Leerstellen als Chance: Erinnern und Vermitteln an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in tschechisch-deutscher Perspektive. Die Beispiele Hersbruck und Litoměřice

Leerstellen als Chance: Erinnern und Vermitteln an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in tschechisch-deutscher Perspektive. Die Beispiele Hersbruck und Litoměřice

Organisatoren
Nadja Bennewitz, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Leonard Stöcklein, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Barbara Raub, Paul-Pfinzing-Gymnasium Hersbruck; Matthias Rittner, Gedenkstätte KZ Flossenbürg; Anja Sparberg, Staatstheater Nürnberg
Förderer
Bayerisch-Tschechische Hochschule; Förderverein Geschichtswissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Landkreis Nürnberger Land; Ulrich Griebel Presi „Summa-cum-Laude“; Rotary Club Nürnberger Land
Ort
Hersbruck/Nürnberg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.10.2022 - 29.10.2022
Von
Leonard Stöcklein, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Felix Hoch, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Johannes Möhler, Adam-Kraft-Gymnasium-Schwabach; Michael Gerhäußer; Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Können materielle Leerstellen an ehemaligen KZ-Außenlagern Chancen der historischen Auseinandersetzung bieten? Wie manifestiert sich die jeweilige regionale „zweite Geschichte“ im Narrativ der Nachbarstaaten Deutschland und Tschechien? Diesen Fragen widmete sich die Tagung und nahm dabei die Grenzlage des ehemaligen Konzentrationslagers Flossenbürg und seine beiden größten Außenlager Hersbruck und Leitmeritz/Litoměřice zum Ausgangspunkt, um in binationaler Perspektive zwei Bereiche zu erforschen und zu diskutieren: Den geschichtskulturellen und gesellschaftspolitischen Umgang mit den Außenlagern seit 1945 und die Erprobung sowie Reflexion didaktischer Vermittlungsformen an den jeweiligen Orten. Die Zusammenarbeit und der Austausch zwischen universitärer Geschichtsdidaktik, Geschichtslehrkräften weiterführender Schulen sowie der Gedenkstättenpädagogik und Theaterpädagogik erwies sich hierbei als ertragreich, um die grenzüberschreitende Nachgeschichte der nationalsozialistischen Diktatur in den Flossenbürger Außenlagern zu verhandeln.

So öffnete sich die auch als Lehrerfortbildung im Fach Geschichte anerkannte Tagung bewusst einer breiten Öffentlichkeit aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, wodurch eine hohe Zahl an interessierten Teilnehmer:innen erreicht wurde. Den bis zu 70 Teilnehmer:innen aus bildungspolitischen und wissenschaftlichen Einrichtungen, Schulen und historischen Vereinen wurde an beiden Tagen ein breites Spektrum an wissenschaftlichen Vorträgen, geschichtsdidaktischen Vermittlungsformen und Einblicken in geschichtskulturelle Einrichtungen und deren Aktivitäten zum Austausch junger Menschen zwischen Bayern und Tschechien eröffnet.

Freitag, 28.10.2022

Den ersten Tag, der im Paul-Pfinzing-Gymnasium in Hersbruck am Standort des ehemaligen Außenlagers durchgeführt wurde, bestritten vorrangig Schüler:innen der Gymnasien Hersbruck und Leitmeritz sowie Studierende aus Bayern und Tschechien. Die Tagungsleitung und Moderation hatten BARBARA RAUB (Hersbruck) ANJA SPARBERG (Nürnberg) und MATTHIAS RITTNER (Flossenbürg) inne.

Die Schüler:innen hatten sich während des Schuljahres unter Leitung der Geschichtslehrerin Barbara Raub sowie der Theaterpädagog:innen des Nürnberger Staatstheaters Anja Sparberg und BURAK UZUN (Nürnberg) mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Problemen von Ausgrenzung und Rassismus beschäftigt sowie konkret mit der Geschichte und Nachgeschichte des örtlichen Außenlagers. Einem handlungs- und ergebnisorientierten Ansatz folgend, präsentierten Schüler:innen einer jüngeren Jahrgangsstufe ihre Überlegungen in Form einer Performance, Zehntklässlerinnen gewährten bei der Lesung ihres Briefwechsels mit Schüler:innen des Gymnasiums Leitmeritz Zugang in ihre jugendliche Wahrnehmung von Geschichte und in ihre bisweilen kritische Reflexion der Nachgeschichte.

