Die Selbstbehauptung der liberalen Demokratie. Das Krisenjahr 1923 und seine Folgen

Die Selbstbehauptung der liberalen Demokratie. Das Krisenjahr 1923 und seine Folgen

Organizer(s)
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.; Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
ZIP
10099
Location
Berlin
Country
Germany
Took place
In Attendance
From - Until
28.03.2023 - 29.03.2023
By
Claudius Kiene, Historisches Institut, Universität Potsdam

Niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, dass das Jahr 1923 für die junge Weimarer Republik ein annus horribilis war. Seltener ist es demgegenüber als ein annus mirabilis verstanden worden1, obwohl der „Selbstbehauptung der liberalen Demokratie“ angesichts mehrerer sich überlagernder und verstärkender Krisen durchaus etwas Wundersames anhaftete. Dabei erweist sich die Deutung als Wunderjahr mit der derzeitigen Tendenz der Weimar-Forschung kompatibel, stärker die positiven Entwicklungsmöglichkeiten der ersten deutschen Demokratie zu würdigen. Einem solchen Geschichtsbild folgte auch die Tagung zum „Krisenjahr“ 1923, die nicht nur ein breites Panorama desselben zeichnete, sondern dezidiert auch dessen Vorbedingungen und Nachwirkungen in den Blick nahm.

Bereits in seiner Begrüßung unterstrich MICHAEL BORCHARD (Berlin), dass 1923 nicht nur ein Krisen-, sondern auch ein „Aufbruchsjahr“ gewesen sei, das mehr von der Selbstbehauptung der liberalen Demokratie zeuge als von ihrem Untergang. Die Tagung verstand er in diesem Sinne als „das Experiment eines differenzierteren Blickes“. Hieran knüpfte EWALD GROTHE (Gummersbach) an, der 1923 ebenfalls nicht nur als ein „Traumajahr“ verstanden wissen wollte und dafür warb, die Ereignisse analytisch von dem Fluchtpunkt des Jahres 1933 zu lösen.

GERD KRUMEICH (Düsseldorf) weitete in seinem Vortrag den Blick auf die Jahre seit dem Ende des Ersten Weltkrieges und bemängelte, dass kaum eine Geschichte der Weimarer Republik die Tatsache ernst nehme, dass Weimar ein „Kind des Krieges“ war. Die Belastungen durch Niederlage und Revolution bewertete er als schwerwiegend. Insbesondere den Umstand, dass die Novemberrevolution in der Wahrnehmung vieler Deutscher einen „ehrenhaften Frieden“ vereitelt hätte, stellte Krumeich als folgenreich heraus.

MICHAEL DREYER (Jena) warf zu Beginn seines Vortrages die Frage auf, ob 1923 nicht nur als ein Krisen-, sondern auch als ein „Krisenüberwindungsjahr“ zu bezeichnen sei. Er betonte Ausmaß und Intensität der damaligen Belastungsproben und stellte diese den von der Weimarer Reichsverfassung vorgesehenen Instrumenten (Art. 48) gegenüber. In Anlehnung an Christoph Gusys Diktum von der „guten Verfassung in schlechter Zeit“2 sprach Dreyer gar von einer „guten Verfassung für schlechte Zeiten“ und würdigte die Fähigkeit der Weimarer Republik, mit den damaligen Herausforderungen umzugehen.

Auch HORST MÖLLER (München) wandte sich gegen eine als „programmierte Untergangsgeschichte“ erzählte Historie der Weimarer Republik. Zugleich betonte er, dass wichtige Gründe für ihr Scheitern außenpolitischer Natur gewesen seien. So sei es mit den Pariser Vorortverträgen und der Gründung des Völkerbundes nicht gelungen, eine stabile Friedensordnung zu errichten. Strukturprobleme wie der Umgang mit den nationalen Minderheiten blieben ungelöst, wichtige Staaten wie Deutschland, die Sowjetunion und die USA außen vor.

