Verzicht. Mediävistische Perspektiven

Verzicht. Mediävistische Perspektiven - 28. Jahrestagung des "Brackweder Arbeitskreises für Mittelalterforschung"

Organisatoren
Philipp Winterhager, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin; Brackweder Arbeitskreis für Mittelalterforschung
Veranstaltungsort
Humboldt-Universität zu Berlin
PLZ
10099
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
18.11.2022 - 19.11.2022
Von
Stephan Bruhn, Early Medieval History, Deutsches Historisches Institut London (DHI London)

Mit dem Thema „Verzicht“ widmete sich die 28. Jahrestagung des „Brackweder Arbeitskreises für Mittelalterforschung“1, welche am 18. und 19. November 2022 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand, einem äußerst aktuellen und vieldiskutierten Thema. Ob Energiekrise, Klimawandel oder Gesundheitsschutz: Diskursivierungen des Verzichtens hätten in den letzten Jahren rasant an Bedeutung gewonnen, wie der Veranstalter PHILIPP WINTERHAGER (Berlin) in seiner Einführung herausstellte. Zwei Charakteristika ließen das Thema dabei zu einem lohnenden Untersuchungsfeld für die Mittelalterforschung avancieren. Zum einen prägten Mediävalismen diese Diskurse nachdrücklich, würden zeitgenössische Praktiken doch nicht selten als Fortsetzung beziehungsweise Adaption vormoderner Lebensweisen gedeutet. Insbesondere der mittelalterlichen Askese falle hier eine Schlüsselrolle zu. Zum anderen bewege sich das Sprechen über Verzicht in einem paradoxalen Spannungsfeld von Verlust und Mehrwert, sodass gerade die historische Tiefenschärfe zu einer schärferen Konturierung der unterschiedlichen Praktiken, Semantiken, Logiken und Szenarien des Verzichts beitragen könne. Winterhager schlug daher eine handlungstheoretische Perspektivierung des Phänomens vor, welche sich von der bisherigen Fokussierung auf asketische Praktiken zugunsten weiterer Erscheinungsformen löse, um Verzicht als produktiven wie disruptiven Grenzfall sozialen Handelns weiter zu profilieren.

Die erste Sektion widmete sich vor dem Hintergrund des skizzierten Spannungsfelds von Gewinn und Verlust den Tauschlogiken, mittels deren Verzichtspraktiken im Mittelalter gerahmt werden konnten. SILVIA NEGRI (Zürich) beleuchtete anhand schriftlicher wie bildlicher Tugendlehren aus dem spätmittelalterlichen Oberitalien das Leitbild der Weltflucht, welches als transgressives Moment demonstrativ den Verzicht auf etablierte Lebensgewohnheiten zugunsten eines höheren Ideals markiert habe. In starker Anlehnung an die spätantiken vitae patrum hätten vor allem Mendikanten wie der Dominikaner Domenico Cavalca (gestoben 1342) oder der Gründer der Jesuatenbewegung Giovanni Columbini (gestoben 1367) ganz unterschiedliche Fluchtkonzepte entwickelt, um die auf Verzicht gründende eigene Lebensweise zu propagieren. Als Teil eines breiteren edukativen Programms hätten diese Rückzugspraktiken schließlich eine neue Kultur des Verzichtens im kommunalen Raum etabliert, welche das Management des Selbst in der Gesellschaft allgemein adressiert hätte.

Das mendikantische Selbstverständnis stand auch im Fokus des Vortrags von CHRISTIAN HOFFARTH (Kiel), der sich den praktischen Folgen des franziskanischen Armutsgebots widmete. Das frühe Mönchtum habe zwei Vergeltungsarten für den Verzicht auf persönliches Eigentum propagiert, von denen die eine mit dem jenseitigen Lohn transzendenter, die andere mit der Gütergemeinschaft zur Subsistenzsicherung diesseitiger Natur gewesen sei. Die letztgenannte Dimension sei unter den Franziskanern zum Streitgegenstand geworden, da sich insbesondere der spirituelle Ordenszweig gegen diese Akzeptanz irdischen Gewinnstrebens gerichtet habe. Anhand der Expositio Quatuor Magistrorum, eines Kommentars zur Regula Bullata, der als bislang wenig beachtete Reaktion auf diesen Bruch verstanden werde könne, zeigte Hoffarth dabei den ambivalenten Umgang mit der Streitfrage auf, die letztlich eine existenzielle Dimension gewonnen habe. Denn durch die Annäherung an die etablierten Orden drohte die mendikantische Lebensweise obsolet zu werden, sodass die Radikalisierung der Verzichtsidee als Selbstvergewisserung zu verstehen sei.