Der Regisseur des BR-Studios Ostbayern THOMAS MUGGENTHALER (Regensburg) stellte seinen Dokumentarfilm „Todeszug in die Freiheit“1 vor und führte aus, wie wichtig es sei, so nah wie möglich an der historischen Realität zu bleiben und gleichzeitig den spezifischen Anforderungen an einen Dokumentationsfilm gerecht zu werden. Basierend auf originalen Film- und Fotoaufnahmen und Zeitzeugeninterviews wurde die Geschichte eines Zugs mit ca. 4000 gefangenen Häftlingen geschildert, der Ende April 1945 das KZ-Außenlager Leitmeritz verließ. Die Fahrt wurde mehrfach von Bahnhofsvorstehern verzögert und sabotiert. Tschechische Zivilpersonen versuchten an den Bahnhöfen den Häftlingen zu helfen, manche wagten sogar offene Fluchthilfe, wohingegen dem Wachpersonal die Kontrolle über den Zug zunehmend entglitt. Anfang Mai wurde der Zug von der Wlassow-Armee befreit. Etwa 3000 Menschen konnten überleben. Nach Kenntnissen des Regisseurs sei diese Aktion der „puren Menschenfreundlichkeit“ in Deutschland kaum bekannt, während sie fester Bestandteil der tschechischen Erinnerungskultur sei.2 Die anwesenden tschechischen Wissenschaftler:innen widersprachen dieser Sicht: Das Ereignis sei wohl vor 1989 im kollektiven Gedächtnis präsent gewesen, doch wüsste die jüngere Generation an Studierenden kaum mehr etwas davon.

Obgleich die Aktion als singulär gelten kann, warf sie dennoch die Frage auf: Was konnte die/der Einzelne tun? Dieser Frage widmeten sich unter theaterpädagogischer Leitung die Schüler:innen des Paul-Pfinzing-Gymnasiums in einem Rollenspiel, das sie dem Publikum am Bahnhof Hersbruck präsentierten, einem Spielort, den sich die Schüler:innen selbst gewählt hatten. Matthias Rittner (Flossenbürg) hatte das Rollenspiel parallel zum Handlungsverlauf des Dokumentarfilms im Rahmen seiner gedenkstättenpädagogischen Tätigkeit entwickelt, bei dem die Schüler:innen in Rollen entsprechend der historisch nachgewiesenen Beteiligten schlüpften. Sie testeten dabei aus, ob und wie sehr sie sich Anweisungen der deutschen Besatzer widersetzen würden. Zwei Ebenen bespielend – die Präsentation von Auszügen aus dem Rollenspiel und die Reflexion der Geschichtsstunde –, offenbarten die Schüler:innen, dass sie selbst deutlich ängstlicher agiert hätten als die historischen Vorbilder.

IRMINGARD PHILIPOW (Hersbruck), eine der letzten Augenzeug:innen des Ortes, stellte sich den Fragen der Studentin HANNAH TRAPP (Erlangen-Nürnberg). Die im Jahr 1936 geborene Befragte sprach in doppelter Funktion: Sie sah als junges Mädchen die Häftlingszüge, die durch Hersbruck vom Lager in den Happurger Stollen zum Arbeitseinsatz marschierten, und trat seit Ende der 1990er Jahre als geschichtskulturelle Akteurin im Stadtrat von Hersbruck auf, um dem verdrängenden Umgang weiter Teile der Hersbrucker Gesellschaft entgegenzutreten.

Die Geschichtsstudentinnen ESTER ADAMOVÁ, TEREZA KNOFLÍČKOVÁ, BARBORA KOŠKOVÁ, MICHAELA JEBEVÁ und ZUZANA CILEROVÁ (Liberec) stellten ihr Stolpersteinprojekt über jüdische Opfer des Holocaust in Liberec vor. Sie betonten, dass ihre biografischen Recherchen in ihrer Systematik die ersten dieser Art in Liberec gewesen seien. Die Erinnerung an den Holocaust sei gerade bei der jüngeren Generation wenig präsent. Das studentische Projekt machte deutlich, dass Opfer des Nationalsozialismus in Tschechien bislang wenig Raum in der Erinnerungskultur einnehmen. Zukünftige Recherchen würden auch Biografien von Inhaftierten der ehemaligen KZ-Außenlager in den Blick nehmen.