Die anschließende Diskussion beschäftigte sich mit der Bedeutung der Novemberrevolution für die Friedensbedingungen. Während Krumeich an seiner These festhielt, dass diese die Verhandlungsposition der Deutschen erheblich geschwächt habe, legte Möller Wert auf die Feststellung, dass die deutsche Niederlage bereits vor der Revolution feststand. Einig waren sich die beiden Diskutanten wiederum darin, dass auch die auf 1923 folgenden „Goldenen Zwanziger“ mit einer Regierungsbeteiligung der DNVP oder der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten von problematischen Entwicklungen gekennzeichnet waren. Krumeich warf die Frage auf, warum die Republik trotz ihrer Überlebenserfolge „nicht die Spur eines Charismas“ entwickelt habe.

Weniger kontrovers gestaltete sich demgegenüber das zweite Panel. KARL-PETER ELLERBROCK (Dortmund) analysierte den Umgang der lokalen Unternehmen mit der Ruhrbesetzung und stellte für die darauffolgende Zeit einen politischen Gewichtsverlust der Gewerkschaften sowie eine Neujustierung des Verhältnisses von Arbeit und Kapital fest. Abschließend beleuchtete er die Mythisierung des Ruhrkampfes und dessen Rolle bei der Herausbildung einer regionalen Identität in einer von „urbaner Zerrissenheit“ und „ausgeprägtem Kirchturmdenken“ geprägten Region.

HOLGER LÖTTEL (Bad Honnef) fragte nach den politischen Vorstellungen und sozialen Profilen der rheinischen und pfälzischen Separatisten. Löttel zufolge kamen die separatistischen Gruppen zunächst nicht über den Status politischer Sekten hinaus; erst die Ruhrkrise gab ihnen entscheidenden Auftrieb. Darüber hinaus verbanden die kurzlebigen separatistischen Regierungen in Koblenz und Speyer völlig gegensätzliche politisch-ideologische Strömungen mit einer Anhängerschaft, die mehr von der „Not des Augenblicks“ als von politischen Überzeugungen getrieben gewesen sei.

WALTER MÜHLHAUSEN (Darmstadt) erörterte die Rahmenbedingungen, untern denen Wilhelm Cuno ins Amt des Reichskanzlers gelangte und sich trotz eines mangelhaften Krisenmanagements bis August 1923 in diesem halten konnte. Die an die Stelle seines Minderheitskabinetts getretene Große Koalition sei von vorneherein kein „Bündnis gemeinsamer Überzeugungen“ gewesen, sondern war von den Spannungen zwischen den Flügelparteien SPD und DVP geprägt. Dank des entsprechenden Ermächtigungsgesetzes habe schließlich die Regierung Marx die entscheidenden Machtmittel besessen, um den unter Stresemann angestoßenen Prozess der Währungssanierung erfolgreich fortzuführen.

In seiner Keynote konstatierte UDO DI FABIO (Bonn), dass Gewalt und Gewaltandrohung in den internationalen Beziehungen wieder zunehmend neben das Recht getreten seien. So fühlte sich Di Fabio bei der Außenpolitik Chinas an die von Carl Schmitt entworfene „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (1939) erinnert. Als innere Gefährdung der liberalen Demokratie benannte er unter anderem die Schwäche der einstigen institutionellen Großakteure (Parteien, Verbände, Kirchen etc.) in der heutigen „Stimmungsgesellschaft“. Dass die deutsche Gesellschaft Angst vor einer tiefgreifenden Spaltung habe, wie sie Di Fabio etwa in den USA beobachtete, führte er nicht zuletzt auf die Erfahrungen der Weimarer Republik zurück.

Die anschließende Podiumsdiskussion vertiefte die Suche nach der Gegenwartsrelevanz des Jahres 1923. DOMINIK GEPPERT (Potsdam) warf die Frage auf, was für Rückschlüsse sich aus dem besonders großen öffentlichen Interesse am Jahr 1923 ziehen ließen.3 Er vermutete, dass der Blick auf die Bewältigung der damaligen Krisen der Selbstvergewisserung in einer Zeit dient, in der die Gesellschaft vielleicht nicht mehr uneingeschränkt an die Selbstbehauptungskräfte der Demokratie glaube. KAREN HORN (Erfurt) unterstrich wie die übrigen Podiumsteilnehmer den begrenzten Nutzen eines Vergleiches des Jahres 1923 mit der Gegenwart und verwies darauf, dass etwa für die derzeitige Inflation eher die 1970er-Jahre eine relevante Vergleichssituation darstellten.

