Neues Erinnern – alte Geschichte(n). Umbruch und Kontinuität in Gedenkstätten und Erinnerungsorten

Neues Erinnern – alte Geschichte(n). Umbruch und Kontinuität in Gedenkstätten und Erinnerungsorten

Organisatoren
Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern, Landesbeauftragter für politische Bildung Schleswig-Holstein, Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten, Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein e.V., Heinrich-Böll-Stiftung-Schleswig-Holstein e.V., Evangelische Akademie der Nordkirche, Landeskulturverband Schleswig-Holstein e.V.
Ort
Lübeck
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
18.11.2022 - 20.11.2022
Von
Steffi Brüning, Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern

Historische Forschung und gesellschaftlicher Wandel verändern die Voraussetzungen für das öffentliche Erinnern. Wie wirkt sich das auf den Arbeitsalltag in Gedenkstätten, zeitgeschichtlichen Museen und Initiativen aus? Diese Leitfrage beschäftigte Expert:innen aus Erinnerungsorten in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein bei der zweiten gemeinsamen Gedenkstättentagung in Lübeck.

Die Hansestadt Lübeck diente dabei als Tagungsort und Beispiel für aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen in der Erinnerungskultur. CLAUDIA FRÖHLICH (Schöneiche bei Berlin) präsentierte zum Start der Tagung in der Gedenkstätte Lutherkirche das von ihr erarbeitete Konzept zur Weiterentwicklung der Lübecker Erinnerungskultur. Entstanden aus der Zusammenarbeit von Forschenden sowie einzelnen Akteur:innen aus der Erinnerungsarbeit und Stadtverwaltung, benennt das Konzept drei wesentliche Säulen für eine zukunftsfähige Erinnerungskultur: eine Stabsstelle Erinnerungskultur als Scharnier zwischen Politik, Verwaltung, Aktiven; das „Zeit.Lab Lübeck“ als zukünftiger zentraler Lernort für Zeitgeschichte und Demokratie sowie eine App „LübeckErinnert“, die authentische Orte im Stadtraum sichtbar machen soll.

In diesen drei Säulen zeigen sich Chancen und Herausforderungen deutlich. Erinnerungsarbeit in Lübeck wurde bislang vorrangig von vielfältigen ehrenamtlich Aktiven gestaltet. Dem gegenüber stehen Strukturschwächen insbesondere durch eine fehlende städtische Infrastruktur, Koordination, Vernetzung, Beratung und Finanzierung. Hier setzt das Konzept an und schlägt deswegen den Aufbau einer langfristig gesicherten Struktur vor.

Bewusst wurde im Konzept auf konkrete Inhalte der aufzubauenden erinnerungskulturellen Infrastruktur verzichtet, um diese in einer sich stets wandelnden Gesellschaft aushandeln und entwickeln zu lassen. Stattdessen fokussiert das Konzept auf methodische Ansätze: Forschendes Lernen und experimentelle Erinnerungsarbeit im „Zeit.Lab Lübeck“, digitale und partizipative Möglichkeiten durch die Nutzung einer App stehen im Vordergrund.

Dass unterschiedliche Akteur:innen verschiedene Bedarfe und Interessen an ein Konzept zur Weiterentwicklung der städtischen Erinnerungskultur knüpfen, zeigte sich in den folgenden Debatten, die Herausforderungen in der Erinnerungsarbeit deutlich machten. Wie mobil oder zentral sollte Erinnerungsarbeit in einer modernen Stadt sein? Wer kann sich einbringen und an welcher Stelle werden Entscheidungen getroffen? Welche Erwartungen stellen unterschiedliche Bezugsgruppen heute an die Vermittlung von Geschichte?

Mehrere Arbeitsgruppen beschäftigten sich mit diesen und weiteren zentralen Fragen. Was bedeutet und wie funktioniert Gedenkstättenarbeit gegenwärtig und zukünftig? Wie können sich Gedenkstätten in einer vielfältigen Gesellschaft einbringen und welche Aufgaben haben sie? Welche Rolle spielt die Gegenwart in der Vermittlung von Geschichte? Welche spezifischen Herausforderungen bestehen für Gedenkorte mit mehrfachen Zeitschichten?

