Transformationsgeschichte(n)

Transformationsgeschichte(n)

Organizer(s)
Forschungsstelle Transformationsgeschichte, Universität Leipzig; Hans-Böckler-Stiftung, Forschungsverbund „Wendezeiten. Einfluss und Strategie von Gewerkschaften in der ostdeutschen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft“
Funded by
Horst-Springer-Stiftung für Neuere Geschichte Sachsens in der Friedrich-Ebert-Stiftung; Johannes-Sassenbach-Gesellschaft. Verein zur Förderung der Geschichte der Gewerkschaften, Berlin
Location
Leipzig
Country
Germany
Took place
In Attendance
From - Until
08.12.2022 - 09.12.2022
By
Katharina Eger / Lisa Weck / Felix Schneider, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Zweifelsohne! Leipzig ist nicht irgendein Schauplatz im Umbruchsgeschehen Ostdeutschlands, das ab 1989/90 seinen unaufhaltsamen Lauf nahm. Aber genügt dies auch als hinreichende Begründung, warum nun auch hier angesichts der Vielzahl an Forschungsverbünden zur jüngsten Geschichte Ostdeutschlands1 eine weitere Forschungsstelle für Transformationsgeschichte entstanden ist? So zumindest ein Argument der beiden Direktoren DETLEV BRUNNER und DIRK VAN LAAK (beide Leipzig) in ihrer Begrüßung auf der international und interdisziplinär ausgerichteten Auftaktveranstaltung. Indem die folgenden zwei Tage Schlaglichter auf verschiedene Räume (ländlicher und städtischer bzw. nationaler und internationaler), Arenen (Verwaltung und Bildung) sowie Akteursgruppen (Gewerkschaften und Treuhandanstalt) warfen, konnte die anfängliche Skepsis beseitigt und – so viel sei vorweggenommen – anschaulich vermittelt werden, dass die hier angesiedelten bzw. vorgestellten Projekte einen gewinnbringenden Beitrag zur Forschungsdebatte versprechen. Vor allem, aber nicht ausschließlich, aufgrund der Kooperation mit der Hans-Böckler-Stiftung, die zu einem Fokus auf der Rolle der (westdeutschen) Gewerkschaften im Transformationsgeschehen führt. MICHAELA KUHNHENNE (Düsseldorf) spitzte daran anschließend prägnant zu, dass man den Beitrag gewerkschaftlichen Handelns in den frühen 1990er-Jahren bisher zu Unrecht weitestgehend übersehen habe.

Detlev Brunner legte plausibel dar, dass die unterschiedlichen gewerkschaftlichen Organisationen in der Bundesrepublik und in der DDR auf den Zusammenbruch der letzteren zwar nicht vorbereitet waren, aber dennoch mitnichten planlos handelten. Am Beispiel der sogenannten Industrieholding, einem Konzept, dass die IG Metall für die Umgestaltung der volkseigenen Wirtschaft der DDR entwickelte, wurde deutlich, dass die Gewerkschaft einen Alternativvorschlag zu den Privatisierungskonzepten der Treuhandanstalt vorlegte. Deren Hauptanliegen sei es gewesen, einen Großteil der Arbeitsplätze zu sichern und damit nicht zuletzt einer prognostizierten Abwärtsspirale durch Abwanderung entgegenzuwirken. Obwohl die Idee nicht zur Umsetzung kam, ließe sich an diesem Beispiel zeigen, dass gewerkschaftliche Ideen Teil der regen Debattenlandschaft waren. Die anschließende Diskussion kreiste u.a. um die Frage, von welcher Furcht die Überlegungen der westdeutschen Gewerkschaften womöglich primär getrieben waren: vor der Angst vor Massenarbeitslosigkeit im Osten, oder doch eher davon, durch die einsetzende Abwanderung könne der westdeutsche Arbeitsmarkt unter Druck geraten.

Ein Schlaglicht auf die Gestaltungskraft betrieblicher Akteur:innen während des Unternehmensumbaus warf JAKOB WARNECKE (Leipzig). Seine Studie fragte nach der sozialen Praxis von Privatisierung am Beispiel des Hennigsdorfer Stahlwerkes im Zeitraum von 1989 bis 1994, als der Betrieb von dem italienischen Riva-Konzern übernommen wurde. Dass Transformationsprozesse nicht ausweglos über Menschen hereinbrechen, sondern von ihnen gestaltet werden, zeige die Rolle des bereits 1990 gegründeten Betriebsrats sowie die Handlungsmacht der Belegschaft, die als Reaktion auf den massiven Stellenabbau im Privatisierungsprozess den Betrieb besetzte, um sich so Gehör zu verschaffen. Warnecke kam zu dem Ergebnis, dass sich (auch) in diesem konkreten Fall weder eine klare Niedergangs- noch Erfolgsgeschichte erzählen ließe.

