identitätsangeboten im Ruhrgebiet, so etwa durch differenziertere Erzählungen von Migrationsgeschichten oder eine Stärkung von Frauengeschichten, welche die männlich dominierten Narrative ergänzen.

Neben den einzelnen Vorträgen zu verschiedenen Untersuchungsgegenständen entzündeten sich die Diskussionen im Nachgang immer wieder vor allem an einigen zentralen Punkten. So wurde beispielsweise kritisiert, dass der Begriff der „Identität“ zu Beginn der Veranstaltung nicht klar definiert wurde und im Plenum das Für und Wider verschiedener Eingrenzungen des Begriffs besprochen. Dabei wurde auch die Sinnhaftigkeit des Identitätsbegriffs insgesamt infrage gestellt und mögliche Alternativen, wie etwa die der „Identifikation“ nach Stuart Hall, vorgeschlagen. Dies verdeutlichte eindrücklich die Schwierigkeiten, mit denen Arbeiten zu Identitätskonstruktionen seit jeher in der Geschichtswissenschaft befasst sind.1 Zu diesen Fragen gehörten auch Überlegungen dazu, inwiefern Forschende selbst an der Konstruktion von kollektiven Identitäten mitwirken und welche Verantwortung z.B. bei der Bildung historischer Narrative Historiker:innen zukommt.
Einen weiteren zentralen Punkt des Workshops bildete die Diskussion um das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der sogenannten Kernidentität: So wurde unter Berufung auf Stuart Hall2 das Vorhandensein eines essentialistischen Identitätskerns verneint und der konstruktive und veränderbare Charakter regionaler Identitätsgefüge diskutiert, die immer nur im Sinne von Selbstzuordnung und Identifikation mit Narrativen über die Region existieren können. In diesem Zusammenhang wurde auch über Exklusivität und Offenheit von Identitätsnarrativen im Ruhrgebiet diskutiert und auf deren bereits bestehende Erweiterungen hingewiesen, etwa durch neue, bereits existierende Geschichtsschreibung von Frauen oder die Geschichte der Ruhrpolen. Die vermeintlich existierende Ruhrgebietsidentität sei daher weniger einheitlich als angenommen, sie sei durchaus integrativ und erweiterungsfähig, so ein Teilnehmer. Dass Identitätserzählungen auch als situatives Argument von unterschiedlichen Akteuren wie auch den Betroffenen selbst verwendet werden können, wurde am Beispiel des Kampfes um den Erhalt von Arbeitersiedlungen in den 1970er Jahren deutlich.

Nur angeschnitten wurde in der Veranstaltungsreihe das komplexe und sich wechselseitig beeinflussende Verhältnis zwischen (politischen) Akteuren, medialer Berichterstattung und der Bevölkerung selbst. Die Vorstellung von politisch top-down initiierten Identitätsnarrativen, denen sich die Ruhrgebietsbevölkerung unterordnet, greift wohl zu kurz. Denn erst in dem Aushandlungsprozess von Selbst- und Fremdzuschreibung, gezielter medialer Kommunikation, Adaption und Reproduktion können sich Narrative über das Ruhrgebiet (und dadurch auch Identitätsangebote) etablieren und entfalten. Eine Arbeit, in der die unterschiedlichen Wirkungen von regionalen Identifikationsangeboten in der Bevölkerung des Ruhrgebiets, ihre Adaption, Reproduktion, Erweiterung, Zustimmung oder Ablehnung untersucht werden, steht noch aus.
Durch alle Sitzungen zog sich das wichtige, immer wiederkehrende Plädoyer für eine Stärkung multiperspektiver Erzählungen der Regionalgeschichte. Die Veranstaltungsreihe endete mit einem hybriden Veranstaltungstag in Bochum. Insgesamt konnte die ausführliche Workshopreihe viele Forschende und Interessierte in einem innovativen Format zusammenbringen und wichtige Denkanstöße für weiterführende Forschung geben. Deutlich wurde aber auch, dass sich in dem komplexen Forschungsfeld regionaler Identitätsgefüge weiterhin offene Fragen anschließen: So lohnt sich wohl vor allem die Beschäftigung mit bisher vernachlässigten Aspekten wie zum Beispiel der vitalen Seite nostalgischer Erzählungen, durch deren positive Aufladung des Vergangenen sich Utopien für etwas Neues in der Zukunft entfalten können. Weiterhin stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Umbenennung oder Vermeidung des Begriffs „Identität“, wenn die Diskurse darum so prägend für Gesellschaften sind.