Mit solchen Biografien aus dem Außenlager Hersbruck beschäftigte sich die Studentin LENA ALBERT (Bamberg), die an der Digitalisierung von Häftlingsbiografien arbeitet und ihr Projekt dem Plenum zur Diskussion stellte.

THERESA HARTL (Nürnberg/Pilsen) stellte das Projekt Čojč, ein grenzübergreifendes Theaternetzwerk Bayern-Böhmen, vor. Das Netzwerk versucht über Theaterpädagogik deutsche und tschechische Jugendliche zusammenzubringen, Begegnungen zu schaffen und Vorurteile abzubauen. Als vermittelnden Zugang nutzt es u.a. Theaterseminare, die die verwobene Geschichte des deutsch-tschechischen Grenzgebiets zur Zeit des Nationalsozialismus zum Gegenstand haben.

Finanziert wird Čojč wie andere ähnliche Projekte von Tandem, den Koordinierungszentren Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch. Die stellvertretende Leiterin ULRIKE FLÜGL (Regensburg) zeigte insbesondere den anwesenden Lehrkräften auf, welche Beratungs- und Fördermöglichkeiten für den Jugend- und Schüleraustausch zwischen der Bundesrepublik und der Tschechischen Republik bestünden.

Samstag, 29.10.2022

CHARLOTTE BÜHL-GRAMER (Erlangen-Nürnberg) begrüßte als Hausherrin und Inhaberin des Lehrstuhls Didaktik der Geschichte die Tagungsteilnehmer:innen und maß der „Architektur“ der Tagung einen innovativen Ansatz hinsichtlich des Zusammendenkens von Wissenschaft und Vielfalt schulischer Vermittlungsangebote in Bezug zur randständigen Erinnerungskultur des KZ-Außenlagersystems in Deutschland und Tschechien bei. Sie betonte den hohen Stellenwert der translokalen und transregionalen Konkretisierung der NS-Verbrechen in binationaler Perspektive, die einer allzu weiten Universalisierung der Verbrechen, die die Gefahr einer Verzerrung und Nivellierung in sich berge, entgegensteuere.

NADJA BENNEWITZ und LEO STÖCKLEIN (Erlangen-Nürnberg), die die Tagungsleitung und Moderation des zweiten Veranstaltungstages innehatten, gaben einen Überblick über die ersten autobiografischen Veröffentlichungen und der folgenden wissenschaftlichen Aufarbeitung des KZ-Außenlagers Hersbruck seit 1945, die vorrangig den Überlebenden und engagierten Personen der Zivilgesellschaft zuzuschreiben war. Davon ausgehend zeigten sie unter dem theoretischen Zugang der Begriffe „Raum“ und „soziale Praxis“ anhand von drei geschichtskulturellen Manifestationen, – einem Gedenkstein der DGB-Jugend 1983, der Skulptur des KZ-Überlebenden Vittore Bocchetta 2007 und der Überbauung des Geländes durch einen Pflegedienstleister 2022 –, und den anhängigen ablehnenden Haltungen sowie kontrovers geführten Debatten, dass die Geschichte des Umgangs mit dem Außenlager in Hersbruck seit Anfang der 1980er Jahre dem nationalen Narrativ von der „Vergangenheitsbewahrung“ (Assmann) und von Deutschland als „Weltmeister der Aufarbeitung“ nicht standhält.

