Was leisten die rezenten Ansätze der Literatur- und Kulturtheorie für die Erforschung antiker griechischer und lateinischer Texte? Unter welchen Bedingungen lassen sich mit ihnen neue Lesarten gewinnen? Mit diesen Fragen setzten sich 12 Forscher:innen aus den Altertumswissenschaften im ersten Teil des Workshop-Paars „Theorie und Text: Moderne Forschungskonzepte und antike Literatur“ auseinander.
Zum Auftakt des Workshops suchte MARTIN HOSE (München) in seiner Keynote nach dem historischen und systematischen Ort theoriegeleiteten Arbeitens in den Altphilologien. Beginnend mit der Abkehr vom utilitaristischen Bildungsanspruch des Textstudiums in der Epoche der Romantik führte Hose dem Publikum auf seiner Rundschau zahlreiche Dynamiken vor Augen, die zu einer zeitversetzten Theorieöffnung und einer eher theorierezepierenden statt -produzierenden Haltung geführt haben. Einen entscheidenden Moment sah Hose in der doppelten Traumatisierung der Altphilolog:innen in den 1980er-Jahren: Während die noch amtierende Nachkriegsgeneration der Hochschullehrenden alles darangesetzt habe, sich von der Zwangsjacke der nationalsozialistischen Ideologie durch Konzentration auf die textimmanente Interpretation zu befreien, habe sich die heranwachsende Generation von der utilitaristischen Theorieforderung der Studentenbewegung der 1969er-Jahre bedroht gefühlt. Sein theoriehistorisches Panorama öffnete den Raum für eine rege Identitätsdebatte in der anschließenden Diskussion: Lassen die Theorieflut der jüngsten Zeit und die neuen technischen Möglichkeiten, große Datenmengen zu verarbeiten, eine Weiterentwicklung der Disziplin erwarten oder tappen wir erneut in die Positivismusfalle? Welchen Mehrwert hat der Theorie-Begriff und wo verlaufen seine Grenzen? Wie soll man Theoriegeschichte erzählen? Und welche Rolle spielen die antiken Texte bei all dem noch?
Im ersten Panel des Workshops eröffneten die Beitragenden mithilfe der theoretischen Konzepte der Multiperspektivität und Chronotope neue Perspektiven auf Livius’ Narratologie: DENNIS PAUSCH (Marburg) entwickelte am Beispiel der Apotheose des Romulus (Liv. 1.16.1–8) die These, der römische Historiograph steigere mit der Präsentation zweier divergenter Perspektiven auf das Geschehen nicht nur das Interesse seines Lesers, sondern unterweise diesen zugleich in der Rolle des Geschichtsdidaktikers darin, sich aus der Distanz ein eigenes Urteil über die Glaubwürdigkeit der beiden Versionen zu bilden. Dieser Deutungsansatz wurde gleichermaßen multiperspektivisch diskutiert: Neben der Gegenthese, die polyphone Darstellung könne auch monophon als Teil der Argumentation einer klassischen Wundergeschichte gelesen werden, schlug Pausch als dritte Lesart die scheinbare Polyphonie vor, welche den Leser für eine Variante instrumentalisieren wolle.
ANKE WALTER (Newcastle) nahm im zweiten Teil des Panels Livius’ Raum-Zeit-Konstruktionen, sog. Chronotope, in den Blick. Am Beispiel der Festspiele, welche Aemilius Paulus 168 v. Chr. anlässlich des Sieges über die Makedonen in Amphipolis veranstaltete (Liv. 45.32–33), zeigte sie, wie diese als Moment des Innehaltens zwischen hochdynamischen militärisch-administrativen Handlungen, als plastisches Panorama im Moment des Feierns und als Prisma der Rück- und Vorausschau auf die römische Geschichte einen Knotenpunkt in Raum und Zeit bilden. In der Diskussion konnten weitere Aspekte herausgearbeitet werden wie z.B. die Überlagerung mehrerer Chronotopschichten, die religiöse Aufladung der erzählten Festhandlungen, der wiederkehrende Diskurs um luxuria und die unglückverheißende Umkehrung der Festhandlungen im Sinne von Bachtins Konzept der Karnevalisierung.
