Wasserregime – Hydraulische Gesellschaften in Europas Stadtlandschaften 1350-1950

Wasserregime – Hydraulische Gesellschaften in Europas Stadtlandschaften 1350-1950

Organisatoren
Arbeitsbereich Zeitgeschichte, Universität Paderborn; Heinz Nixdorf MuseumsForum (HNF)
PLZ
33098
Ort
Paderborn
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
23.03.2023 - 24.03.2023
Von
Christina Lüke, Arbeitsbereich Zeitgeschichte, Historisches Institut, Universität Paderborn; Michael Ströhmer, Historisches Institut, Universität Paderborn

Die Organisation eines urbanen Wassermanagements entwickelte sich in Europas Städten über Jahrhunderte aus dem Wechselspiel zwischen Kultur- und Naturkräften, dem „Wasserregime“. So bedingten beispielsweise Überschwemmungen den Ausbau von Deichen oder Schutzmauern. Aus umwelthistorischer und humanökologischer Perspektive betrachtet schrieb das Umweltmedium Wasser Geschichte, indem es in jeder Stadt „Hydraulische Gesellschaften“ unterschiedlichen Zuschnitts schuf, deren Strukturen und Veränderungen das Naturelement ausformte. In welchem Umfang „Wasserregime“ die „Hydraulischen Gesellschaften“ gestalteten, wurde auf der Tagung interdisziplinär und multiperspektivisch diskutiert.

Nach der Begrüßung durch den Geschäftsführer des HNFs Dr. Jochen Viehoff sprach der stellvertretende Bürgermeister Martin Pantke ein Grußwort der Stadt. Im Anschluss richteten die Veranstalter PETER FÄSSLER (Paderborn) und MICHAEL STRÖHMER ( Paderborn) Grußworte an die Referenten und Zuhörer, denen Ströhmer eine kurze fachliche Einführung folgen ließ. So stellte er unter anderem den populären Begriff „Wassermanagement“ zur Diskussion, da dieser zu einseitig die Beherrschbarkeit des Wassers suggeriere.

Die 1. Sektion „Wasserregime in der Stadt“ eröffneten MATTHIAS HARDT (Leipzig) und NIELS LOHSE (Leipzig) mit einem Beitrag zur Organisation des gut 800jährigen Wassermanagements der Stadt Leipzig in Langzeitperspektive (1000-1800). Die interdisziplinären Ausführungen beider Referenten gaben dabei Einblicke in ein junges DFG-Projekt, das sich der Erforschung der urban-fluvialen Symbiose unter dem Titel “On the Way to the Fluvial Anthroposphere" widmet. Danach referierte MARIUS MUTZ (Augsburg) über das Wassermanagement in der frühneuzeitlichen Residenzstadt Dresden im 16. Jahrhundert. Er stellte unter anderem heraus, dass frühneuzeitliche Festungsbauten auch eine Verteidigung gegen meteorologische Extremereignisse wie Hochwasser darstellten. Diese Sektion abschließend thematisierte THOMAS GRUNEWALD (Halle a. d. Saale) das Wasserversorgungssystem der Schulstadt der Franckeschen Stiftungen in der Frühen Neuzeit. Grunewald beleuchtete unter anderem die zentrale Rolle des Hallenser Wasserrohrmeisters Gottfried Rost bei der Etablierung eines von der Stadtwasserkunst autonomen Stollen- und Röhrensystems. Ebenso thematisierte Grunewald in einem mentalitätsgeschichtlichen Perspektivwechsel die religiöse Deutung von Wassererschließungen in der Frühen Neuzeit.

Die 2. Sektion begann mit einem Vortrag von CHRISTOPHER FOLKENS (Münster) zur Stadtgemeinde Emden und ihrem Meereszugang zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert. So konnte er bei seinem Blick in den Nordwesten des Alten Reiches zeigen, dass Siele und andere Wasserbauten als politische Instrumente in Herrschaftskonflikten genutzt wurden. Diese Sektion abschließend referierte IRIS NIESSEN (Leipzig) über die mittelalterliche Vorstadtentwicklung in der Aue. Der Fokus lag auf archäologischen Ausgrabungen zu den oberdeutschen Reichs- und Donaustädten Regensburg und Ulm.

