Energieland Nordrhein-Westfalen – Historische Entwicklungen und Perspektiven

Energieland Nordrhein-Westfalen – Historische Entwicklungen und Perspektiven

Organisatoren
Brauweiler Kreis für Landes- und Zeitgeschichte e.V.
PLZ
44649
Ort
Gelsenkirchen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
02.03.2023 - 03.03.2023
Von
Fabian Köster, Historisches Seminar, Universität Münster

Gerade vor dem Hintergrund gegenwärtiger Debatten zum Thema „Energie“ in den unterschiedlichsten Ausprägungen, nicht selten aber mit dem Begriff „Krise“ verbunden, wurde der Aktualitätsbezug der diesjährigen Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V. im Wissenschaftspark Gelsenkirchen deutlich. Im Fokus standen die historischen Entwicklungen und Perspektiven des Energielands Nordrhein-Westfalen. Zur wieder in Präsenz durchgeführten Tagung begrüßte die Vorsitzende des Brauweiler Kreises SABINE MECKING (Marburg) und identifizierte das Tagungsthema der Energie als zentrales Feld für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Während tagesaktuell die Störanfälligkeit des Sektors zu Tage trete, zeige sich in der geschichtlichen Entwicklung ein enormer Bedeutungszuwachs der Energiepolitik und -wirtschaft, begleitet von Fragen: Welche Energieträger stehen zur Verfügung und wie sind sie zu nutzen? Inwieweit ist bei der Stromerzeugung auf fossile oder regenerative Quellen zu setzen? Sie verwies auf die damit verbundenen heftigen Kontroversen und emotionalen Diskussionen in der Vergangenheit und Gegenwart. Diese waren auch Teil des anschließenden Abendvortrags von FRANK UEKÖTTER (Birmingham), der einen synthetisierenden Überblick der Atomenergiegeschichte aus dem ungewohnten Blickwinkel des Ruhrgebiets lieferte. Denn ebendort waren fast keine Atomkraftwerke ansässig, dafür aber das zentrale Unternehmen des bundesdeutschen Reaktormarktes KWU in Mülheim an der Ruhr. Ebenso sei die Region als Standort wesentlicher Gebietsmonopolisten finanzstarker Entscheidungsort der Boomjahre gewesen. Der Vortragende konstatierte einen nuklearen Tribalismus, in dem er den RWE-Vorstand Heinrich Mandel in Essen als zentrale Figur identifizierte. Im Kontext von Protestwellen und falschen Energieprognosen der Atomwirtschaft in den 1970er-Jahren bezog sich Uekötter auf den „Jahrhundertvertrag“ oder den sogenannten Kohlepfennig, der wiederum zu einem Schulterschluss zwischen Atomenergie und Gewerkschaften im Ruhrgebiet geführt habe. Er bilanzierte in seinem diskursanalytischen Ansatz eine Konsensgeschichte, eine Lernerfahrung: Das Ergebnis sei ein genuines Produkt der bundesdeutschen Verhandlungskultur. In der anschließenden Diskussion wurden einerseits die Proteste als wichtiger Faktor unterstrichen, als ständiger Anschub der nuklearen Kontroverse, die jedoch auch auf eine schwächelnde Industrie trafen. Andererseits wurde die Rolle des Ruhrgebiets diskutiert und die Frage gestellt, ob hier über die Brückenressource Steinkohle nicht das Potenzial eines Profiteurs der Krise gelegen haben könnte? Gegen diese Planspiele hätte der „Jahrhundertvertrag“ jedoch eine klare Grenze gezogen.