Im zweiten Panel des Workshops stellten die Beitragenden Interpretationsansätze der hylistischen Mythosforschung und der Memory Studies vor. Den Anfang machte CHRISTIAN ZGOLL (Göttingen): Ausgehend von der Prämisse, dass Texte aus polymorphen und hochstratifizierten Stoffen zusammengesetzt seien, die von einem Autor bewusst oder unbewusst mehr oder weniger explizit, vollständig und konsistent erzählt würden, fahnde die hylistische Mythosforschung in einem festgelegten Verfahren nach den kleinsten handlungstragenden Bausteinen, den Hylemen. Diesen Prozess der Mythenrekonstruktion, -analyse und -interpretation illustrierte Zgoll am Beispiel der Hesiod’schen Version des Prometheus-Mythos (theog. 507-572.613-616): So hebe Hesiod bereits proleptisch auf die Bestrafung des Prometheus ab und installiere Zeus als richtende Instanz. Der Antagonismus der beiden Gottheiten lasse sich als Deutungsmachtkonflikt begreifen, in dem sich Hesiod um die ideologische Aufwertung des einen bzw. polemische Abwertung des anderen bemühe. Dass Hesiod mit seiner politischen Agenda, den Einfluss des Prometheus religionshistorisch zu beschränken, erfolgreich gewesen sei, lasse sich u.a. in Lukians Dialog Prometheus (Lucian. Prom. 14) erkennen. In der Diskussion machte Zgoll auf einen wichtigen Erkenntnisgewinn für die Editionsphilologie aus seiner jahrelangen Arbeit mit dem hylistischen Ansatz aufmerksam: Inkonsistenzen in der Verarbeitung mythischer Erzählstoffe stellen den Normalfall dar, der bei der Entscheidung für oder gegen korrigierende Texteingriffe mitgedacht werden muss.
VERENA SCHULZ (Eichstätt-Ingolstadt) nahm das Potential der Memory-Studies für die Interpretation der römischen Literatur in den Blick. Eine erste Möglichkeit der Anwendung bestehe darin, den Text selbst als Produkt von Prozessen des Erinnerns und Vergessens zu begreifen; so ließen sich unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des kommunikativen Gedächtnisses beispielsweise Brüche und Glättungen des Hadrianbildes sowie die Anführung mündlicher Quellen bei Cassius Dio (Cass. Dio 69,2,5. 23,2–3 = Xiphilinos) erklären. Tacitus’ Agricola hingegen weise hauptsächlich Elemente der Erinnerungsarbeit auf, die dem kollektiven Gedächtnis zuzuordnen seien (Tac. Agr. 46). Die zweite Möglichkeit stelle das Erinnern und Vergessen als Gegenstand und Gestaltungsmittel des Textes selbst dar: Mit dem Beispiel von Ovids Ariadne-Figur (Ov. Fast. 3,473), welche bei der Erinnerung an Theseus die Worte ihres Alter Egos bei Catull (Cat. 64,132–135) zitiere, illustrierte Schulz einen Fall intertextuellen Erinnerns. Den umgekehrten Fall des intertextuellen Vergessens sowie den Sonderfall des intertextuellen erinnerten Vergessens demonstrierte sie am Beispiel der um den zurückgelassenen Herakles trauernden Argonauten bei Valerius Flaccus (Val. Fl. 4,4-7. 83-85). In der anschließenden Diskussion wurde v.a. über die Anwendbarkeit des Konzeptes des kommunikativen Gedächtnisses debattiert: Wie lässt sich dieses zeitlich am Text festmachen, wenn ein Autor (wie z.B. Livius ) über die gesamte Lebensspanne hinweg an seinem Text gearbeitet hat? Welche Texte kommen angesichts der generellen Datierungsproblematik der Altphilologien infrage? Inwiefern werden die gegenwärtigen Konzepte des Erinnerns und Vergessens den antiken (mythischen) Konzepten gerecht?
Im dritten Panel des Workshops widmeten sich die Beitragenden den Fallstricken fiktionspoetischer Lizenzen. STEFAN FEDDERN (Kiel) erkundete in seinem Vortrag am Beispiel von Ovids Epistula ex Ponto 3.3 Potentiale und Grenzen sowie notwendige Justierungen bei der Applizierung des Konzepts der Autofiktion auf antike Texte. Zentrale Bedeutung komme dabei der Identifizierung von Fiktionssignalen zu: Handelt es sich beispielsweise bei der Begegnung des schlafenden Ovid mit dem Liebesgott Amor um Fakt oder Fiktion? Oder eine Grauzone? In seinem interaktiven Beitrag ließ Feddern das Publikum mitreden, welches ausgehend von diesem Beispiel Grundsatzfragen der antiken Literaturtheorie diskutierte: Ist Poetizität, wie z.B. die Verwendung des elegischen Distichons, ein Einspruch gegen Faktizität? Wie viel Fiktion ist nötig, um von Autofiktionalität sprechen zu können? Und war eine Traumerscheinung im antiken Denken überhaupt fiktional?