Als Pendant zu Hersbruck referierte ALFONS ADAM (Berlin) über die Geschichte des Umgangs mit dem Außenlager Litoměřice nach 1945 in Tschechien und stellte dar, welche dauerhaften, wenngleich letztlich scheiternden Anstrengungen zur erinnerungskulturellen Aneignung in Leitmeritz zwischen 1943 und 2022 stattfanden. Adam skizzierte die Räumung, die Nachkriegsnutzung und zaghafte Erinnerungsarbeit nach 1945 in drei Etappen: Nutzung in unmittelbarer Nachkriegszeit, Atommülllager ab 1964 und museale Planungen seit 2010. Laut Adam richtete sich nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee das Interesse auf die Stollen, weniger auf das Lagergelände selbst. Ähnlich wie in Hersbruck waren es auch in Litoměřice die Opfer des Nationalsozialismus, die sich mit dem Ort beschäftigten. Die Wiederentdeckung des Geländes geschah Mitte der 1960er Jahre durch die Häftlingsverbände. Soldaten der tschechoslowakischen Armee forschten in den Stollen und übergaben Dokumente nach Theresienstadt. In Litoměřice wurde 1976 ein Gedenkort errichtet und 1982 im ehemaligen Krematorium des Außenlagers eine Dauerausstellung über die Geschichte des Lagers eröffnet. Nach 1989 gab es auf Druck der Häftlinge und einer internationalen Öffentlichkeit eine „radikale erinnerungskulturelle Wende“. In Bezug auf Litoměřice machte sich dies jedoch erst relativ spät bemerkbar, als 2008 die Gedenkstätte Theresienstadt eine Sonderausstellung über das Lager eröffnete. Die Stadt Leitmeritz hofft seit 2009 auf Fördergelder der EU, um das ehemalige Lagergelände als Gedenkort würdig umzugestalten. Adam resümiert, dass es trotz der Bemühungen der Stadt insgesamt ein mangelndes Interesse an dem Gelände gäbe. Das tschechische Geschichtsnarrativ orientiere sich bis heute an dem Narrativ des „Protektorats Böhmen und Mähren“, welches die konkrete Gewaltgeschichte – so auch im schulischen Geschichtsunterricht – an Opfern, die nicht zu Tschechien gehörten, ausblende.

Dass sich das öffentliche Bewusstsein über die Existenz und die Verbrechen im KZ-Außenlager Hersbruck über die Nachkriegszeit bis heute von Negation bis zur bewussten Aufarbeitung gewandelt hat, veranschaulichte CHRISTOF MAIER (Erlangen-Nürnberg). Dabei erklärte er anhand der errichteten Mahnmale um Hersbruck und der Reaktion der örtlichen Einwohner:innen, dass die Nachkriegsgesellschaft in den 1950/60er Jahren wenig Interesse an einer Aufarbeitung hatte. Vielmehr habe sich eine Schlussstrichmentalität gezeigt, was sich vor allem in den Gerichtsprozessen und den milden Urteilen gegen die örtlichen Wachmannschaften festmachen ließe. Maier verdeutlichte exemplarisch an einem Besuch einer Delegation ausländischer Häftlinge in Hersbruck im Jahr 1962 die Ablehnung des Gedenkens durch den Stadtrat: Die ehemaligen Häftlinge beabsichtigten die Setzung einer Gedenktafel an der einstigen SS-Kaserne. Dies unterstützte lediglich Landrat Hoiger. In den Bezirksblättern der Stadt Hersbruck, auf die sich Maier als Quelle bezog, wurde 1962 die Existenz des Lagers eindeutig negiert. Erst mit der Veröffentlichung von Gerd Vanselows Facharbeit im Jahre 1983 „KZ Hersbruck. Größtes Außenlager von Flossenbürg“ nahm die gesellschaftliche Erinnerung ihren Anfang, begleitet von zahlreichen Widerständen von Seiten der Bevölkerung und des Stadtrats.

KATERINA PORTMANN (Liberec) beleuchtete die justizielle Aufarbeitung in Tschechien und nahm die Gerichtsbarkeit gegen NS-Verbrecher:innen in den Blick, die sie als die europaweit strengste und härteste charakterisierte. Die ČSSR, welche bei der Vorbereitung zur Abrechnung mit Kriegsverbrechern schon 1944 einen sehr großen Beitrag geleistet hatte, sei hierfür mit ihrem hohen Strafmaß, den außerordentlichen Volksgerichten und den vielen Todesurteilen in Augenschein getreten. Begriffe wie „Verbrechen an der Menschlichkeit“ und ihre Verankerung in der Londoner Charta gingen hierbei auf den tschechischen Anwalt Bohuslav Ečer zurück. Während in Deutschland die Strafen für NS-Verbrecher:innen eher milde ausfielen, wurden in Tschechien 60 Prozent der angeklagten Verbrecher während der ersten justizialen Retribution zum Tode verurteilt. Die Prozesse dienten zum einen der Identitätsstiftung und der „Homogenisierung“ der Tschechoslowakei, zum anderen als Akt der Nichtduldung von Verbrechen an der Menschlichkeit. Dass hierbei die Menge der Prozesse und ihre schnelle Durchführung die Justiz überforderten und sie somit schon während der Retribution von Jurist:innen kritisch betrachtet wurden, zeigt Katerina Portmann anhand der Sinnhaftigkeit der Verteidigung, die mitunter bei einer durchschnittlichen Prozessdauer von zehn Minuten vonstattenging. In Litoměřice gab es neben Prag wegen der Nähe zum ehemaligen Ghetto Theresienstadt das bedeutendste Volksgericht, welches internationales Aufsehen auf sich zog. Die Außenlager waren bei der Strafverfolgung nicht von Bedeutung. Zudem waren die meisten Zeugen, ehemalige Häftlinge der Außenlager, wie auch in Litoměřice, kurz nach Kriegsende in ihre Heimatländer zurückgekehrt.

