Stahl auf neuen Wegen. Historische Innovationsdiskurse, bautechnische Praktiken und denkmalpflegerische Herausforderungen der Hochmoderne

Organisatoren
„Bauen mit Stahl – Stahl(verbund)fertighäuser im Innovationssystem der Stahlindustrie (1920er–1970er Jahre)“, Teilprojekt im DFG SPP 2255 „Kulturerbe Konstruktion“; Wirkungsgeschichte der Technik, Historisches Institut; Deutsches Bergbau-Museum Bochum; Institut für Wissenschafts- und Technikgeschichte, Universität Wuppertal; Institut für Werkstoffe im Bauwesen / Institut für Architekturgeschichte / Internationales Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT), Universität Stuttgart; Landesdenkmalamt Baden-Württemberg
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
20.04.2023 - 21.04.2023
Von
Tim-Luka Schwab, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Stahl war in der Hochmoderne nicht nur ein Baumaterial, dessen Materialeigenschaften es ermöglichten, für bis dato unmöglich gehaltene architektonische Visionen, bautechnische Neuerungen oder infrastrukturelle Systeme zu realisieren. In diesem Kontext wurde das Material darüber hinaus mit einer Symbolik konnotiert, die es systemübergreifend zu einem integralen Bestandteil des zeitgenössischen Fortschrittsversprechens machte. Die zunehmende Verfügbarkeit dieses Materials, die sowohl durch technologische Innovationen und ein komplexes wissenschaftliches Netzwerk befeuert wurde, als auch von den politischen und ökonomischen Bedingungen bestimmt war, hatte zur Folge, dass damit eine Professionalisierung und Spezialisierung in Unternehmen, Verbänden und Institutionen einherging und Produkte diversifiziert wurden. Heute haben eine Vielzahl der stählernen – häufig experimentell entwickelten – Manifestationen vergangener Fortschrittsnarrative ihre ursprüngliche Funktion verloren und befinden sich in einem kritischen Erhaltungszustand. Die Reflexion über ihre konstruktions-, architektur- und bautechnikgeschichtliche Bedeutung scheint dringend geboten, da angemessene Erhaltungsansätze entwickelt werden müssen. Die Tagung war diesem Themenkomplex gewidmet und brachte Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen zusammen.

Nach der Begrüßung durch REINHOLD BAUER (Stuttgart) widmeten sich zahlreiche Vortragende in verschiedenen Panels und Vorträgen der Rolle und Funktion von Stahl als Baumaterial der Hochmoderne. Den inhaltlichen Teil der Tagung eröffnete THOMAS SCHUETZ (Stuttgart), seine Überlegungen konzentrierten sich auf die Untersuchungszeiträume der Zwischenkriegszeit und der Phase zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der ersten Ölpreiskrise, die durch das Auftreten der Bauwerke bestimmt seien. Über die Geschichte des für die Stahlindustrie randständigen Phänomens des Stahlfertighausbaus zeigte Schuetz, dass zeitgenössische Innovationsdiskurse in die erhaltenen Gebäude eingeschrieben sind. Anhand dieser Beispiele sei es möglich, über technologischen Wandel und wissenschaftlichen Fortschritt weit über die betrachteten Artefakte hinaus zu reflektieren.

Im Anschluss an die innovationshistorischen Überlegungen von Schuetz widmete sich SILKE HAPS (Bochum) Stahl(verbund)fertighäusern. In Auseinandersetzung mit der Fertigung, Konstruktion, Architektur und den Akteursnetzwerken zeigte sie Funktion und Nutzen der Stahl(verbund)fertighäuser für die Firmen Krupp und Hoesch auf. Dabei lieferte sie eine umfassende Beschreibung, die von den ökologischen und technischen Dimensionen der eingesetzten Werkstoffe bis hin zum ökonomischen Scheitern der Stahl(verbund)fertighäuser reichte. TOBIAS NOLTEKLOCKE (Wuppertal) beschäftigte sich mit der wichtigen Rolle von Materialprüfung und Materialprüfungsanstalten im Innovationssystem der Bauwirtschaft ab 1945. Er lieferte einen konzentrierten Überblick über Material- und Bauarten, Prüfverfahren, die Materialentwicklungen in der Industrie, die Entwicklung von Baustoff-Überwachungssystemen sowie den rechtlichen Rahmen und die relevanten Akteure. Zuletzt beleuchtete er kurz die damit verbundene Entstehung neuer Akteursverhältnisse und deren Aushandlungsprozesse.

RICHARD BLUM (Anhalt) präsentierte in international vergleichender Perspektive die Konstruktions- und Entwicklungsgeschichte von Raumfachwerken in der DDR. Über die wirtschafts- und baupolitischen Rahmenbedingungen nahm Blum eine Einordnung der verschiedenen und massenhaft von den 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre in der DDR realisierten Typentragwerke vor. Ebenfalls dem Stahlbau in der DDR unter den Bedingungen von Materialknappheit war der Vortrag von BENJAMIN SCHMID (Innsbruck) gewidmet. Am Beispiel eines in Stahlzellenverbundweise erstellten Modells für den Sicherheitsbehälter von Kernkraftwerken in der DDR (Containmentmodell) zeigte Benjamin Schmid die Eigenheiten bei der Herstellung und Vermessung dieses Modells auf. Zudem nahm er eine Einordnung in den historischen Kontext vor und analysierte Ursachen sowie ingenieurwissenschaftliche Methoden für die Entwicklung und Anwendung der Stahlzellenverbundbauweise.