Das abschließende Abendpodium im Lübecker Rathaus rundete diese Fragen durch unterschiedliche Expertisen und kontroverse Sichtweisen ab. Im Mittelpunkt standen zum Beispiel Fragen nach der Gestaltung von Gedenkveranstaltungen für unterschiedliche Zielgruppen und Erinnerungsarbeit mit Jugendlichen. Deutlich wurde dabei, dass traditionelle Gedenkrituale häufig nicht mehr aus sich selbst heraus funktionieren, partizipative Ansätze in einer vielfältigen Gesellschaft notwendig sind.

Der zweite Tag der Tagung begann mit weiteren Einblicken in die Erinnerungs- und Gedenklandschaft Lübecks durch Exkursionen an vier zentrale Orte: die Gedenkstätte Lübecker Märtyrer, die Carlebach-Synagoge Lübeck mit Ort der Erinnerung und das Willy-Brandt-Haus Lübeck sowie die Gedenkstätte Lutherkirche.

PER LEO (Berlin) trug im Anschluss Thesen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik vor. Nach einem geschichtspolitischen Ausflug in die letzten 40 Jahre der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik beschrieb er vor allem für Gedenkstätten, dass hier die Formulierung „Arbeit an der Geschichte“ als tatsächlicher Ansatz für die Erinnerungsarbeit dient und weiterentwickelt werden kann. In diskursiven Formaten, die sich abseits der eingeübten Gedenkrituale und -praxen bewegen, könne Gedenken immer wieder neu mit verschiedenen Zielgruppen selbst erarbeitet werden. Der lokale, konkrete und offene Charakter von Geschichte zeige sich an historischen Orten deutlich. Dabei gehe es aber auch darum, Grenzen des eigenen Handelns und der Wirkmächtigkeit gegenüber überzogenen Ansprüchen an einzelne Orte aufzuzeigen. Das Lösen von eingeübten Erinnerungsparadigmen und dem Wunsch nach erinnerungspolitischen Konsens, könne dabei in einer pluralistischen Demokratie nur gewinnbringend sein.

Insbesondere durch die heterogene Mischung der Teilnehmenden aus Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein zeigte sich schließlich eine weitere Herausforderung: die Bundesländer weisen geteilte Geschichten in beiderlei Hinsicht auf. Gedenktraditionen, die in der Bundesrepublik bis 1990 wuchsen und Diskurse, die hier wirkten, können nicht automatisch als Folie für das Gedenken in den östlichen Bundesländern dienen. Hinzu kommt der erinnerungskulturelle Umgang mit der DDR-Vergangenheit, sowohl bezogen auf die NS-Erinnerung als auch auf politische Verfolgung in der DDR.

Ausgehend von diesen Überlegungen folgte ein intensiver Austausch im World-Café-Format. In vier Runden diskutierten die Teilnehmenden wesentliche Kernpunkte der Erinnerungsarbeit. In einer ersten Runde standen „Täterorte“ im Mittelpunkt. Die Problematisierung von „Täterschaft“ und hier insbesondere das Aufzeigen von Kontinuitäten, aber auch Widersprüchen, Verbindungen und Abgrenzungen in Gedenkstätten hat innerhalb der Bildungsarbeit einen großen Stellenwert, nicht nur an „Täterorten“. Zweitens wurden Fragen über den Umgang und Herausforderungen mit mehrfachen Erinnerungsbezügen durch verschiedene Zeitschichten an Gedenkorten (vor allem NS- und DDR-Phasen) diskutiert. Historisches Lernen kann durch die Beschäftigung mit unterschiedlichen zeitlichen Phasen besonders gewinnbringend sein, in der praktischen Bildungsarbeit bestehen hier insbesondere die Herausforderungen, mit einer begrenzten Seminardauer sowie unterschiedlicher Vorbildung der Teilnehmenden umzugehen. Wie kann NS- und DDR-Geschichte zusammenhängend vermittelt werden, ohne eine deutliche Differenzierung zu vernachlässigen? Während in den Gedenkstätten deswegen langfristige Projektarbeit mit Gruppen angeboten wird, trifft das bei den Zielgruppen oft auf enge Grenzen durch begrenzte zeitliche und personelle Kapazitäten. Darüber hinaus wird zunehmend die Nachnutzung vormaliger Orte von Terror und Leid durch heutige Gedenkorte in der Bundesrepublik thematisiert. Daraus resultiert die Frage: Für welche Zeitschichten, Ereignisse und Geschichten sind historische Orte zuständig?

