10. Mitteldeutsche Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte

10. Mitteldeutsche Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte

Organisatoren
Florian Bruns, Technische Universität Dresden; Christian König, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
05.10.2022 - 05.10.2022
Von
Anne Thordis Wanke, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die 10. Mitteldeutsche Konferenz für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte fand 2022 erstmals als Kooperationsveranstaltung der genannten Institute der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Technischen Universität Dresden statt. Das Rahmenthema lautete „Psyche und Gesundheit in Krisen – Historische Perspektiven“. In sechs Vorträgen wurden Schlaglichter auf die psychischen und gesundheitlichen Auswirkungen von Krisen, mit Schwerpunkt auf historischen Erfahrungen der Neuzeit, geworfen.

Die erste Keynote-Session fokussierte auf die unmittelbare Gegenwart. RAINER PAPSDORF und SABINE SOMMERLATTE berichteten aus aktuellen Forschungsprojekten zu konkreten Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit.

RAINER PAPSDORF (Leipzig) legte dar, inwiefern die COVID-19-Pandemie und die Infektionsschutzmaßnahmen in Deutschland im Zeitraum von 2020 bis 2021 Einfluss auf Suizidalität und vollzogene Suizide hatten. Ausgehend von historischen Erfahrungen, in denen Krisen, Umbrüche und empfundene Bedrohungsmomente durchaus zu einem Anstieg der Selbsttötungen geführt hatten, sei dies auch zu Beginn der aktuellen Pandemie befürchtet worden. Basierend auf den gemeldeten Suizidtodesfällen aus polizeilichen Statistiken dreier deutscher Bundesländer (Rheinland-Pfalz, Sachsen, Schleswig-Holstein) mit insgesamt 11 Millionen Einwohner:innen untersuchten Papsdorf und Kollegen die Fallzahlen für den Zeitraum 2020–2021 retrospektiv im Vergleich mit einer statistisch aus den Datenjahren 2017–2019 berechneten Voraussage. Stratifiziert nach Geschlecht und Altersgruppe könne dabei im monatlichen Vergleich keine Zunahme der Suizidtodesfälle festgestellt werden. Zwar lägen nach Alter und Geschlecht betrachtet für einzelne Monate Abweichungen vor, in ihrer Gesamtzahl aber seien die Fallzahlen nicht über die errechneten Werte der Vorhersage angestiegen. Papsdorf betonte die Multifaktorialität suizidaler Handlungen. Im konkreten Fall könne der vorübergehend als stärker wahrgenommene soziale Zusammenhalt angesichts äußerer pandemischer Bedrohung als ein Schutzfaktor gegen suizidale Handlungen gewirkt haben.

Den psychischen Belastungen von Ärzt:innen und Pflegenden in der stationären Onkologie zu Zeiten der Pandemie in Deutschland widmete sich SABINE SOMMERLATTE (Halle/Saale). In der Versorgung von Krebspatient:innen seien während der Corona-Zeit mehrere Belastungen zusammengekommen: Neben den generellen Auswirkungen einer epidemischen Ausnahmesituation auf das Gesundheitswesen komme für das medizinische und pflegerische Personal in der Onkologie die zusätzliche Herausforderung der Versorgung, Betreuung und Begleitung von ohnehin lebensbedrohlich erkrankten Hochrisikopatient:innen hinzu. Vorliegende internationale Studien wiesen bereits eine daraus resultierende psychische Belastung nach, Sommerlattes Untersuchung ergänzt die vorhandenen Erkenntnisse um Daten aus Deutschland. Im Zeitraum der dritten Pandemiewelle von März bis Juli 2021 führte sie eine Online-Querschnittsbefragung unter Pflegenden und Ärzt:innen durch. Dabei sei deutlich geworden, dass sich in beiden Berufsgruppen neben klinisch relevanten depressiven und ängstlichen Symptomen auch vermehrt ein als Burnout bezeichneter Zustand häufe. Zudem hätten die Befragten, insbesondere die Pflegenden in einem Ausmaß von rund 60 Prozent der Befragten, oftmals moralischen Stress erlebt. Moralischer Stress beschreibe die als Konflikt wahrgenommene Diskrepanz zwischen dem Wissen um das moralisch richtige Handeln in einer konkreten Situation und den Limitationen der Handlungsmöglichkeiten in der klinischen Realität. Insgesamt, so Sommerlatte, lasse sich eine klinisch relevante psychische Belastung der ärztlich und pflegerisch in der Onkologie Tätigen durch die Pandemie nachweisen, wobei die Pflegenden in den erfassten Dimensionen stärker betroffen seien. Abschließend betonte sie, dass weitere Studien notwendig seien, um Risiko- und Schutzfaktoren zu identifizieren und perspektivisch Strategien zum Schutz der im Gesundheitswesen Beschäftigten zu entwickeln.