RIKE SZILL (Kiel) adressierte in ihrem Vortrag zum Totengedenken bei griechischen Exilgelehrten im humanistischen Italien ebenfalls den Zusammenhang von transzendenter Vergeltung und Verzicht, wobei sie die Perspektive in produktiver Weise umkehrte und gerade Formen des Unterlassens im Bereich der individuellen memoria fokussierte. Über eine Analyse von sechs Grabepigrammen, die in einem Codex des griechischsprachigen Exilanten Janos Laskaris (gestoben 1535) überliefert sind, arbeitete Szill nicht nur mit dem Erinnern durch Weglassen von persönlichen Informationen eine weitere paradoxale Dimension von Verzicht heraus, die ihre besondere Wirkkraft aus dem Bruch mit genrespezifischen Konventionen bezog. Vielmehr verdeutlichte sie mittels des in situ erhaltenen Epitaphs von Laskaris auch das kommunikative Potenzial der hierdurch entstehenden Leerstellen, nutzte der Gelehrte den prestigeträchtigen Ort seiner eigenen Grabinschrift doch für einen Appell zur Rückgewinnung Konstantinopels. Gerade durch das hohe Irritationsmoment böten sich Grabepigramme somit für eine Analyse von Verzichtspraktiken an.

Beschlossen wurde die erste Sektion durch einen Überblick von OLIVER LANDOLT (Schaffhausen) über den Verzicht auf politische Ämter im Mittelalter. Während das Phänomen mit Blick auf Könige respektive Kaiser, Päpste, Äbte und Bischöfe durchaus als Sonderfall gelten könne, der verhältnismäßig gut erschlossen sei, konstatierte Landolt für den kommunalen Raum ein Forschungsdesiderat, welches aufgrund des höheren Grads an politischer Partizipation umso mehr verwundere. In der städtischen Überlieferung ließe sich eine Fülle an entsprechenden Verzichten finden, wobei Landolt eine Reihe von Fällen fokussierte, in denen die Teilhabe am politischen Leben aus religiösen Gründen radikal abgelehnt worden sei. Ja, die freiwillige Aufgabe von Positionen dürfte eine omnipräsente Problemstellung für die kommunale Obrigkeit gebildet haben, wie die vielfältigen Beschlüsse zeigten, die Verweigerung unter Strafe gestellt oder besondere Anreize mit der Wahrnehmung von Ämtern verbunden hätten.

Der zweite Tagungstag begann mit einer Sektion zum riskanten Charakter von Verzicht, der aus dem Bruch mit etablierten Handlungsmustern resultieren konnte. ROLAND SCHEEL (Münster) widmete sich der Diskursivierung von Gewaltverzicht in der Sagaliteratur, die sowohl eine ordnungsgefährdende wie -stabilisierende Dimension aufweise. Da Gewalt als soziale Ressource und somit prinzipiell anerkannte Handlungsoption gegen materiellen Besitz wie auch menschliche Körper aufzufassen sei, bildete insbesondere der einseitige Verzicht auf diese einen Verlust von Handlungsmacht, wie Scheel mit Blick auf gängige Forschungsnarrative herausstellte. Im Unterschied zu diesen Fehdetheorien vermochte er aber ebenso aufzuzeigen, dass einige Texte wie die Þorgils saga ok Hafliða, die Heiðarvíga saga oder das Ende der Brennu Njáls saga anhand von Eskalationsspiralen die Gefahren und Grenzen eines rationalisierten Gewalteinsatzes aufzeigten und folglich für einen Verzicht optierten.

Die ordnungs- und autoritätsgefährdende Dimension von Verzicht stand auch im Mittelpunkt von PHILIPP FREYS (Kiel) Ausführungen zum Hardrad-Aufstand gegen Karl den Großen im Jahr 785/786. Während die hofnahen Annales regni Francorum das entschlossene Vorgehen des Frankenherrschers gegen die Verschwörer akzentuierten, präsentierten die lokalen Annales Nazariani ein gegenläufiges Bild des Konfliktes, welches durch einen temporären Verzicht Karls auf Gegenmaßnahmen gekennzeichnet sei. In der Zusammenschau mit dem Capitulare missorum von 789 interpretierte Frey das Zögern als erzwungenen Verzicht, der sich aus der geschickten Argumentation der Verschwörer ergeben habe: Da die Aufständischen dem Frankenherrscher nie die Treue gelobt hatten, habe Karl bis zur Ablegung eines entsprechenden Eids die Rechtsgrundlage gefehlt, um diese zu bestrafen. Die Verschwörung adressierte somit eine Blindstelle in der karolingischen Herrschaftsordnung, die in der Folge durch die Einholung von Treueiden neu ausgerichtet worden sei.