Auch im folgenden Panel zeigte sich, dass eine Bewertung der Entwicklungen in den1990er-Jahren nicht nach diesem dichotomen Muster erfolgen kann. Die beiden Beiträge widmeten sich der Transformation in den ruralen Gegenden Ostdeutschlands, die im Vergleich zu den urbanen Zentren nach wie vor weit weniger beforscht sind. Aus einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive heraus zogen THEO FOCK (Neubrandenburg) und RAINER FATTMANN (Bonn) mit Blick auf die Umgestaltung der LPGs und volkseigenen Güter eine durchaus positive Bilanz, kam es doch nicht zu einem vollständigen Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Strukturen. Zudem verblieb ein Großteil der Betriebe in den Händen von Ortsansässigen.

Dieser Bewertung widersprach UTA BRETSCHNEIDER (Leipzig) entschieden, könne sie an dem Verlust von knapp 700.000 Arbeitsplätzen nichts erkennen, was sich als Erfolg verbuchen ließe. Anstelle eine Meistererzählung von der gelungenen Wiedervereinigung zu ventilieren, plädierte sie in ihrem erfahrungsgeschichtlichen Vortrag für eine vielstimmige Erinnerungslandschaft, die die mitunter quer zueinander liegenden Erlebnisse und Erfahrungen verschiedenster Gruppen integriere. Zudem gab sie einen berechtigten Impuls, der die weitere Veranstaltung begleiten würde: Es sei an der Zeit, über einen handhabbaren Epochenbegriff nachzudenken. Abseits der Wissenschaftswelt können sich viele Menschen unter Transformationsprozess kaum etwas vorstellen, ganz abgesehen davon, dass dies ein universeller Prozessbegriff für unterschiedliche Formen von Veränderung ist, mit dem Kontinuitäten schnell aus dem Blick zu geraten drohen.

Ein weiterer Schwerpunkt der Konferenz lag auf Leipzig als Untersuchungsgebiet. Der Geschichte der Leipziger Stadtverwaltung und den Narrativen über deren Arbeit in der Amtszeit von Hinrich Lehmann-Grube (SPD) als Oberbürgermeister (1990–1998) widmete sich KONRAD BUNK (Leipzig). Prominent hinterfragte er dabei das (vermeintlich immer) einmütige „Leipziger Beteiligungsmodell“ im Rahmen von kommunalen Entscheidungsprozessen. Ebenfalls gelte es, die personelle Umgestaltung in Führungspositionen der Verwaltung im Lichte des möglichen Reibungspotentials einer Vielzahl von Akteuren wie Gewerkschaften, Altpersonal und Berater:innen zu untersuchen. Als große Herausforderung beschrieb Bunk außerdem den Aktenzugang. Damit sprach er eine allgemeine Problemlage an. Mit archivalischen Erschließungslücken und gesetzlichen Schutzfristen sehen sich viele der historischen Forschungsprojekte zu den 1990er-Jahren konfrontiert.

LAURA HÖSS (Darmstadt) erörterte die Veränderlichkeit der soziotechnischen Systeme der Stadt und ihrer Region zwischen der Endphase der DDR und den 1990er-Jahren. Im Fokus standen hier die Infrastrukturmaßnahmen im Bereich Verkehr, Energie und Kommunikation. Dabei wurden Verflechtungen von Wirtschafts- und Verkehrspolitik ebenso aufgezeigt wie eine räumlich und zeitlich divergierende Entwicklung bestimmter Infrastrukturtypen. Im Norden Leipzigs etwa habe der Fokus eher auf der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur gelegen, während im Süden die Entwicklung des Energiesektors vorangetrieben wurde. Letzteres verlief laut Höss wesentlich schneller.