Konferenzübersicht

These 1: Das Ruhrgebiet eint eine Kern-Identität

Florian Bock (Bochum), Juliane Czierpka (Bochum), Sarah Thieme (Münster): Einführung in die Kolloquiumsreihe

Marcus Böick/Christopher Kirchberg (Bochum): Krisenregionen in Konkurrenz? Vergleichs-, Transfer- und Kontrastperspektiven zwischen „Strukturwandel West“ und „Strukturbruch Ost“ vor und nach 1990

Katarzyna Noguiera (LWL Industriemuseum Zollern): (Bergbau)-Zeitzeugen als Repräsentanten regionaler Identität(en)

These 2: Verschiedene Akteursgruppen entfalten diese Kern-Identität spezifisch und konkret

Fabian Köster (Münster): Identitätsentwurf einer „besseren“ Zeit: Die Ausstellung Kunst der 60er Jahre in Gelsenkirchen (1988/89)

Jana Golombek (Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur): Little Ruhrgebiet – Arbeitersiedlungen als Kristallisationspunkte unterschiedlicher Ruhrgebietsidentitäten und -mythen?

These 3: Der Kern-Identität stehen innerregionale Konkurrenzen gegenüber

Gero Kopp (Bochum): „Echte Liebe“ oder „Kumpel- und Malocherclub“? Die Konstruktion von Ruhrgebietsidentitäten im (Profi-)Fußball

Fabian Fechner (Hagen): Identität und Migration – Möglichkeiten einer postkolonial sensiblen Bezugsgeschichte für das Ruhrgebiet

These 4: Bestimmte Akteursgruppen fördern die Pluralität von Identitäten

Lea Torwesten (Bochum): Industriepraktika, Betriebskerne, Wohnviertelapostolat und Arbeiterpriester – Das „Arbeiterbistum“ Essen, der Strukturwandel und neue alte Narrationen des Ruhrgebiets

David Rüschenschmidt (Münster): Christen und Muslime im Ruhrgebiet – interreligiöser Dialog als konstruktive Verarbeitung religiöser Pluralität

Julia Wambach (Berlin): Sport als emotionaler Anker regionaler Identität nach der Kohle, der Fall des FC Schalke 04

These 5: Das vereinheitlichte Narrativ unterliegt nostalgischen Inszenierungen

Helen Wagner (Nürnberg): Ruhri, Kumpel, Schmelztiegel. Identitätskonstruktionen für das Ruhrgebiet zwischen Ent- und Repolitisierung

Marco Swiniartzki (Jena): Die musikkulturelle Fortexistenz von Kohle und Stahl? Identitätskonstruktionen im Ruhrgebiets-Metal in den 1980er und 1990er Jahren

These 6: Das homogenisierte Identitätsnarrativ des Ruhrgebiets verdeckt die Diversität in der Region

Sara Atwater (Maastricht/Duisburg-Essen): Abseits von Kumpels und Currywurst: Konstruktionen des kulturellen Gedächtnisses durch Humorpraktiken von Frauen aus dem Ruhrgebiet und dem postindustriellem niederländischen Limburg

Stephan Borgmeier (Bochum): Ankommen im Revier: Kirche als Anker im Quartier

Daniel Schmidt (Gelsenkirchen): Von der Ruhr zur Emscher – vom Wandel eines industriestädtischen Selbstbildes am Beispiel Gelsenkirchens

Abschlussveranstaltung:

Sarah Thieme (Münster) & Juliane Czierpka (Bochum): Die Forschungslandschaft im Ruhrgebiet und ihr Einfluss auf kollektive Identitätskonstruktionen

Christian Bunnenberg (Bochum): Kommentar

Stefan Berger (Bochum): Kommentar

Petra Dolata (Calgary): Kommentar

Anja Junghans (Hattingen) & Igor Birindiba Batista (Wuppertal): Kommentar

Stefan Moitra (Bochum): Kommentar

Stefan Goch (Bochum): Keynote: Von der Selbstvergewisserung zum Event: Museumslandschaft Ruhrgebiet

Die umfangreiche Konferenzübersicht mit den Thesen, Vortragenden und Kommentator:innen ist einzusehen auch unter: https://www.ruhr-uni-bochum.de/ws-identitaeten-ruhrgebiet-2021/

Anmerkungen:
1 Die Veröffentlichungen dazu sind zahlreich, beispielhaft sei hier verwiesen auf Rogers Brubaker / Frederick Cooper, Beyond Identity, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1–47.
2 Stuart Hall, Who Needs Identity?, in: Ders. / Paul du Gray, Questions of Cultural Identity, London 1996.