ECKHARD JESSE (Chemnitz) eröffnete seinen Vortrag mit dem „verstörenden und zugleich verständlichen Befund“, dass heute nur noch wenig über die linksradikalen Attacken auf die Weimarer Demokratie gesprochen werde. Am Beispiel Rosa Luxemburgs, der KPD und des Antiparlamentarismus eines Teils der Linksintellektuellen veranschaulichte Jesse die Gefährdungen, denen die Republik von links ausgesetzt war. Insbesondere die KPD als „durch und durch extremistische Kraft“ habe mit ihrem irrationalen Kampf gegen den „Sozialfaschismus“ die Arbeiterbewegung massiv geschwächt. Sie habe die Weimarer Republik nicht stützen wollen, sie aber auch nicht stürzen können.

Mit dem entgegengesetzten Teil des politischen Spektrums befasste sich VOLKER STALMANN (Berlin), der Ziele und Entwicklung der verschiedenen völkischen Gruppierungen sowie der Nationalsozialisten thematisierte. Dass die NSDAP 1923 lieber gegen die „Novemberverbrecher“ als die französischen und belgischen Besatzer agitierte, führte er auf die Angst der Parteiführung zurück, in der Anonymität einer nationalen Einheitsfront zu verschwinden. Der Hitlerputsch vom November desselben Jahres trug aus Stalmanns Sicht ungewollt zur Stabilisierung der Republik bei, da Hitler hiermit die Putschpläne der Rechtskonservativen diskreditiert hätte.

DESIDERIUS MEIER (Passau) lenkte den Blick von den Gegnern auf die mehr oder weniger überzeugten Unterstützer der Weimarer Demokratie. Viele Liberale hätten dieser am Anfang skeptisch bis ablehnend gegenübergestanden. Dies gelte vor allem für die DVP, doch auch in der DDP seien derartige Vorbehalte verbreitet und im politischen Tagesgeschäft sichtbar gewesen. Innerhalb der DVP habe der Krisenherbst 1923 zu einer „innerparteilichen Bereinigung“ geführt, sodass die Partei in den darauffolgenden Jahren eine systemstabilisierende Rolle spielen konnte. Aus den Reihen der DDP seien bei der Verabschiedung der Ermächtigungsgesetze des Jahres 1923 eher parteien- und parlamentarismuskritische Äußerungen zu vernehmen gewesen als ernsthafte Bedenken. Dies führte Meier auf ein in der Partei vorherrschendes antipluralistisches Staatsverständnis zurück, das in der Tradition des Kaiserreichs gestanden habe.

JOHANNES BÄHR (Frankfurt am Main) erkannte in der Hyperinflation „das wahrscheinlich prägnanteste Merkmal“ des Krisenjahres 1923 und den Kulminationspunkt einer Entwicklung, die mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges einsetzte. Aus Angst vor weiteren Streiks und Unruhen habe Deutschland seit 1920 einen „inflationären Sonderweg“ beschritten. Zugleich habe die Reichsregierung keine Anstrengungen unternommen, um neue Quellen für die Tilgung der Reparationszahlungen zu erschließen. Anhand der Beispiele Österreichs und der Tschechoslowakei verdeutlichte Bähr, dass es zu der Entwicklung in Deutschland durchaus Alternativen gegeben hätte.

HEIKE KNORTZ (Karlsruhe) gab einen Einblick in die wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie. Während Hermann Bücher nach der „Beseitigung der Zwangswirtschaft in jeder Form“ verlangte, habe Paul Silverberg ein marktliberales Wirtschaftsprogramm frei von Sozialbindungen entworfen. Knortz kam zu dem Befund, dass den Industriellen im Grunde eine Marktwirtschaft mit risikofreien Märkten und garantiertem Gewinn vorschwebte. Insofern könne man bei Weimar von einer „Marktwirtschaft ohne Marktwirtschaftler“ sprechen.