Die Podiumsdiskussion widmete sich dem bereits zuvor geäußerten Unbehagen am Transformationsbegriff. ALFONS KENKMANN (Leipzig) fragte nach den fachspezifischen Definitionen dieses Prozessbegriffs. RÜDIGER STEINMETZ (Leipzig) schlug eine Herleitung von der lateinischen Wortherkunft her, die als Überführung von einer in eine andere Struktur verstanden werden will. RAJ KOLLMORGEN (Zittau/Görlitz) insistierte auf der Notwendigkeit, Gesellschaftstransformation als größeren Begriff zu etablieren, um anhand der vertikalen Radikalität, der horizontal holistischen Dimension und der zeitlichen Gliederung bei insgesamter Langzeitigkeit die Unterschiede von Transformation zu anderen sozialen Wandlungsprozessen herauszustellen. Zur genaueren Bestimmung des Begriffs definierte er drei idealtypischen Begriffspaare: evolutionär und revolutionär, innovativ und imitativ sowie gesteuert und ungesteuert. Detlev Brunner (ersetzte Alexander Leistner) verstand unter Transformation einen umfassenden und synchron ablaufenden Wandel auf verschiedenen Ebenen sowie in verdichteter Zeit. Ergänzend verwies Kollmorgen auf die Unterscheidung zwischen den Begriffen Transition als eruptivem Moment und Transformation als umfassendem Prozess. Im weiteren Gespräch wurde zudem auf die Problematik der Weite des Transformationsbegriffes in Form von Sinnentleerung und Ungenauigkeit ebenso eingegangen wie auf die Chancen und Herausforderungen interdisziplinären Zusammenarbeitens bei der Begriffsschärfung und der Nutzung eines diachronen Zugriffs.

MAŁGORZATA ŚWIDER (Opole) und LUCYNA PROROK (Łódź) lenkten in ihren wirtschaftsgeschichtlichen Beiträgen den Blick auf die Entwicklungen in Polen. Świder fokussierte sich mit einer akteurszentrierten Perspektive auf das Engagement der Solidarność bei der Lösung der staatswirtschaftlichen Probleme ab 1989/90. Insbesondere das Bemühen von Ehrenamtlichen, von mit der Solidarność verbundenen Berater:innen sowie die weitreichenden Wirtschaftsreformen zur Bekämpfung der Hyperinflation stellten die Gewerkschaft vor die grundlegende Frage ihrer zukünftigen Ausrichtung: Gewerkschaft bleiben oder sich in eine politische Partei umwandeln? Die Befürwortung einer radikalen Transformation der Wirtschaft ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Kosten unterminierte dann jedoch ihren Rückhalt in der polnischen Bevölkerung. Dagegen wählte Prorok in ihrer Lokalstudie zum Wirtschaftsstandort Łódź einen längerfristigen Zugriff, wodurch sie das Industriewachstum im 19. und 20. Jahrhundert der Stadt als Folge von Unternehmensansiedelungen nachzeichnen konnte. Die in dieser Zeit gelegten Grundlagen für eine starke Infrastruktur begründeten Łódźs Position als Wirtschaftsstandort nicht nur über die beiden Weltkriege hinweg, sondern auch bis zu den Verstaatlichungsmaßnahmen der 1960er-Jahre. Mit der Systemtransformation ab den 1990er-Jahren wurden dann tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Folgekosten um den Preis des politischen Wandels und der Überführung in die Marktwirtschaft in Kauf genommen.

KEITH ALLEN (Leipzig) erweiterte den Blick nicht nur um eine westeuropäische Perspektive, sondern führte auch die Forschungsdebatte über die sogenannte Ko-Transformation ein.2 In seiner Forschung, die sich mit ostdeutschen Werften beschäftigt, konstatierte er erhebliche Produktionskapazitäten, die beispielsweise die Frankreichs um das Dreifache übertroffen hätten. Beziehe man etwa Quellen aus den Niederlanden und Großbritannien in die Betrachtung mit ein, so erscheine die Rolle der europäischen Institutionen für das Schicksal der Werften wesentlich größer gewesen zu sein, als jüngste Forschungsergebnisse vermuten lassen.

Die beiden letzten Beiträge boten noch einmal mittels makro- bzw. mikrogeschichtlicher Zugänge einen Blick auf die Transformation des Bildungssystems. JÖRN-MICHAEL GOLL (Leipzig) vertrat die These, dass die ostdeutschen Landesverbände der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) nachhaltig prägend für den Charakter der Gesamtgewerkschaft gewesen seien und einen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung hin zu einer Bildungsgewerkschaft gehabt hätten, allerdings auf Kosten ihres eigentlichen Ziels eines veränderten Bildungssystems auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.

Ob sich diese durchaus schon in den 1980er-Jahren entwickelten Vorstellungen zumindest teilweise im Klein-Klein der Leipziger Schulen durchsetzen konnten, hinterfragte ERIK FISCHER (Leipzig). Die Dynamik der 1990er-Jahre habe auch hier zu etwas Neuem geführt, das nicht gleichzusetzen sei mit einer bloßen Kopie des Bildungssystems des süddeutschen Partnerlandes Baden-Württemberg. Darüber hinaus lieferte Fischer Einblicke in die äußerst brisanten und biografisch bedeutsamen Personalentscheidungsprozesse im Gefolge des Zusammenbruchs der DDR, die er in die komplexen lokalen Strukturen und Akteursnetzwerke einbettete.