SUSANNE RIEXINGER (München) widmete sich anhand zweier westeuropäischer Adaptionen der Buddhalegende – dem Barlaam und Josaphat Rudolfs von Ems sowie der altjiddischen Version Ben hamelech weha nosir – den Risiken, die Verzicht mit Blick auf soziale Rollen und die ihnen korrespondierenden Erwartungshaltungen hervorrufen konnte. Mittels einer Figurenanalyse zeigte sie dabei auf, dass die in den Texten entfalteten Verzichtslogiken zwei Risikofaktoren thematisierten: Zum einen stelle Verzicht ein individuelles Wagnis dar, zum anderen belaste er die sozialen Strukturen. Ferner lasse sich in den Versionen auch ein unterschiedliches Verständnis von Askese fassen, welches in divergierenden religiösen Traditionen wurzle. Während die christlich geprägte Fassung Rudolfs vor allem auf das Seelenheil fokussiert sei, optiere die jüdische Version stärker für eine kluge Lebensweise, sodass die Risikofaktoren hier deutlicher abgewogen würden.

Die dritte Sektion adressierte mit der Frage nach der Freiwilligkeit respektive Unfreiwilligkeit das bedeutsame Changieren von Verzichtspraktiken zwischen einem selbstgewählten Unterlassen von Handlungen und einem aus äußeren Zwängen resultierendem Aufgeben von Optionen. TANJA KILZER (Siegen/Köln) fokussierte mit der Burg eine zentrale Machtressource, die geradezu sinnbildlich für die Epoche des Mittelalters stehen kann. Ausgehend von der Multifunktionalität der Anlagen diskutierte sie auf Basis von Schriftquellen wie Baubefunden eine Vielzahl von Motiven und Kontexten, die die Aufgabe von Burgen bedingt hätten. Finanzielle Engpässe auf Seiten der Unterhaltenden und Verschiebungen in der jeweiligen Herrschaftstektonik seien dabei ebenso zu nennen wie der militärische Bedeutungsverlust als Wehranlage oder der Wunsch nach zeitgemäßen Wohn- und Repräsentationsformen. Unfreiwillige und freiwillige Verzichtsformen ließen sich dabei nicht immer trennscharf voneinander unterscheiden. Vielmehr sei häufig von einem Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Faktoren auszugehen, die sich ferner nicht immer in der Überlieferung niedergeschlagen hätten.

MARKUS DOLINSKY beleuchtete mit der Darstellung der norwegischen Königin Þyri (gestorben 1000) in der Historiographie und Sagaliteratur des Hochmittelalters das Phänomen des Hungerstreiks als eine instrumentalisierte Form des Verzichts. Ausgehend von Arbeitsdefinitionen für die zentralen Analysekategorien von „Freiwilligkeit“ und „Martyrium“ legte er die divergierenden Wertungen dar, mit denen der Nahrungsverzicht Þyris in den erzählenden Quellen jeweils versehen worden sei. Entscheidend für die Einordnung sei dabei die Einstellung des Verfassers gegenüber Þyris Ehemann Óláfr Tryggvason (gestorben 1000) gewesen, fungiere das Agieren der Königin doch als erweiterte Charakterisierung ihres Gatten. Der Diskreditierung ihres körperschädigenden Verhaltens als feiger Selbstmord in anti-norwegischen Quellen stünde dementsprechend dessen Überhöhung zum Martyrium in der hagiographischen Óláfs saga Tryggvasonar gegenüber. Die ausführliche Reflexion von Þyris Motiven zeige dabei ferner, dass körperliche Selbstbestimmung nur innerhalb eines strikten Rahmens gesellschaftlicher Normen zuerkannt worden sei.

Eine ganz andere Form des Entsagens stand im Mittelpunkt der Ausführungen von KILIAN BAUR (Eichstätt), der die von Landolt nur am Rande thematisierten Herrschaftsverzichte früh- und hochmittelalterlicher Könige einer fundierten Relektüre unterzog. Die Frage nach der Freiwilligkeit respektive Unfreiwilligkeit fokussierend votierte Baur in Bezug auf die in der Forschung diskutierten Fälle für eine zurückhaltende Verwendung des Verzichtsbegriffs. Im engeren Sinne ließe er sich nur auf die Klostereintritte des Frühmittelalters beziehen, seien diese doch – selbst wenn sie primär als Zwangsmaßnahmen zu deuten seien – immer auf die Zustimmung des Betroffenen angewiesen gewesen. Erst im Hochmittelalter habe sich das Verständnis hier grundlegend gewandelt. Die partielle Aufgabe von Ansprüchen, wie sie etwa für das Mitkönigtum designierter Nachfolger oder Reichsteilungen kennzeichnend sei, wertete Baur indes nicht als Verzicht, da hier andere Handlungslogiken ausschlaggebend seien.