IVAN ROUS (Liberec) schilderte in seinem Vortrag, wie sich die ansässige Wirtschaft und die deutschsprachige Bevölkerung im Sudetenland zunächst eine ökonomische Verbesserung durch die NS-Besatzung erhofften. Dies erwies sich jedoch schnell als trügerisch und der Kampf um das Fortbestehen der örtlichen Industrie setzte rasch ein. Rous beschreibt, wie sich schrittweise von Ende 1938 bis 1945 immer mehr militärische Produktionsstätten in der Region niederließen: Zuerst Betriebe, die auf ausländische Arbeitskräfte zurückgriffen und im Sudetenland Entwicklungschancen sahen, dann Industriezweige, welche zum Schutz vor alliierter Bombardierung evakuiert wurden. Als letzte Gruppe zogen kriegsrelevante Forschungsunternehmen um, welche Gefangene von Konzentrationslagern zur Arbeit zwangen. Der Bedarf an Arbeitskräften für die Errichtung und laufenden Produktionszyklen wurde zusätzlich auch aus Angestellten der örtlichen Wirtschaft gedeckt. Rous erwähnte zudem, dass es Hinweise gäbe, laut denen die Rüstungsindustrie teilweise selbst Konzentrationslager eröffnet habe. Nachdem diese These zu Nachfragen aus dem Publikum führte, betonte Rous, dass es dazu noch Forschungsbedarf gäbe.

LUBOAR LACINA (Liberec) stellte den jetzigen „Zustand“ der Außenlager in der Region um Liberec vor. Von 39 KZ-Außenlagern der Stammlager Flossenbürg, Großrosen und Auschwitz, die zwischen 1942-45 errichtet wurden und von denen über die Hälfte bauliche Relikte aufweisen, wird durch geschichtskulturelle Medien an 20 Orten eine „Erinnerung“ aufrechterhalten. Lacina erklärte, dass bereits 1972 und 1982 Gedenkorte errichtet wurden, die die Biografien und Inhaftierungsgründe der Menschen nivellierten, was für die Zeit des Kommunismus – nicht nur in Tschechien – typisch gewesen sei. Das Gedenken an diesen Orten wurde vielfach kombiniert mit politischen Aussagen zum Befreiungskampf der Partisanen und der Befreiung durch die Rote Armee. Die Wahrnehmung für die Orte hat sich nicht direkt nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“, sondern erst seit den letzten zehn Jahren massiv verändert. Die bisherigen Gedenkorte sind in ihrer Ikonografie und textuellen Ausgestaltung – Hammer und Sichel wurden oftmals entfernt – durch neue Zeichen ergänzt und erweitert worden, die Inschriften wurden detaillierter in Bezug auf das Schicksal der inhaftierten Menschen ausformuliert. Aufgrund fehlenden Wissens über die Geschichte der Orte, deren Nivellierung oder anderweitige geschichtspolitische Fokussierung bis 1989/90, würden heutzutage manche Orte woanders und durch andere Medien erinnert: So gäbe es Publikationen oder kleinere Ausstellungen in nahegelegenen Museen. Die ältere Generation wüsste von der Existenz dieser Orte eher, da sie zum Gedenken „verpflichtet“ worden sei, während das Gedächtnis der jüngeren Generationen durch die Erinnerung an den Kommunismus überlagert werde. Umfragen belegten jedoch, dass die Mehrheit der Orte der Bevölkerung zumindest ein Begriff ist.