In der zweiten Keynote-Session widmete sich DAVID FREIS (Augsburg) historischen Diskussionen um den psychischen Zustand der Regierenden, wobei er die Debatten um den Geisteszustand Kaiser Wilhelms II. während und nach dessen Regierungszeit ins Zentrum rückte. Im Anschluss daran berichtete ANTON SCHULTE (Halle/Saale) über sexuelle und geschlechtliche Differenzen im Spiegel der Akten der Universitäts-Nervenklinik Halle (Saale) im Zeitraum 1930–1945. Beide Referenten suchten in ihrem jeweiligen Kontext nach politisch-gesellschaftlichen Motivationen hinter vordergründig psychiatrischen Diagnosen bzw. vermeintlich „objektiven“ medizinischen Fachurteilen.

Den in Krisenzeiten stark an Popularität gewinnenden Ferndiagnosen von Staatsoberhäuptern widmete sich DAVID FREIS (Augsburg) am Beispiel Wilhelms II. Nach Abdankung und Flucht des Kaisers eröffnete die Abschaffung des Straftatbestands der Majestätsbeleidigung im Herbst 1918 erstmals die Möglichkeit, Debatten über den vermeintlichen Geisteszustand des ehemaligen Monarchen öffentlich zu führen. Die Personen, die sich an Diagnosestellungen versuchten, hatten in der Regel nie in direktem persönlichen Kontakt mit dem Kaiser gestanden. Viele besaßen auch gar nicht die nötige fachliche Expertise für adäquate medizinische Beurteilungen. Dies hielt sie indes nicht davon ab, ihre Erkenntnisse öffentlichkeitswirksam zu publizieren, so Freis. Er stellte heraus, dass zahlreiche dieser Veröffentlichungen unterschiedlichen politischen Zielen dienten und sich in die zunehmend stattfindende Politisierung medizinischer Konzepte einreihten, die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland zu beobachten war. In dieser psychopolitischen Gemengelage habe das Urteil „geisteskrank“ über Wilhelm II. sowohl dazu gedient, das Gesamtkonzept Monarchie zu negieren, als auch, die Hoffnungen auf eine sozialistische Republik zu befeuern oder Sehnsüchte nach neuen politischen Führerfiguren zu legitimieren. Ebenso sei die psychopathische Diagnostik des Kaisers genutzt worden, um den deutschen Staat und die deutsche Gesellschaft in der Schuldfrage des Weltkrieges moralisch zu entlasten.