Zum zweiten Tagungstag begrüßte DANIEL SCHMIDT (Gelsenkirchen) die Anwesenden und führte in die erste Sektion ein, die sich mit Kohleabbau und (Umwelt-)Folgen auseinandersetzte. Dabei unterstrich er die energiehistorische Bedeutung Gelsenkirchens und verwies nicht nur auf die montanindustrielle Prägung, sondern auch auf umweltpolitische Zukunftsvisionen: Neben Kohle-, Stahl- und Glasindustrie habe sich die Stadt im Zuge des Strukturwandels auch als Solarstandort versucht. Das neue Zukunftsversprechen erwies sich allerdings als wenig nachhaltig; die Gründe hierfür sollten in der zweiten Sektion nochmals intensiv diskutiert werden. Zunächst widmeten sich allerdings JULIANE CZIERPKA (Bochum) und JANA LENA JÜNGER (Bochum) der Steinkohle, ihrem Abbau, den Umweltfolgen und den Pfadabhängigkeiten. Nachdem der extensive Steinkohleabbau Nordrhein-Westfalen lange geprägt hat, stelle sich nun die Frage: Was bleibt von der Steinkohle? Bei der Suche nach Antworten nutzten die beiden Referentinnen das Konzept der Pfadabhängigkeiten, die Entwicklung historischer gewachsener Pfade. Kraftwerke tragen in Nordrhein-Westfalen dominant zur Bruttostromerzeugung bei, während wenig erneuerbare Energie und keine Atomkraftwerke existieren. Exemplifiziert am Beispiel des Lüner Kohlekraftwerks von 2013 beziehungsweise dem dortigen „Trianel“ zeigten sich die Pfadabhängigkeiten der Kohle: Standortvorteile, Anknüpfungspunkte an ein historisches Kraftwerk der 1930er-Jahre sowie eine Anpassungsfähigkeit im Bereich des Energieträgerimports. Die Umweltfolgen des Bergbaus arbeiteten Czierpka und Jünger wiederum an den miteinander verbundenen Beispielen der Bergsenkungen, dem Grubenwasser sowie den entstandenen Schadstoffen heraus – begleitet von der perspektivischen Unterscheidung zwischen Veränderung und Zerstörung. Letztere sei im Kontext der Umwelt eine Ewigkeitslast für das Ruhrgebiet.

Eine „Landschaft in Not“ war auch Teil des anschließenden Vortrags von CHRISTIAN MÖLLER (Bielefeld), der sich dem Braunkohletagebau, den damit verbundenen Umweltfolgen sowie dem demokratischen Wandel im Rheinischen Revier widmete. Sein Ausgangsbefund war das Scheitern etablierter Aushandlungsprozesse in der Bewältigung des Braunkohletagebaus: Häufig würden Fragen nach Partizipation gestellt, er suche nach dem Ursprung des Aushandlungsmodells. Die drei großen Entwicklungslinien nach 1945 – Braunkohleverstromung, große Tagebaue und betriebliche Konzentration – verknüpfte Möller mit dem zentralen Begriff des Korporatismus. Die Aushandlungen im Braunkohleausschuss (BKA) wurden als Zwangskonsens identifiziert: Über das Prinzip der Einstimmigkeit sollte Akzeptanz für den Tagebau geschaffen werden, ohne das Energieregime zu hinterfragen. Bilanzierend wurden die Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit als förderlich für eine besondere Konsensbereitschaft unterstrichen. Der zugrundeliegende demokratische Korporatismus habe dem Braunkohletagebau zu neuer Legitimation verholfen, jedoch hätten sich diese Mechanismen schließlich als unflexibel erwiesen und die Erosion der Akzeptanz des braunkohlebasierten Energieregimes begünstigt.

Nachfolgend wurden die Vorträge der ersten Sektion diskutiert: Der Beantwortung der Frage nach den Gründen für die Dominanz der Ruhrkohle näherten sich die Diskutierenden ebenfalls mit dem Begriff des Korporatismus an: Wenn alle beteiligt sind, ist zunächst niemand außerhalb eines (scheinbaren) Konsenses, was beispielsweise in England über die Akteure Unternehmen versus Arbeitnehmer anders funktioniert habe. Im Kontext von Pfadabhängigkeiten stellte sich weiterhin die Frage nach einer möglichen „kontaminierten“ Ruhrgebietsmentalität, begleitet vom Narrativ des „weißen Bergmanns“. Jenem gelte es über eine Perspektiverweiterung der Forschung, über die Betrachtung anderer Akteure entgegenzuwirken.

„Alarmsignal, die Sonne brennt.“ Peter Schillings „Die Wüste lebt“ zitierend führte MARTIN SCHLEMMER (Duisburg) in die zweite Sektion ein und verwies so auf das dominante Thema des folgenden Vortrags: Solarenergie. Dieser attestierte JOACHIM RADKAU (Bielefeld) titelgebend ein deutsches Drama zwischen Triumph und Tragödie. Bezugnehmend auf den Tagungsort erörterte er zunächst den Versuch Gelsenkirchens, sich in den 1990er-Jahren als Solarstadt zu etablieren. Sonnenenergie sollte dabei helfen, die Strukturkrise zu überwinden. Die Wurzeln des Engagements lägen in der florierenden Glasindustrie der Nachkriegszeit. Verbunden mit einer geplanten Solarsiedlung im Stadtteil Gelsenkirchen-Bismarck sollte der Wissenschaftspark als Zukunftsprojekt ein solares Zentrum darstellen. In den Debatten zu dem im Jahr 2014 erfolgten „Sonnenuntergang“ findet sich der Vorwurf einer reinen Imagepolitik, den Radkau jedoch nicht teilte: Vielmehr habe es an Schlüsseltechnologien gefehlt, während der chinesische Konkurrenzmarkt nicht nur Gelsenkirchen, sondern den gesamten deutschen Markt unter Druck gesetzt habe. Dies sei nicht mit einem umfassenden Niedergang der Solarindustrie gleichzusetzen, die entgegen einer Niedergangserzählung vielmehr zwischen Triumph und Niederlage zu verorten sei. Nach abschließenden Ausführungen zum Solarpionier Bernd Stoy (RWE), der solaren Wende in Jülich sowie dem Aachener Solarstreit betonte Radkau noch einmal die Ambivalenz der solaren Szene – wissenschaftlich wie wirtschaftlich.