Rund um die Präsentation des Bundesprogramms „Jugend erinnert“ diskutierten die Teilnehmenden drittens insbesondere die Nachhaltigkeit und langfristige Perspektive von begrenzten Förderprojekten. Wie können in innovativen, aber befristeten Projekten Ergebnisse gesichert, vermittelt, weiter genutzt werden? Wie kann eine Verstetigung gelingen?

Ein vierter Themenschwerpunkt beinhaltete das „Netzwerk Cap-Arcona-Gedenken“. Die „Cap-Arcona-Katastrophe“ vom 3. Mai 1945 steht heute sowohl für die Verbrechen im Nationalsozialismus und verheerende Kriegsendgewalt als auch - nach 1945 - für ein internationales Erinnern mit den Überlebenden und Angehörigen. Die Erinnerung daran war zunächst zwischen West und Ost geteilt, verbindet heute wiederum mehrere Bundesländer. An über 20 Orten in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Hamburg wird das Gedenken von Initiativen, engagierten Einzelnen und Kommunen gepflegt.

Der Tag fand seinen Abschluss mit der Frage nach digitalen Informations- und Erinnerungsangeboten. Die Referierenden UTE-FREDERIKE JÜRSS (Lübeck) und CHRISTOPH WUNNICKE (Berlin) präsentierten zwei sehr unterschiedliche Angebote. Während Jürss anhand des Films „Die Entscheidung – Wilm führte ein Doppelleben“1 eine künstlerische Impulssetzung zu den Themen Nationalsozialismus und Zivilcourage einbrachte, thematisierte Wunnicke die Online-Plattform www.widerstand-in-mv.de für selbstständige Recherchen und Spurensuchen zum Thema Widerstand. Diese beiden Beispiele boten einen Einblick in die Vielfalt digitaler Angebote. Im Fokus stehen dabei jeweils einfache Handhabung, selbstbestimmter Einsatz der Medien, mögliche Anknüpfungspunkte und mobile Nutzung.

Zurück zu den analogen historischen Orten ging es am Abschlusstag: Die Teilnehmenden besuchten die Grenzdokumentations-Stätte Lübeck-Schlutup, ein ausschließlich ehrenamtlich getragener Erinnerungsort, an der früheren Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR. Das engagierte Team begleitete die Teilnehmenden durch die Ausstellung und diskutierte die Bildungsarbeit, aber auch die Grenzen und Herausforderungen von Ehrenamt in Gedenkstätten.

SARAH BORNHORST und GÜLŞAH STAPEL (Berlin) schlossen die Tagung mit grundlegenden Fragen an die Erinnerungskultur, insbesondere bezogen auf die DDR-Aufarbeitung, ab. Anhand der Erinnerung an die Todesopfer an der Berliner Mauer stellten sie substanzielle Fragen: Wie gedenken wir heute? Wer ist Teil der Erinnerungsarbeit – und wer nicht? Wer erinnert was zu welchem Zweck – und was wird damit nicht erfüllt? Entlang von Beispielen entlang der Berliner Mauer zeigten sie unter anderem die frühe Thematisierung von getöteten Fliehenden in der Bundesrepublik vor der Hintergrundfolie des Kalten Krieges und diskutierten dabei die entstandenen Gedenktraditionen und Leerstellen. Aus der praktischen Bildungsarbeit mit nachwachsenden Generationen heraus diskutierten sie darüber hinaus die ritualisierte öffentliche Gedenkpraxis und ermutigten, Erinnerungsarbeit partizipativ weiterzuentwickeln und Fragen an Traditionen nicht nur zuzulassen, sondern zu motivieren. Gerade das Thema Flucht biete zudem für Besucher:innen immer wieder aktuelle Anknüpfungspunkte. Daraus ergab sich erneut die Frage, welche Aufgaben Gedenkorte neben der Erinnerungsarbeit haben: Ist eine Thematisierung und Positionierung angesichts aktueller internationaler Fluchtentwicklungen möglich, wenn nicht sogar notwendig?