In ihrem öffentlichen Abendvortrag präsentierten ISOLDE PARUSSEL (Dortmund) und PHILIPP SCHÄLE (Emishalden) ihren Werkstattbericht zur Translozierung eines Hoesch-Stahlhauses. In ihrem Vortrag schilderte Isolde Parusell die vielfältigen Herausforderungen, die für die erfolgreiche Bewerkstelligung der Translozierung bewältigt werden mussten. Diese reichten von der Finanzierung des Vorhabens bis hin zur Erstellung der musealen Konzeption für die Nutzung des L-förmigen „Hoeschhaus L141“. Schäle legte den Fokus auf die technischen Anforderungen der Translozierung und die praktische Umsetzung. Er beschrieb den komplexen, technisch anspruchsvollen Prozess von der Translozierungskonzeption bis zur letztendlichen handwerklichen Umsetzung.

Am zweiten Tag der Tagung standen ingenieurtechnische und denkmalpflegerische Aspekte der hochmodernen „Welt aus Stahl“ im Vordergrund. JOACHIM SCHWARTE (Stuttgart) verdeutlichte zunächst die enorme Zunahme der weltweiten Stahlproduktion in den vergangenen drei Jahrzehnten und problematisierte die damit verbundenen Treibhausgasemissionen. Er konnte zeigen, dass die heutige Verfügbarkeit von Stahl als Sekundär-„roh“-stoff das Ergebnis einer sehr energie- und emissionsintensiven Primärproduktion in der Vergangenheit darstellt. Anhand der Bewertung hinsichtlich Emissionen und Energieaufwand aktueller Stahlerzeugungsverfahren folgerte Schwarte, dass die Erzeugung von „Elektrostahl“ das Vorhandensein von bereits emissions- und energieintensiv produziertem Stahl voraussetzt. Die alternative Direktreduktion hingegen benötige weitaus mehr erneuerbare Energie, die in absehbarer Zeit nicht verfügbar sein werde. Daher seien die Umnutzung und der Erhalt von bestehenden Stahlbauten die klimafreundlichste Vorgehensweise, zudem dürfe der Stahlbedarf aus Klimaschutzgründen nicht weiter steigen.

ANKE FISSABRE (Aachen) und EVELIN ROTTKE (Aachen) berichteten gemeinsam von ihrem Forschungsprojekt und zeigten anhand verschiedener baukonstruktiver Einblicke in Längs- und wenige Querbinderkirchen, dass diese mit ihren durch Verputzung und Verkleidung versteckten Stahltragwerken einen stützenfreien basilikalen Raumquerschnitt ermöglichten. Diese kaum beachtete Bau- und Raumtypologie der Moderne habe einerseits durch niedrigere Baukosten und eine kurze Bauzeit sowie andererseits liturgische und ästhetische Gründe eine schnelle Verbreitung erfahren. Die spezielle Konstruktionsweise sei oft unbekannt und den zuständigen Denkmalbehörden mitunter nicht bewusst.

ANNKATHRIN HEINRICH (Braunschweig) leitete aus Sicht des Bauingenieurwesens anhand anzahlreicher unterschiedlicher Bautypen mit realisierten Metallleichtbaukonstruktionen systematisch Kriterien für die Bewertung dieser Typenstahlbauten her. Sie stellte ökonomische, soziale und kulturelle Entstehungsbedingungen dar, wies aber insbesondere auch auf bautechnische Aspekte wie Zustand, Erhaltungskosten und Translozierbarkeit hin.

Den letzten Vortrag des Tages widmeten MICHAEL HASCHER (Esslingen), SABINE KUBAN (Esslingen) und JÚLIA TAUBER (Esslingen) den denkmalpflegerischen Herausforderungen hochmoderner (Stahl)Konstruktionen. Hascher spannte mit einem prägnanten Überblick zum Vortragsthema den Rahmen für Kuban, die die Herausforderungen für die Denkmalpflege im Umgang mit Stahlbauten anhand von Beispielen aus der Praxis deutlich machte. Tauber leuchtete zuletzt denkmalgerechte Erhaltungsstrategien für hochmoderne Bauwerke aus Stahl aus.

Konferenzübersicht:

Reinhold Bauer (Stuttgart): Grußwort

Thomas Schuetz (Stuttgart): Innovationssysteme und Innovationskulturen der deutschen Stahlindustrie

Silke Haps (Bochum): Stahl(verbund)fertighäuser der Firmen Hoesch und Krupp - ein Experiment des Bauwesens in der Hochmoderne?

Tobias Nolteklocke (Wuppertal): Neue Konstruktionsmaterialien, Chemische Industrie und Historische Materialforschung

Richard Blum (Anhalt): Innovative Adaption - Raumfachwerke aus Stahl in der DDR

Benjamin Schmid (Innsbruck): Das Kräftemessen zwischen Kernspaltung und Stahlzellenverbundbauweise / Modellversuche für Sicherheitsbehälter von Kernkraftwerken in der DDR

Abendvortrag

Isolde Parussel (Dortmund) / Philipp Schäle (Emishalden): Wie zieht man ein Fertighaus um? Translozierung eines Hoesch-Stahlhauses - ein Werkstattbericht

Joachim Schwarte (Stuttgart): Eine Welt aus Stahl - Von der Innovation zur Ressource

Anke Fissabre (Aachen) / Evelin Rottke (Aachen): Versteckte Stahlkonstruktionen im Sakralbau der Moderne

Annkathrin Heinrich (Braunschweig): Ansätze für eine denkmalpflegerische Bewertung von Typenstahlbauten der DDR

Michael Hascher (Esslingen) / Sabine Kuban (Esslingen) / Júlia Tauber (Esslingen): Denkmalpflegerische Herausforderungen hochmoderner (Stahl)Konstruktionen

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