ANTON SCHULTE (Halle/Saale) gab einen Werkstattbericht seiner Doktorarbeit. In seiner Dissertation setzt er sich am Beispiel der Universitäts-Nervenklinik Halle/Saale mit dem medizinisch-psychiatrischen Umgang mit sexuellen und geschlechtlichen Abweichungen in den Jahren 1930–1945 auseinander. Im Sinne der jungen Disziplin der „Queer History“ soll untersucht werden, wie die Suche der Behandelnden nach der vermeintlich „richtigen“, als binär begriffenen Geschlechtsidentität die damalige Gesellschaft prägte. Schulte führte dafür exemplarisch eine Patient:innenakte an, die zwei Aufenthalte eines biologisch männlich geborenen Jugendlichen in der Nervenklinik im Jahr 1934 dokumentiert. Die Einweisung war auf Bestreben der Eltern erfolgt. Anlass der Behandlungen war abweichendes Verhalten von der zugeschriebenen Geschlechterrolle: ein sozialer Rückzug, einhergehend mit verstärktem Interesse für Literatur und Religion, lang getragene Haare und das beobachtete Anziehen der mütterlichen Kleider. Diese Phänomene wurden als medizinisch behandlungsbedürftig beurteilt. Während die aus ärztlicher Sicht verfasste Akte ausschließlich männliche Pronomina für besagten Fall verwendet, verwies Schulte darauf, wie hier die Krankeneinträge selbst zu einem Deutungsinstrument der Behandelnden werden. Im gesellschaftlichen Kontext betrachtet, zeigten die dargebrachten Quellen das Streben verschiedenster Akteure der nationalsozialistischen Gesellschaft (Funktionäre, Polizei, Mediziner, Eltern usw.), Geschlecht und Sexualität eindeutig zu definieren und Abweichungen davon zu ahnden, nicht zuletzt durch medizinische Interventionen.

In der dritten Session befassten sich die Vorträge von RUSLAN MITROFANOV und MARTIN KIECHLE mit Versuchen, in historischen Umbruchszeiten, Handeln und Behandlung in psychiatrischen Einrichtungen politisch-erzieherisch zu nutzen und zu instrumentalisieren.

RUSLAN MITROFANOV (München) stellte dar, wie im russischen Zarenreich des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zunehmende innenpolitische Unruhen staatlicherseits zu dem Versuch führten, psychiatrische Institutionen als repressive Instrumente gegen politisch Andersdenkende einzusetzen. Mittels einer Archivstudie im psychiatrischen Bezirkskrankenhaus Kazan untersucht er das Spannungsfeld, in welchem damalige Ärzt:innen arbeiteten. Einerseits bemühten sie sich um die Weiterentwicklung der russischen Psychiatrie auf medizinisch-wissenschaftlicher Ebene unter Rezeption und Abwandlung der Behandlungskonzepte anderer europäischer Länder (z. B. Großbritannien, Frankreich, Deutschland). Demgegenüber standen die staatlich-autoritären Forderungen, im Besonderen durch das Ministerium für Justiz und Innere Angelegenheiten vertreten, als „geisteskrank“ titulierte Revolutionäre in psychiatrischen Anstalten zu internieren und zu isolieren. Nach medizinischer und institutioneller Autonomie strebend, hätten sich Psychiater:innen in Kazan jedoch den politischen Interventionen entgegengestellt und zumindest einen Teilerfolg errungen: die aus politischen Gründen Eingewiesenen wurden räumlich und administrativ von den regulär zu Behandelnden getrennt, blieben aber unter ärztlicher Verantwortung und Behandlung. Mitrofanov betonte in seinen Ausführungen, dass die damals begonnene und in der späteren Sowjetunion praktizierte politische Instrumentalisierung der Psychiatrie bis heute zu einem negativen Ansehen der Fachrichtung in der Bevölkerung beitrage.