In der abschließenden Diskussion ging es daraufhin auch um die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Gedenk- und Vermittlungsarbeit. Aktive in Gedenkstätten stehen häufig vor der Herausforderung, ein würdigendes und positionierendes Gedenken in ihre alltägliche Bildungsarbeit zu integrieren, in der sie multiperspektivisch und differenziert, angepasst an vielfältige Zielgruppen historisches Lernen ermöglichen. Spannungen und Reibungspunkte tauchen im Arbeitsalltag ständig auf, sind gleichzeitig aber auch eine der großen Chancen der Arbeit an historischen Orten. Sie bieten schlussendlich die Möglichkeit, Geschichte in einer pluralen Demokratie zu bearbeiten und dabei immer wieder neu zu verhandeln.

Die 3. Gemeinsame Gedenkstättentagung Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein folgt im Jahr 2024 in Mecklenburg-Vorpommern.

Konferenzübersicht:

Freitag, 18. November

Harald Schmid (Rendsburg): Begrüßung und Einführung

Claudia Fröhlich (Berlin): Lübeck erinnert – um Demokratie zu leben. Konzept zur Weiterentwicklung der Erinnerungskultur in der Hansestadt Lübeck

Arbeit in vier Kleingruppen: Fragen und Herausforderungen zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gewalterfahrungen

Vorstellung von Arbeitsergebnissen

Abendveranstaltung
Lübecker Rathaus, Breite Straße, Rathaussaal
Wie weiter mit der Erinnerungskultur in Lübeck?
Jan Lindenau (Lübeck): Begrüßung
Harald Schmid: Einführung zur Diskussion um die Lübecker Erinnerungslandschaft
Jan Lindenau: Stellungnahme der Stadt zur Weiterentwicklung der lokalen Erinnerungskultur
Podiumsdiskussion mit Frauke Kleine Wächter (Lübeck), Jan Lindenau, Christian Rathmer (Lübeck), Harald Schmid
Moderation: Dr. Kilian Lemke (Rendsburg)

Samstag, 19. November

Exkursion in die Innenstadt: Vier Lübecker Erinnerungsorte
Gedenkstätte Lübecker Märtyrer, Carlebach-Synagoge Lübeck mit Ort der Erinnerung, Willy-Brandt-Haus Lübeck, Gedenkstätte Lutherkirche
Vortrag und Diskussion
Per Leo (Berlin): Trauer ohne Tränen. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der gegenwärtigen Bundesrepublik.

World Café
Künftiger Umgang mit den beiden Vergangenheiten
1) Alexander Rehwaldt (Grevesmühlen): Netzwerk Cap-Arcona-Gedenken
2) Charlotte Haugg (Ladelund); Luisa Taschner (Schlagsdorf): Das Bundesprogramm „Jugend erinnert“ in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern
3) Corinna Wagner-Stempkowski (Schwerin) Jens Rönnau (Kiel): Orte mit mehrfachen Erinnerungsbezügen: Dokumentationszentrum des Landes für die Opfer der Diktaturen in Deutschland, Schwerin; Dokumentationszentrum Prora und Prora Zentrum; ehemaliges Marineuntersuchungsgefängnis Kiel
4) Fabian Schwanzar (Alt Rehse); Jens Binckebanck (Itzehoe): Täterorte

Digitale Informations- und Erinnerungsangebote – zwei Beispiele aus Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern
Ute-Friederike Jürß (Lübeck): Die Entscheidung – Wilm führte ein Doppelleben, Virtuelles Gedenkzeichen/Film 2021
Christoph Wunnicke (Berlin): Widerstand in Mecklenburg-Vorpommern, Online-Handbuch
Moderation: Stephan Linck

Sonntag, 20. November

Exkursion zur Grenzdokumentations-Stätte Lübeck-Schlutup
Begrüßung und Führung: Ingrid Schatz (Lübeck)

Vortrag
Sarah Bornhorst, Gülşah Stapel (Berlin): Die Erinnerung an die Opfer des DDR-Grenzregimes vor dem Hintergrund neuer Grenzziehungen und Fluchtbewegungen – Fragen an das Erinnern
Abschlussdiskussion und Bilanz mit ersten Überlegungen für die nächste Tagung 2024

Anmerkungen:
1 kostenfrei nutzbar: www.die-entscheidung.org.

Redaktion
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