THOMAS KUHN-TREICHEL (Heidelberg) nahm heterodiegetische Texte in den Blick und spürte der Frage nach, was passiert, wenn der extradiegetische Erzähler mit dem Geschehen der intradiegetischen Welt metaleptisch interagiert. Dabei rückte er den logikwidrigen Kontakt zwischen Repräsentiertem und Repräsentierendem als konstituierendes Merkmal in den Mittelpunkt und entwickelte an drei Beispielen aus der antiken griechischen Dichtung (Hom. Il. 16.692f., 786f.; Pind. O. 6.22–28; Nonn. Dion. 25.264–270) weitere Überlegungen zur funktionalen Beschreibung dieses narratologischen Phänomens. Anschließend wurde rege diskutiert, wo der systematische Ort der Metalepse sei. Zum Weiterdenken regte die Frage an, ob die Metalepse als Konzept der Vermischung der darstellenden und dargestellten Welt auch für gegenständliche Quellen der klassischen Archäologie, z.B. Becheraufschriften und Grabepigramme, fruchtbar gemacht werden könne.
Im vierten Panel standen theoretische Konzepte der Intersektionalität und der Metapher im Mittelpunkt: DARJA ŠTERBENC ERKER (Berlin) ging am Beispiel der Caligula-Biographie Suetons (Suet. Cal. 22–24) der Frage nach, wie Geschlechtsidentität in antiken Texten performativ als symbolisch wirksam erzeugt wird. Anhand zahlreicher fiktionaler bzw. fiktional-überzeichneter Erzählelemente, wie dem Aufsetzen des eigenen Kopfes auf Götterstatuen, dem Einkleiden der Caligula-Statue, dem Geschlechtsverkehr mit der Mondgöttin Luna, der Opferung exotischer Tiere, der Misshandlung von Familienangehörigen, zeigte Šterbenc Erker auf, inwiefern Sueton seine politische Invektive gegen Caligula intersektional anlege, d.h. im Zusammenspiel von Ethnizität, sozialem Status und Alter. In der anschließenden Diskussionsrunde wurden Querbezüge zu den Beiträgen des Livius-Panels hergestellt: Lässt sich Suetons Intersektionalität als eine multiperspektivische Diffamierung begreifen (s. Beitrag Pausch)? Oder auch als Bachtin’sches Chronotop (s. Beitrag Walter) im Sinne einer Zusammenschiebung sozialer Normen anstelle von Raum und Zeit?
CLAAS LATTMANN (Kiel) erprobte anschließend am Beispiel von Theokrits Idyll 1 die Anwendbarkeit der semiotischen Metaphertheorie von Charles S. Peirce. Während es sich nach traditionellem (aristotelischem) Verständnis bei der Metapher um eine Ähnlichkeitsbeziehung zweier Objekte aufgrund eines ihnen gemeinsamen tertium comparationis (Achill ist ein Löwe. > Achill = Tapferkeit = Löwe) handele, welche eine Ersetzung auf der Wortebene beschreibe, ziehe sich die Peirce’sche Theorie (CP 2.277) auf eine Minimaldefinition der Metapher als Metazeichen zurück, welches ein bestimmtes untergeordnetes Zeichen für einen anderen Gegenstand als gewöhnlich verwende, sofern ein Parallelismus oder eine Ähnlichkeit vorliege (Achill ist ein Löwe. = Löwe ist zeichenhaft für Achill) und somit auch komplexe Metapherbeziehungen beschreibbar mache. Gemeinsam mit dem Publikum tauchte Lattmann in die Tiefendimensionen der Metapher des ‚süßen Gesangs‘ Theokrits ein und regte einen interessanten Diskurs über die Kunst der Grenzziehung des Interpreten angesichts des Deutungsüberangebotes dieses Modells an.