Im letzten Vortrag des Tages widmete sich MARTIN KIECHLE (Mainz) dem Umbruch in der deutschen Psychiatrie nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und den Versuchen der sowjetischen Militäradministration sowie der DDR-Führung, wissenschaftlich und ideologisch auf die Psychiater:innen Einfluss zu nehmen. Kiechle stellte die Jenaer Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie in den Fokus, die sich mit Ende des Zweiten Weltkrieges vor enorme materielle und personelle Herausforderungen gestellt sah. Verschärft wurden diese dahingehend, dass die Psychiatrie nationalsozialistische Konzepte der Erbbiologie und Rassenhygiene auf Krankheitsbilder und Behandlungsmethoden übertragen hätte, die nun nach Ansicht der sowjetischen Machthaber aus dem medizinischen Kanon eliminiert gehörten. In der Folge sei der fachliche Diskurs politisch gesteuert worden. Daneben habe es personelle Konsequenzen im Rahmen der Entnazifizierung gegeben. Eine konsequente politische Säuberung sei jedoch auch in Jena am Mangel an medizinischen (Leitungs-)Personal gescheitert. Auch die in den 1950ern Jahren als neue wissenschaftliche Grundlage der Medizin propagierte Pawlow-Lehre, welche anschlussfähig war zur materialistischen Philosophie der marxistisch-leninistischen Ideologie, hätte sich trotz Bemühungen der DDR-Staatsführung im Behandlungsalltag nicht durchsetzen können. Kiechle führte am Beispiel des Psychiaters Rudolf Lemke aus, wie in der Jenaer Psychiatrie personelle und fachliche Kontinuitäten bestehen blieben. Lemke, seinerzeit nationalsozialistischen Ansichten zur Psychiatrie durchaus zugeneigt, sei es wie vielen seiner Kolleg:innen durch „rhetorische Ressourcen“ (Mitchell Ash) gelungen, sich in Aufsätzen und öffentlichen Auftritten dem neuen sozialistischen Staat anzudienen und einen vermeintlichen Sinneswandel zu suggerieren. So habe er trotz seiner ärztlichen Tätigkeiten während des „Dritten Reiches“ alsbald wieder eine Führungsrolle in der Jenaer Psychiatrie einnehmen können, nicht nur als Mediziner und Klinikdirektor, sondern auch als Hochschullehrer in der Ausbildung neuer Student:innen. Seine Behandlungsansätze und therapeutischen Überzeugungen, u.a. mit Anwendung „heroischer“ Therapien wie dem Insulinschock, hätten sich indes nicht gewandelt. Kiechle fasste zusammen, dass trotz Versuchen staatlicher Einflussnahme auf die Behandelnden und ihr Wirken in Jena zu Zeiten der SBZ und frühen DDR keine spezifisch sozialistische Psychiatrie etabliert und praktiziert worden sei.

In einem gemeinsamen Schlusswort rekapitulierten FLORIAN BRUNS (Dresden) und CHRISTIAN KÖNIG (Halle/Saale) die komplexen Zusammenhänge zwischen Krisen und Gesundheit. Sie verwiesen darauf, dass Diskussionen und Debatten in Krisenzeiten neben Ängsten auch gesellschaftliche Hoffnungen und Zukunftsvorstellungen für die Zeit danach transportierten.

Konferenzübersicht:

Rainer Papsdorf (Leipzig): Suizid und Suizidalität während der COVID-19-Pandemie

Sabine Sommerlatte (Halle/Saale): Psychische Belastung von Ärzt:innen und Pflegenden in der Onkologie während der dritten Welle der COVID-19-Pandemie in Deutschland

David Freis (Augsburg): Der psychische Zustand von Regierenden – historische Diskussionen

Anton Schulte (Halle/Saale): Sexuelle und geschlechtliche Differenzen im Spiegel der Akten der Universitäts-Nervenklinik Halle (Saale), ca. 1930–1945: Ein Werkstattbericht

Ruslan Mitrofanov (München): Russian Psychiatry Between Prison and Dynamite: The Case of the Security Division at the Kazan District Hospital (late 19th - early 20th century)

Martin Kiechle (Mainz): Wissenschaftliche Einfluss- und ideologische Erziehungsversuche. Die Jenaer Klinik für Psychiatrie und Neurologie in der sowjetischen Besatzungszeit und frühen DDR