Die abschließende Diskussion zog nicht nur eine Bilanz der vorangegangenen zwei Tage, sie lenkte den Blick auch auf die zukünftigen Potenziale und Herausforderungen der Transformationsforschung insgesamt. Neben der beständigen Prüfung bei der Verwendung des Transformationsbegriffs ob seiner bisherigen Alternativlosigkeit plädierte Brunner auch für eine in diesem Feld geradezu gebotene stärkere Zusammenarbeit zwischen einzelnen Forscher:innen und ihren unterschiedlichen Disziplinen sowie mit den Archiven. Aus dem Publikum wurde vor allem die Blickerweiterung auf den Plural des Veranstaltungstitels gefordert. Viel mehr noch als bisher müsse der Vielfalt gesellschaftlicher Akteur:innen bzw. deren Perspektive Rechnung getragen werden. Auch die europäischen bzw. internationalen Auswirkungen im Sinne einer immer noch zu prüfenden Ko-Transformation versprechen weitere Erkenntnisse für die jüngste Zeitgeschichte. Alles in allem machten die zwei Tage neugierig auf die kommenden Veranstaltungen und weiteren Ergebnisse der Leipziger Forschungsstelle für Transformationsgeschichte.

Konferenzübersicht:

Begrüßung (Dirk van Laak, Leipzig); Vorstellung Forschungsstelle (Detlev Brunner, Leipzig) und Forschungsverbund (Michaela Kuhnhenne, Düsseldorf)

Panel 1: Gewerkschaften und Arbeitswelt
Moderation: Michaela Kuhnhenne

Detlev Brunner (Leipzig): Gewerkschaftliche Konzepte für die neuen Länder. Alternativen der Wirtschaftspolitik in den 1990er Jahren

Jakob Warnecke (Leipzig): „Der Kampf um unseren Betrieb hat begonnen“. Die Rolle gewerkschaftlicher Praxis im Hennigsdorfer Stahlwerk zwischen 1989/90 und 1994

Panel 2: Transformation auf dem Lande
Moderation: Detlev Brunner

Theo Fock (Neubrandenburg) / Rainer Fattmann (Bonn): Die Transformation der ostdeutschen Landwirtschaft nach der politischen Wende in der DDR und die Rolle der Gewerkschaften

Uta Bretschneider (Leipzig): Transformationserfahrungen auf dem Land

Panel 3: Verwaltung und Infrastruktur in der Transformation
Moderation: Dirk van Laak

Konrad Bunk (Leipzig): Leipzigs Stadtverwaltung in der Transformation der 1990er Jahre

Laura Höss (Darmstadt): Eine „Systemtransformation“? Die Transformation urbaner Infrastrukturen in Leipzig und Region in den Neunzigerjahren

Podium: Transformation – Begriff und Forschungsansätze
Moderation: Alfons Kenkmann (Leipzig)

Raj Kollmorgen, Detlev Brunner, Rüdiger Steinmetz

Panel 4: Europäische Transformationen
Moderation: Alexander Mionskowski (Vilnius/Leipzig)

Małgorzata Świder (Opole): Die Solidarność und die Transformation in Polen

Lucyna Prorok (Łódź): Transformation in Poland. The example of the Łódź region

Keith Allen (Leipzig): Europäische Ko-Transformation. Sanierung von ostdeutschen Schiffbauunternehmen durch multinationales Handeln

Panel 5: Bildung
Moderation: Judith Kretzschmar (Leipzig)

Michael Goll (Leipzig): Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Einheits- und Transformationsprozess

Erik Fischer (Leipzig): Schule im Umbruch – Die Transformation des sächsischen Schulwesens am Beispiel des Schulbezirks Leipzig (1980–2005)

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Einen umfangreichen Forschungsüberblick zur Transformationsforschung Ostdeutschlands seit den 1990er-Jahren legte dieser Tage Marcus Böick bei Docupedia vor: https://docupedia.de/zg/Boeick_transformation_v1_de_2022 (zuletzt aufgerufen am 30.01.2023)
2 Philipp Ther et. al. (Hrsg.), In den Stürmen der Transformation. Zwei Werften zwischen Sozialismus und EU, Berlin 2022.