Anschließend setzten ALEXANDRA VON KÜNSBERG (Mannheim) und PHILIPP WUNDERLICH (Mannheim) einen wirtschaftsgeschichtlichen Schwerpunkt: An den Befund historischer Unwuchten schlossen sie die Frage an, wie alte Konflikte der Stromwirtschaft in Nordrhein-Westfalen die Gegenwart prägen. Seit den 1930er-Jahren sei zunächst die Abwesenheit von Wettbewerb prägend gewesen, ein nach außen natürliches Monopol, das stabile Erträge zur Folge hatte, indes Regulierung auch als Konflikttreiber entlang der Demarkationsgrenzen fungierte. Die Liberalisierung der späten 1990er-Jahre etablierte dann neue Marktteilnehmer, Deregulierung habe zu Konsolidierungen geführt und den Konflikt der großen Konkurrenten RWE und VWE vermeintlich gelöst. Für die Zeit seit Mitte der 2000er-Jahre identifizierten Künsberg und Wunderlich energiepolitische Umwälzungen und einen echten, konflikthaften Wettbewerb: Die Auflösung dieser Konflikte sei wiederum über eine Differenzierung der Wertschöpfungskette gelungen. Dabei sei der Geschäftsbereich der Stromerzeugung gegenüber dem des Vertriebs mit der Bereitstellung von Netzen finanziell deutlich attraktiver.

In der nachfolgenden Diskussion der beiden Vorträge stellte sich die Frage, ob die stromwirtschaftlichen Maßnahmen aktuell dafür geeignet seien, den Status Nordrhein-Westfalens als „Energieland Nr. 1“ aufrechtzuerhalten. Das führte zur Gegenfrage: Kann das Bundesland seine Chancen nutzen? Nordrhein-Westfalen beherberge zweifelsfrei die größte Anzahl relevanter Akteure, doch liege der Schlüssel zum Erfolg in der Zukunftsaufstellung im Bereich Ingenieurskompetenz und Energiespeicherung. Auf die Frage, ob die dargestellten stromwirtschaftlichen Strategien seit den 2000er-Jahren nicht eigentlich den Wettbewerb reduziert hätten, erfolgte eine ambivalente Antwort: Wettbewerb sei besser als Nicht-Wettbewerb, volkswirtschaftlich würden weitere Player jedoch keinen Sinn ergeben, während die Beschränkung auf ein Kerngeschäft entlang der Wertschöpfungskette effektiv sei. Bei Überlegungen zum Vorwurf der Solarbewegung Richtung Landes- und Bundespolitik, eine Chance vertan zu haben, wurde einerseits die Belastung durch parallele Krisen benannt, andererseits sei lange Zeit Kernenergie als Lösungsstrategie zur Kohlendioxid-Reduktion favorisiert worden.

SABINE MECKING (Marburg) führte in die dritte und letzte Sektion des Tages ein, die sich mit der deutschen und internationalen Energiepolitik auseinandersetzte. Hierfür nahm zuerst RÜDIGER GRAF (Potsdam) den Aufstieg der bundesrepublikanischen Energiepolitik in den Blick, zu der er die These aufstellte, diese habe ihren Ursprung in den Krisen von Kohle, Öl und Atomenergie. Über die Betrachtung der Frequenz des Begriffs „Energie“ im politischen Diskurs der Weimarer Republik leitete er eine relative politische Bedeutungslosigkeit in dieser Zeit ab, während nach 1945 ein ökonomischer Nachkriegsboom verbunden mit wachsendem Energieverbrauch den Terminus „Energiepolitik“ hervorgebracht habe. Für die Zeit nach dem Überfluss konstatierte Graf eine Defensivposition der Kohle, aber auch eine Verknappungsangst im Ölsektor in den 1970er-Jahren. Das Versprechen der Kernenergie mündete zum einen im Trilemma aus Umweltschutz, Sicherheit und Finanzierung, beförderte aber auch einen Energiediskurs, in den Konsumenten miteinbezogen wurden. Der Klimawandel habe schließlich die Koordinaten nochmals verschoben – Energie sei das zentrale politische Handlungsfeld unserer Zeit.