Im fünften und letzten Panel spielte das Wissen und die Ohnmacht des Menschen im Umgang damit im Zentrum der Theoriearbeit. Ausgehend von einer Standortbestimmung des Ecocriticism und der Environmental Humanities in den Altphilologien, lotete CHRISTOPHER SCHLIEPHAKE (Augsburg) aus, inwiefern umweltkritische Fragestellungen zu einer neuen Lesung von Plutarchs pythischem Dialog De defectu oraculorum beitragen könnten: Insbesondere aus den Ausführungen des Lamprias über die Wechselwirkung der Dämpfe und Ausdünstungen in Delphi mit dem Körper und der Seele der Pythia leitete Schliephake die These ab, dass Plutarch die Umwelt als lebendige Entität begreife und ihr eine Unabhängigkeit und Eigenhandlung zuschreibe, in der die mantische Kraft ein vorübergehendes Phänomen sei. Diesen Einfluss der Umweltdimension auf die menschliche Kommunikation und jede Art von Entscheidung finde eine Parallele in Bruno Latours Perspektive auf den Klimawandel und den Verlust der biologischen Vielfalt, welche sich ebenfalls nicht durch menschlichen Einfallsreichtum umkehren ließen und die westlichen Wissenssysteme damit unweigerlich in eine existenzielle Krise stürzten. Erneut öffnete die Frage nach dem systematischen Ort des eco criticism den Raum für zentrale Identitätsfragen der Altphilologien: Inwiefern deutet die Übernahme des englischen Terminus auf eine Abwehrhaltung im deutschen Sprachraum gegenüber den Ansätzen des eco criticism hin? Wo verläuft die Grenze zwischen criticism und Theorie? Worin ist der spezifische Beitrag der Geisteswissenschaftler:innen im interdisziplinären Dialog mit anderen am eco criticism interessierten Wissenschaften zu sehen?
Den Abschluss des Kieler Workshops bildete der Beitrag von SAMANTHA PHILIPS (Kiel) und ANDREAS SCHWAB (Kiel). Ausgehend von einer Rundschau rezenter wissensgeschichtlicher Forschungsansätze gingen die Referent:innen in ihrem Beitrag der Frage nach, welchen Mehrwert wissensgeschichtliche Perspektiven für die literaturwissenschaftliche Textinterpretation von Sophokles’ Ödipus Tyrannus haben könnten. Inspiriert von den Vorarbeiten der Germanist*innen Tilmann Köppe und Simone Winko, welche wissensbezogene Fragen ausgehend von den drei Konstituenten der literarischen Kommunikation (Autor, Text und Leser) ableiten, erprobten Schwab und Philips am Beispiel von Sophokles’ Ödipus eine vierschrittige wissensbezogene Heuristik: Bei der Textanalyse gelte es nacheinander zu klären, ob eine Wissenssituation vorliege, wie diese sprachlich realisiert sei, wer die Akteure, Stimmen, Perspektiven, i.e. die Träger:innen des Wissens seien, in welchen Kontexten und Kommunikationssituationen das Wissen relevant sei und welche Wirkung die erzählte Wissenssituation sowohl im textinternen als auch im textexternen Kontext entfalte. Mit diesem Vorgehen knüpften die Vortragenden methodisch an die Interpretation Michel Foucaults an, der die psychoanalytische Deutung des Ödipus als eines Nicht-Wissenden widerlegt und als Machtwissenden herausgearbeitet hat. Schwab und Philips erweiterten diese Deutung um weitere Wissensformen und hoben auf die komplexe Dynamik von Wissenssituationen in erzählenden Texten ab, die mithilfe der Instrumente der Wissensgeschichte beschreib- und analysierbar werde.
Konferenzübersicht:
Keynote I
Martin Hose (München): Theoriegeschichte(n) - über den historischen oder systematischen Ort von Theorien zur Literatur
Panel 1: Raum, Zeit und Perspektiven
Dennis Pausch (Marburg): Narratologische Multiperspektivität in der antiken Geschichtsschreibung
Anke Walter (Newcastle): Bakhtins Chronotop und Livius’ ab urbe condita
Panel 2: Text und Geschichten: Mythos und Memory
Christian Zgoll (Göttingen): Wenn hinter Texten Mythen stecken: Theorie und Methodik hylistischer Mythosforschung
Verena Schulz (Eichstätt-Ingolstadt): ,Erinnern‘ und ,Vergessen‘ als Textmerkmale
Panel 3: Erzählen II: (Auto)Fiktion und Metalepse
Stefan Feddern (Kiel): Das moderne Konzept der Autofiktion und seine Anwendung auf antike homodiegetische Dichtung
Thomas Kuhn-Treichel (Heidelberg): Metalepsen – ein angemessenes Konzept für antike Texte?
Panel 4: Erzählen III: Text, Intersektionalität und Bild
Darja Šterbenc Erker (Berlin): Narratologie und Intersektionalität in Suetons Kaiserbiographien
Claas Lattmann (Kiel): Bilder zwischen Wort und Text. Perspektiven auf die Metapher und ihr Verständnis
Panel 5: Text, (Um)Welt und Wissen
Christopher Schliephake (Augsburg): Environmental humanities
Samantha Philips (Kiel) / Andreas Schwab (Kiel): Wissensgeschichte(n)