THOMAS IRMER (Berlin) berichtete in seinem Vortrag über die Einsatzmöglichkeiten und Funktionen von Apps, welche sich mit historischen Stätten wie Gedenkorten und ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Dabei ging er auch auf Dinge wie leichte Sprache, die Abwägung zwischen Online und OnBoard Apps und passende Icons ein. Solchen Designentscheidungen gingen weitgehende Überlegungen voraus, da sie die Größe der Anwendung und Verfügbarkeit in Regionen mit schlechter Netzabdeckung beträfen und somit ein bedeutender Teil der Entwicklung eines solchen Programms sind. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dabei seiner Anwendung namens „Satellite Camps“, welche sechs in Berlin gelegene ehemalige KZ-Außenlager und 14 Biografien ehemaliger Gefangener dieser Lager umfasst. Hierbei wurden zahlreiche Abbildungen, Fließtexte und sowohl Audio-, als auch Videodateien eingebaut. Irmer betonte auf die Frage des Umgangs mit dem Ende der lebenden Zeitzeugenschaft abschließend dennoch, dass Technologie nützlich sei, doch niemals menschliche Interaktionen, wie die mit Zeitzeug:innen, ersetzen könne.

ANGELIKA MEYER (Ravensbrück) betonte, dass eklatante Wissensdefizite zur Geschichte der Außenlager in Brandenburg bestünden, die genauso wenig erforscht seien wie jene Orte auf tschechischem Boden. Das an Jugendliche gerichtete Projekt „überLAGERt“ versuche, diesen Leerstellen nachzukommen. Das Projekt, welches aus den Arbeitsschritten „erfragen – entdecken – dokumentieren – schreiben“ besteht, bietet ein Konzept für den schulischen Projektunterricht. Meyer exemplifiziert das Projekt, das in der Tradition der Geschichtsbewegung der 1980er Jahre steht, am Außenlager Grüneberg, zu dessen Gedenken durch Jugendliche eine Gedenktafel gesetzt wurde. Viele unbekannte Orte wurden zudem am 8. Mai durch Flatterband gekennzeichnet. Meyer problematisierte, dass die Jugendlichen mitunter als „Missionare“ der lokalen Orte instrumentalisiert würden, von denen in ihrer Projektarbeit zu viel erwartet würde und sie all die Dinge aufarbeiten müssten und politische Grabenkämpfe auszufechten hätten, die die lokale Gesellschaft die Jahrzehnte zuvor nicht geführt hätte.

Konnte die Tagung aufzeigen, dass man „Leerstellen“ als Chance begreifen könne? Am Ende der zweitägigen Tagung zogen die Tagungsleiter:innen Nadja Bennewitz und Leo Stöcklein Bilanz: Eine Stärke dieser Tagung sei es sicherlich, aufgezeigt zu haben, wie zum einen durch die Vernetzung akademischer Forschung und schulischer Praxis, zum anderen durch außerschulische Kooperationen mit Theaterpädagogik und Gedenkstättenpädagogik das Thema im Geschichtsunterricht in den beiden Nachbarländern Tschechien und Bayern produktiv, innovativ und praxisgerecht behandelt werden kann. Durch die Arbeiten über ein Schuljahr hinweg sei den Schüler:innen ein Perspektivwechsel ermöglicht worden. Die vielfältige Auseinandersetzung mit den Orten durch die Student:innen und Schüler:innen habe aufgezeigt, dass materielle Leerstellen zu Lehr- und Lernstellen werden können, der Mangel an baulichen Relikten somit keineswegs zwangsläufig einen Mangel an Diskurs und gesellschaftlicher Diskussion nach sich zieht. Es müsse dennoch weiterhin offen bleiben, welchen Stellenwert und welches Gewicht man der „zweiten Geschichte“ der Lager im Vergleich zur Geschichte des Nationalsozialismus in der Vermittlungsarbeit zukünftig verleihen möchte. Das machten die ausdauernden und kontroversen Diskussionen an den zwei Tagungstagen deutlich. Dennoch konnte die Tagung für die Implementierung der Nachgeschichte nationalsozialistischer Verbrechen „vor der Haustür“ in die Vermittlungsarbeit wichtige Impulse setzen.

Perspektivisch müssten die geschichtskulturellen Entwicklungen in beiden Ländern stärker in zeitlicher Perspektive in den Blick genommen und miteinander verglichen werden, so insbesondere die großen politischen Brüche, um aufzeigen zu können, ob und wie sich diese Transformationen „im Kleinen“ im Umgang mit den Hinterlassenschaften der ehemaligen KZ-Außenlager widerspiegelten. So könnten Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten zwischen dem Gedenken in Tschechien und Bayern stärker herausgearbeitet werden. Die Tatsache, dass sich Tschechien als „Opferland“ verstanden habe, während die bundesdeutsche Gesellschaft die Rolle des „Täterlandes“ nur zögerlich anzunehmen bereit war, habe starke Wirkung auf das historische Bewusstsein von und über die Außenlager gehabt. Ein weiterer Einbezug der ostdeutschen Bundesländer, das machte der Beitrag von Angie Meyer deutlich, wäre hier ertragreich.