Daran anschließend fragte HENNING TÜRK (Bonn) im letzten Vortrag des Tages zum nordrhein-westfälischen Steinkohlebergbau in der internationalen Energiepolitik nach der ersten Ölkrise nach neuen Chancen für die Kohle. Denn ebenjene Krise habe eine (vermeintliche) internationale Kohlerenaissance zur Folge gehabt. Hieran anknüpfend stellte sich die Frage, wie sich der Ruhrgebietsbergbau auf dieser internationalen Ebene eingebracht hat. Neben der Gründung der Internationalen Energieagentur (IEA), dem Ausbau von Atomkraft, Kohlenutzung und -welthandel identifizierte der Vortragende in internationaler Forschung und Entwicklung den Schlüssel zur Wiederbelebung der Kohle. Am Beispiel der „Wirbelschichtfeuerung“ wurde die Bedeutung der technisch-wissenschaftlichen Forschungsarbeit des nordrhein-westfälischen Akteurs Bergbau-Forschung GmbH deutlich. Die Mitarbeit am Aufbau von Datenbanken sollte einen Wissenstransfer erleichtern. Türk bilanzierte schließlich, dass die Zukunftsaussichten der Kohle durch die Ölkrisen zwar gestiegen seien, der Abstieg der deutschen Steinkohleförderung aber nur verzögert und nicht aufgehalten worden sei.

In der folgenden Diskussion der Vorträge wurde zunächst nach den Einflussmöglichkeiten der IEA gefragt. Diese habe zwar einerseits nur eine beratende Funktion ausgeübt, andererseits aber auch Akteure dazu veranlasst, ihre Politik auf internationaler Ebene zu rechtfertigen. Auf die Frage, ob man im Ruhrgebiet zu lange an der Kohleförderung festgehalten habe, wurde erwidert, dass dies eine junge Diagnose sei: In den 1980er-Jahren habe viel dafürgesprochen, weiterhin auf die Kohle zu setzen. Zudem sei es schwierig, sich in die Zukunftserwartungen einer Zeit hineinzuversetzen, im Vergleich dazu sei es heute einfach, aus der Retrospektive zu argumentieren. Interessant sei, wie sich die Wahrnehmung verschiedener Energieträger verändert habe und Wandel häufig über Krisen funktioniere. Dieser Punkt lenkte die Diskussion abschließend wieder auf den Aktualitätsbezug der Tagung: Energiesicherheitsdiskurse im Kontext des Kalten Krieges hätten Beschlüsse hervorgebracht, die beispielsweise Gas- oder Kohleimporte reglementierten und Einfuhren aus einem einzelnen Land auf ein Drittel beschränkten. Die aktuelle Problematik der Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas unterstreiche noch einmal die Wichtigkeit historischer Arbeit – eine erhöhte Wahrnehmung dieser Arbeit und ihrer Befunde in Wirtschaft und Politik wäre wünschenswert.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung
Sabine Mecking (Marburg)

Öffentlicher Abendvortrag
Frank Uekötter (Birmingham): Atomkraft und das Ruhrgebiet. Eine Bilanz

Sektion I
Moderation: Daniel Schmidt (Gelsenkirchen)

Juliane Czierpka (Bochum) / Jana Lena Jünger (Bochum): Der lange Schatten der Fördergerüste. Umweltfolgen und Pfadabhängigkeiten

Christian Möller (Bielefeld): „Landschaft in Not“. Braunkohletagebau, Umweltfolgen und demokratischer Wandel im Rheinischen Revier

Sektion II
Moderation: Martin Schlemmer (Duisburg)

Joachim Radkau (Bielefeld): Das deutsche Drama der Solarenergie zwischen Triumph und Tragödie

Alexandra von Künsberg (Mannheim) / Philipp Wunderlich (Mannheim): Teile und herrsche? Historische Unwuchten und die Frage, wie alte Konflikte der Stromwirtschaft in NRW die Gegenwart prägen

Sektion III
Moderation: Sabine Mecking (Marburg)

Rüdiger Graf (Potsdam): Die Krisen von Kohle, Öl und Atom und der Aufstieg der Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Henning Türk (Bonn): Neue Chancen für die Kohle? Der nordrhein-westfälische Steinkohlenbergbau in der internationalen Energiepolitik nach der ersten Ölkrise