Damit deckte die Tagung eine große Breite an Themen ab, die in unmittelbarem Bezug zu den Krisen des Jahres 1923 stehen. Obwohl zumeist die politische Ereignisgeschichte im Vordergrund stand, gaben die einzelnen Panels auch wirtschafts-, sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Zugängen Raum. In der abschließenden Diskussion war es Michael Borchard, der noch einmal die Wirkungsgeschichte von 1923 in den Blick nahm und beispielhaft danach fragte, welche Spuren das Krisenjahr etwa bei Ökonomen wie Walter Eucken und Wilhelm Röpke hinterlassen hatte. In diesem Sinne hätte eine stärkere Berücksichtigung alltagsgeschichtlicher und erinnerungskultureller Perspektiven dazu beitragen können, die im Konferenztitel genannten Folgen des Jahres 1923 präziser zu erfassen. So wäre womöglich noch deutlicher geworden, warum jenes für die Weimarer Republik ein annus horribilis und ein annus mirabilis zugleich war.

Konferenzübersicht:

Michael Borchard (Berlin): Begrüßung
Ewald Grothe (Gummersbach): Begrüßung

Panel I Die Ausgangslage am Ende des I. Weltkrieges
Moderation: Hans Walter Hütter (Düsseldorf)

Gerd Krumeich (Düsseldorf): Bürden für die Republik: Revolution 1918/19 und Dolchstoßlegende

Michael Dreyer (Jena): Verfassung und Verfassungswirklichkeit

Horst Möller (München): Außenpolitik, Versailler Vertrag und die internationalen Beziehungen

Panel II Die Ruhrkrise und ihre innenpolitischen Folgen
Moderation: Christin Pschichholz (Potsdam)

Karl-Peter Ellerbrock (Dortmund): Ruhrbesetzung: Motive – Ziele – Reaktionen

Holger Löttel (Bad Honnef): „Los von Berlin“: Separatistische Bestrebungen im Rheinland und in der Pfalz

Walter Mühlhausen (Darmstadt): Regierungsbildung und Parteiensystem. Aspekte der Stabilisierung und Destabilisierung unter den Kabinetten Cuno und Stresemann

Keynote
Karl-Heinz Paqué (Potsdam): Einführung
Udo Di Fabio (Bonn): Äußere und innere Bedrohungen der liberalen Demokratie im 21. Jahrhundert

Diskussionsrunde
Moderation: Sven-Felix Kellerhoff (Berlin)

Udo Di Fabio (Bonn); Dominik Geppert (Potsdam); Katja Leikert (Bruchköbel); Linda Teuteberg (Potsdam); Karen Horn (Erfurt)

Norbert Lammert (Berlin): Schlusswort

Panel 3: Politische Kultur – Republikanismus und Antirepublikanismus
Moderation: Christiane Scheidemann (Berlin)

Eckhard Jesse (Chemnitz): Gefahren von links

Volker Stalmann (Berlin): Gefahren von rechts

Desiderius Meier (Passau): Liberale Konzeptionen demokratischer Ordnung

Panel 4: Transformationsprobleme der Wirtschaft
Moderation: Anne Chr. Nagel (Gießen)

Johannes Bähr (Frankfurt am Main): Finanzkrise und Inflation

Heike Knortz (Karlsruhe): Ordnungsvorstellungen der Wirtschaft

Anmerkungen:
1 So etwa von Heinrich Brüning in dessen Memoiren: Heinrich Brüning, Memoiren, 1918-1934, Stuttgart 1970, S. 77.
2 Christoph Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018.
3 Siehe beispielhaft für die zahllosen Neuerscheinungen auf dem Sachbuchmarkt: Peter Longerich, Außer Kontrolle. Deutschland 1923, Wien 2022; Volker Ullrich, Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München 2022.

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