Konferenzübersicht:

Freitag, 28. Oktober, Tagungsort: Paul-Pfinzing-Gymnasium, Hersbruck

Tagungsleitung/Moderation: Barbara Raub (Hersbruck) / Matthias Rittner (Flossenbürg) / Anja Sparberg (Nürnberg)

Rolf Rosignuolo (Hersbruck): Begrüßung

Schüler:innen des Paul-Pfinzing-Gymnasiums, Barbara Raub, Anja Sparberg, Burak Uzun (Nürnberg): Performance: Verkehrsschilder der Gerechtigkeit

Schüler:innen des Paul-Pfinzing-Gymnasiums, Barbara Raub, Anja Sparberg, Burak Uzun: Brieffreundschaft oder: Wie kommen wir ins Gespräch? Briefwechsel von Hersbruck nach Litoměřice und zurück

Hannah Trapp (Erlangen-Nürnberg): Zeitzeuginnengespräch mit Irmingard Philipow (Hersbruck)

Schüler:innen des Paul-Pfinzing-Gymnasiums, Barbara Raub, Anja Sparberg, Burak Uzun, Matthias Rittner: Rollenspiel und Performance: „Was tust DU?“ Der Zugtransport aus Leitmeritz im April 1945 zur Filmdokumentation „Todeszug in die Freiheit“

Teresa Hartl (Nürnberg/Pilsen): Čojč – Chancen durch das grenzübergreifende Theaternetzwerk Böhmen-Bayern

Ulrike Flügl (Regensburg): Internationaler Jugendaustausch zwischen Deutschland und Tschechien

Ester Adamová, Tereza Knoflíčková, Barbora Košková, Michaela Jebavá, Zuzana Cilerová (Liberec): „Erinnerungsorte“: Arbeit mit „Holocaust-Biographien“

Lena Albert (Bamberg): Digitalisierung von Häftlingsbiografien des ehemaligen KZ-Außenlagers Hersbruck

Thomas Muggenthaler (Regensburg): Filmvorführung und Diskussion „Todeszug in die Freiheit“

Samstag, 29. Oktober, Tagungsort: Friedrich-Alexander-Universität, Nürnberg

Tagungsleitung/Moderation: Nadja Bennewitz / Leo Stöcklein (Erlangen-Nürnberg)

Charlotte Bühl-Gramer (Erlangen-Nürnberg): Begrüßung

Nadja Bennewitz / Leo Stöcklein: Lokale Geschichtskultur in Hersbruck

Alfons Adam (Berlin): Das unbekannte Lager bei Theresienstadt (Terezín). Der Umgang mit dem KZ-Außenlager Leitmeritz in der Tschechoslowakei/Tschechien nach 1945

Christoph Maier (Erlangen-Nürnberg): Das KZ Hersbruck im Kontext der Kriegsjahre 1944/45 und dessen juristische, gesellschaftliche und politische Aufarbeitung ab 1950

Katerina Portmann (Liberec): Justizielle Aufarbeitung in Tschechien nach 1945 mit Schwerpunkt auf Leitmeritz

Ivan Rous (Liberec): Die Beziehung zwischen der Rüstungsindustrie und der NS-Zwangsarbeit

Lubor Lacina (Liberec): Gedenkstätten in den Örtlichkeiten der KZ-Außenlager Flossenbürg, Groß-Rosen und Auschwitz auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik

Thomas Irmer (Berlin): Smartphone Apps zur Erkundung ehemaliger KZ-Außenlager um Berlin

Angelika Meyer (Ravensbrück): Was noch erinnert werden kann. Projektvorstellung überLAGERt: Lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in Brandenburg

Nadja Bennewitz / Leo Stöcklein: Zukünftige Perspektiven im Umgang mit KZ-Außenlagern im deutsch-tschechischen Vergleich

Anmerkungen:
1 Der Film ist abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=ldkBMjPFtqA (10.11.2022).
2 Siehe auch: Frings, Lucas: Todeszug in die Freiheit, in: Lernen aus der Geschichte (LaG), 21.11.2018, abrufbar unter: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/14263 (10.11.2022).