Beschlossen wurde die Tagung durch eine pointierte Schlussdiskussion, in welcher die zentralen Ergebnisse der Vorträge vor dem Hintergrund der programmatischen Einführung noch einmal sinnvoll zusammengeführt wurden. Die unterschiedlichen Fallstudien hätten gezeigt, dass Verzicht vor allem eine willentlich vollzogene Handlungsweise sei, die sich gerade in Form von Zuschreibungsprozessen – seien sie auf andere oder auf die eigene Person bezogen – in den Quellen manifestiere. Diese Reflexion könne etwa der nachträglichen Rationalisierung von Verlusterfahrungen dienen, Ressourcenkonvertierungen markieren oder die Realisierung ganz anderer Handlungsziele camouflieren. Obwohl Verzicht semantisch betrachtet keine zeitgenössische Entsprechung habe, könne er im Sinne eines „kontrollierten Anachronismus“2 die hierunter zu fassenden Praktiken einer vergleichenden historischen Untersuchung zugänglich machen. Weitere Forschungen seien dabei dringend angezeigt, um etwa das Verhältnis von Freiwilligkeit und Zwang oder die Relation von Verzichtspraktiken zu etablierten Handlungsweisen weiter zu konturieren. Die Tagung verdeutlichte somit nicht allein, wie produktiv eine mediävistische Perspektivierung von Verzicht sein kann. Vielmehr zeigte sie auch eine Fülle von Anschlussfragen auf, die einer vertieften Erörterung bedürften. Die angedachte Publikation der Beiträge in Form eines Tagungsbandes wird hierzu zweifellos wichtige Bausteine bereitstellen.

Konferenzübersicht:

Philipp Winterhager (Berlin): Begrüßung und Einführung

Sektion 1: Verzicht als Tausch? – Verzicht zwischen Gewinn und Verlust
Moderation: Philipp Winterhager/Marcel Bubert

Silvia Negri (Zürich): Flucht von der Höhe: Verzicht als Gewinn?

Christian Hoffarth (Kiel): Pilger und Fremdlinge in dieser Welt. Verzicht als Zankapfel mendikantischen Selbstverständnisses

Rike Szill (Kiel): Es schmerzt. Totengedenken und Verzicht bei griechischen Exilgelehrten im humanistischen Italien

Oliver Landolt (Schaffhausen): Der Verzicht auf politische Ämter im Mittelalter: Beispiele aus dem kommunalen Raum

Sektion 2: Verzicht als Risiko – Verzicht und Erwartung
Moderation: Rike Szill

Roland Scheel (Göttingen): Gewaltverzicht als Ressourcenverlust? Normen im Konfliktaustrag in der Sagaliteratur

Philipp Frey (Kiel): Karl der große Verzichter – Der Verzicht von 786, seine Darstellungen und seine Auswirkungen

Susanne Riexinger (München): Verzicht als übermenschliches Ideal? Unterschiedlicher Umgang mit Askese im interreligiösen Vergleich anhand von Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat und der altjiddischen Version Ben hamelech weha nosir

Sektion 3: Verzicht zwischen Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit
Moderation: Lisa Horstmann

Tanja Kilzer (Siegen/Köln): Notwendiges Übel oder strategischer Schachzug? Der Verzicht auf die Burg

Markus Dolinsky (Erfurt): Freiwillige Selbstaufopferung – Martyrium, Suizid und das richtige Maß des Verzichts

Kilian Baur (Eichstätt): Entsagen – mitherrschen – teilen: Herrschaftsverzicht im Früh- und Hochmittelalter

Abschlussdiskussion
Moderation: Roland Scheel

Anmerkungen:
1https://brackwederarbeitskreis.wordpress.com (09.12.2022)
2 Peter von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: Ders. / Gert Melville (Hrsg.), Öffentliches und Privates, Gemeinsames und Eigenes. Gesammelte Studien zum Mittelalter Bd. III, Berlin 2007, S. 121–202.

https://brackwederarbeitskreis.wordpress.com/2022/10/06/28-jahrestagung-verzicht-mediavistische-perspektiven-berlin-18-19-11-2022/
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