Am Anfang der 3. Sektion thematisierte EVELIEN TIMPENER (Gießen) urbane Wasser- und Flussregulierungen in kleineren mitteldeutschen Städten vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Hierbei setzte sich die Referentin auch kritisch mit der „Wittfogel-These“ und der Relevanz „Hydraulischer Gesellschaften“ im vormodernen Mitteleuropa auseinander. Im Anschluss referierte CHRISTINA LÜKE (Paderborn) in einem internationalen Städtevergleich über die Hydroelektrizität in Paderborn und Katalonien zwischen 1880 und 1900. Es wurde unter anderem dargestellt, welche Personen oder Institutionen die Elektrifizierung jeweils anstießen und welche Rolle hydroelektrische Stromerzeugung in diesem Prozess spielte. Danach gaben EVA-MARIA ROELEVINK (Mainz) und LUTZ BUDRASS (Bochum) Einblicke in die Konstituierung des Abwasserregimes im Ruhrgebiet zum Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts. In beiden Referaten wurde unter anderem die umwelthistorische Rolle der Emscher Genossenschaft beleuchtet, deren Genese sich zwischen zentralstaatlicher Einflussnahme durch das Königreich Preußen einerseits und dem Streben nach kommunaler Autonomie andererseits entwickelte. Die Sektion abschließend gab BENEDIKT HEITMAR (Paderborn) Einblicke in die Digitalisierungsprojekte, die im Zuge der städtischen Bewerbung um das Europäische Kulturerbe-Siegel (Motto: „Stadt. Mensch. Fluss. Die Pader für Europa“) erarbeitet werden. Am Beispiel der digitalen 3D-Rekonstruktion der historischen Bausubstanz im Paderquellgebiet, die via Augmented Reality und Virtual Reality atmosphärisch erlebbar wird, wurde eine KI-gestützte Anwendung der Wissensvermittlung präsentiert, die die Vision eines Digitalen Kulturerbes 3.0 an der Pader praktisch veranschaulichte.

Die Tagung klang mit einer gut einstündigen Inaugenscheinnahme der Quellgebiete in der Altstadt Paderborns unter Leitung von Michael Ströhmer und Peter Fäßler aus. Am Ende dieser primär geschichtswissenschaftlichen Konferenz bestätigt sich die konzeptionelle Tragfähigkeit von Langzeitbetrachtungen à la longue durée auch für den urbanen Raum. Vermeintlich signifikante Transformationsprozesse und Umweltprobleme, die in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten des Alten Reiches vorgeherrscht hätten, erweisen sich in der Summierung aller Beiträge erneut als Prototypen des Industrie- und Digitalzeitalters – nicht allein in technischer Perspektive, sondern ebenso in dem jahrhundertelangen Herausbildungsprozess (vor)moderner Staatlichkeit. „Wasserregime“ nahmen in ihrer Strukturvielfalt auf kommunaler wie interkommunaler Ebene eher subtil Einfluss auf die sozio-ökonomischen Bedürfnisse „Hydraulischer Gesellschaften“ (K. A. Wittfogel), – auch wenn dieser Forschungsbegriff des „Altmeisters“ in seinem globalen Wirkungsanspruch hinsichtlich der klimatischen Verhältnisse in Mittel- und Nordeuropa überholt erscheint.

Die zahlreichen Anregungen aus den Fachdisziplinen bedürfen freilich noch einer strafferen methodischen wie auch wissenschaftstheoretischen Bündelung. Hierfür möchten die Veranstalter einen Konzeptvorschlag entwickeln, dessen Eckpunkte in einer Anschlusskonferenz in zwei Jahren vorgestellt und erneut fach- und epochenübergreifend diskutiert werden sollen.

Tagungsprogramm:

Michael Ströhmer/ Peter Fäßler (Paderborn): Begrüßung und Einführung

Sektion 1: Wasserregime in der Stadt
Moderation: Michael Ströhmer (Paderborn)

Matthias Hardt/ Niels Lohse (Leipzig): Leipzig, eine Stadt im Fluss. Eine urban-fluviale Symbiose in Langzeitperspektive

Marius Mutz (Augsburg): Wassermanagement in der frühneuzeitlichen Residenzstadt am Beispiel Dresdens (1500-1600)

Thomas Grunewald (Halle a. d. Saale): Göttliche Providenz oder „Ressourcenmanagement“? Das Wasserversorgungssystem der Schulstadt der Franckeschen Stiftungen in der Frühen Neuzeit

Sektion 2: Wasserregime in Stadt und Land
Moderation: Friederike Horgan (Paderborn)

Christopher Folkens (Münster): Lebensader Ems – Die Emder Stadtgemeinde und ihr Meereszugang (14.-16. Jahrhundert)

Iris Nießen (Leipzig): Vorstadtentwicklung in der Aue – Archäologische Forschungen zu den Donaustädten Regensburg und Ulm

Sektion 3: Wasserregime in Stadtlandschaften
Moderation: Peter Fäßler (Paderborn)

Evelien Timpener (Gießen): Mit allen Wassern gewaschen sein. Urbane Wasser- und Flussregulierung in kleineren mitteldeutschen Städten (14.-16. Jahrhundert)

Christina Lüke (Paderborn): Von Wassermühlen, Turbinen und Staudämmen – Hydroelektrizität in Paderborn und Katalonien um 1900

Eva-Maria Roelevink (Mainz)/ Lutz Budraß (Bochum): Ohne zentrale Stadt, aber im dicht besiedelten Raum: Die Konstituierung des Abwasserregimes im Ruhrgebiet Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts

Benedikt Heitmar (Paderborn): Stadt-Mensch-Fluss: Die Pader für Europa als Digitales Kulturerbe 3.0

Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts