Theorie und Text: Moderne Forschungskonzepte und antike Literatur. Teil II

Theorie und Text: Moderne Forschungskonzepte und antike Literatur. Teil II

Organisatoren
Andreas Schwab, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Verena Schulz, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ort
Eichstätt
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
09.10.2023 - 10.10.2023
Von
Samantha Philips, Institut für Klassische Altertumskunde, Abteilung Gräzistik und Latinistik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Im ersten Teil des Workshop-Paars „Theorie und Text: Moderne Forschungskonzepte und antike Literatur“ wurde darauf verwiesen, dass unterschieden werden muss zwischen Theorien, die speziell zur Anwendung auf antike Texte entwickelt wurden, und Theorieansätzen, die aus anderen Fachdisziplinen übernommen und für eine sekundäre Anwendung auf Texte adaptiert wurden. Zudem haben sich die Teilnehmenden vorgenommen, darauf einzugehen, neben dem Nutzen einer Theorie auch die Schwierigkeiten herauszustellen, die deren Anwendung verursachen kann.

THOMAS A. SCHMITZ (Bonn) hielt die Keynote zur „Rezeptionsgeschichte als Herausforderung“. Schmitz führte in die Hintergründe der Querelle des Anciens et des Modernes ein. Er verwies darauf, dass es sich bei der Querelle nicht nur um einen Streit zweier Konkurrenten um die Gunst Ludwigs XIV. handelte, sondern der Gegensatz von Anciens und Modernes bereits zuvor aufgekommen und thematisiert worden war. Die Querelle war als Einladung verstanden worden, sich innerhalb der Debatte zu positionieren, was auch über die Grenzen Frankreichs hinaus geschehen ist. In Deutschland war es Friedrich Schiller, der sich in der Debatte positionierte und diesbezüglich seine Überlegungen zur naiven und sentimentalischen Dichtung formulierte. Es sei nicht möglich, hinter die Kultur zurückzutreten und wieder zum naiven Dichter zu werden, sondern es gilt auf dem Weg der Kultur eine Anverwandlung und Wiedergewinnung zu erreichen, die durch bloße Imitation nicht verwirklicht werden kann. In der Reflexion über die Rezeption der Querelle betonte Schmitz, dass Forscher:innen keinen privilegierten Platz innerhalb der Rezeptionsgeschichte einnehmen können, sondern mit ihrer Lesart nur eine partielle Lektüre abbilden, die nur provisorischen Wert haben kann. Wichtig ist das Anregungspotential, das von einem Rezeptionsakt ausgeht, sodass Anknüpfungspunkte für die Akkumulation weiterer Rezeptionen geschaffen werden.

LISA CORDES (Berlin) sprach zum Spannungsverhältnis zwischen modernen Theorien und antiken Vorstellungen von Autorschaft. Sie stellte einen Ansatz von Ingo Berensmeyer et al. vor, die Autorschaft als einen performativen Prozess innerhalb kultureller Netzwerke definieren. Eine Typologie von Autorschaftsfunktionen kann dabei helfen, systematisch über antike Autorschaft nachzudenken und mögliche Spezifika zu identifizieren, wie das Spektrum zwischen einer stark autonomen und einer stark heteronomen Form von Autorschaft. Zudem können unterschiedliche Formen gemeinsamen Schaffens im Bereich kollektiver Autorschaft als Prozesse untersucht werden, an deren Ende das Werk komplexer erscheint, als es das Bild eines allein schaffenden Autors suggeriert hatte. Anhand von Ciceros Briefen wurde dies beispielhaft erläutert. Dort sind verschiedene Akte der Autorschaft erkennbar, zu denen auch Revisionen gezählt werden, die Atticus in einigen von Ciceros Dialogen zum revisionary author machen. Cordes hielt fest, dass der Eindruck entsteht, dass Cicero eine ambige Form von Autorschaft inszeniere. Er möchte sich selbst einerseits als starke Autorfigur inszenieren, bei der alle Entscheidungen zusammenlaufen, andererseits schwankt dieses Bild situationsabhängig immer wieder. Unter Anwendung moderner Autorschaftstheorien kann dieses Phänomen präziser untersucht und terminologisch gefasst werden.

Im Vortrag zum Thema „Intertextualität“ ging REGINA HÖSCHELE (Toronto) darauf ein, dass Anspielungen nur dann ihre Wirkung entfalten können, wenn der Rezipient sie auch erkennt, also uns als Forschende Anspielungen auf nicht überlieferte Texte verborgen bleiben müssen. Als Phänomene, die bisher weniger häufig untersucht wurden, machte Höschele die Intertextualität zwischen paganen und griechischen Texten aus, sowie das in der Forschung lange geleugnete Phänomen, dass griechische Autoren die Texte lateinischer Dichter rezipieren. Als Beispiel führte Höschele die Zeitgenossen Vergil und Erucius an und machte in einer Analyse von Erucius AP 6.96 und Vergil, Ekloge 7 deutlich, wie einerseits Vergil mit der griechischen Sprache Theokrits in dessen Gedicht Id. 8,1–4 arbeitet, woraufhin Erucius auf Griechisch mit der lateinischen Fassung Vergils literarisch spielt. In der Diskussion fiel außerdem der Verweis auf die Möglichkeit, mit spezieller KI nach „semantic matches“ zwischen den Sprachen Latein und Griechisch suchen zu können.

JOHANNA SCHUBERT (Jena) beschäftigt sich im Rahmen eines Graduiertenkollegs zu heteronomen Texten mit Aulus Gellius. Unter dem Arbeitstitel ihrer Dissertation „Von Apophthegma bis Zitat. Formen der Heteronomie in Aulus Gellius’ Noctes Atticae“ wird der Aspekt der Streitkultur untersucht und wie Streitgespräche bei Gellius begonnen, motiviert und gewonnen werden können. Als Beispiel stellte Schubert ein Streitgespräch zwischen einem Stoiker und einem unbenannten dives vor, wobei sich der Stoiker für seine Angst während eines Sturms mittels eines Aristipp-Zitates rechtfertigt; im weiteren Verlauf des Geschehens wird Gellius dann ein Buch des Epiktet überreicht, das die weitere Diskussion ersetzen soll. Daran schließen sich Fragestellungen an, welche Rolle Autorität bei Gellius spielt und inwiefern der Text mit den zitierten Vorlagen in ein Streitverhältnis eintritt. Diverse Vorgängerschriften können als Vergleichspunkte dienen, unter denen Plutarchs Tischgespräche wegen ihrer Bedeutung für Gellius und ihrer moralisierenden Praxis herausstechen.

Im Panel „Leser und Kognition“ sprach FELIX MAIER (Zürich) zu kognitiven Theorien zur Rekonstruktion von antiken Entscheidungsfaktoren. Dabei wurden verhaltenstheoretische Modelle herangezogen, die untersuchen, wie die Entscheidungsfindung von Menschen in Risiko-Situationen abläuft. Während die althistorische Forschung sich anhand rationaler Erklärungsmodelle in die Gedankenwelt antiker Entscheidungsträger hineinzuversetzen suchte, geht die Kognitionspsychologie davon aus, dass selbst erfahrene Politiker bei Risiken kontraintuitiv entscheiden, indem sie inkohärente Analogien ziehen, Verhalten falsch einschätzen und selbst irrationale Signale senden. Als Anwendungsbeispiel führte Maier die Schilderung der Ereignisse des 3. Makedonischen Krieges durch Livius an. In den Kategorien des Verknüpfungsfehlers, der Preference-Bias und des Conflict-Paradox lässt sich erfassen, weshalb die Anschuldigungen des Eumenes, dass Perseus Kriegsvorbereitungen trifft und sich mit den Karthagern verbündet, in dieser Kombination bei den Römern so heftige Reaktion hervorriefen. Maier wies darauf hin, dass die verhaltenswissenschaftlichen Modelle neue Perspektiven auf Entscheidungssituationen eröffnen können, aber nur als einer von mehreren Parametern zu einer Analyse des Geschehens hinzugezogen werden sollten. Bei der Anwendung der psychologischen Theorien muss außerdem die Frage nach Mentalitätsunterschieden zwischen Antike und Gegenwart mitberücksichtigt werden.

Im Panel zu „Diskurs und Gesellschaft“ hob MEIKE RÜHL (Osnabrück) hervor, dass es sich bei der Geschlechterforschung eher um eine Perspektive handelt, welche die Kategorie Geschlecht als relevante Größe wahrnimmt, als um eine einheitliche Forschungsmethode. Es geht darum, wie das Geschlecht in unterschiedlichen Diskursen konstruiert wird, wobei es sich nicht um eine einmalige Handlung, sondern um einen performativen Akt handelt, der ständig wiederholt wird. Als Beispiel wählte Rühl die Trostschrift Senecas an seine Mutter (dial. 12). Folglich unterscheiden sich Sender und Empfänger in der Kategorie Gender, wobei der Sprecher sich außerdem die auctoritas zuspricht, den Akt des Tröstens durchführen zu können. Im Text werden emotionale Zustände verkörpert und in Bildern von Kriegsverletzungen dargestellt. Senecas Mutter Helvia wird mit einem amputierten Veteran verglichen, der durchhalten muss, während Seneca davon spricht, dass er nur seine distinktiven Werte verloren, diese aber durch innere Stärke ersetzt hat. Seiner Mutter spricht er ihre soziale Distinktion ab, da ihr Verhalten in der Trauer nicht ihrer Stellung entspräche. Indem Statussymbole nicht an den leiblichen, sondern an den mentalen Körper gebunden werden, werden diese für Frauen verfügbar gemacht. Allerdings nutzt Seneca innerhalb der Textstrategie die Situation seiner Mutter zur Selbstermächtigung im Angesicht seines eigenen Statusverlust. Rühl betonte, dass man mittels der Geschlechterforschung Dinge herausarbeiten kann, die im Text angelegt sind, aber dabei über die Perspektive reflektieren sollte, aus der ein antiker Text gelesen wird.

Im Rahmen des DFG-Projekts „Reading Symmachus“ beschäftigt sich KATHARINA BLAAS (Tübingen) in ihrem Dissertationsprojekt mit der Anordnung der Briefe aus literarischen Gesichtspunkten und Gestaltungsaspekten. Dabei ging es ihr schwerpunktmäßig um die intergenerationellen Relationen in den Büchern 1 bis 7. Innerhalb der Bücher sind die Briefe nach Adressaten geordnet. In Buch 1 sind die Briefe an den Vater vorangestellt, in Buch 4 sind Briefe an politisch einflussreiche Personen wie Stilicho versammelt und das 7. Buch enthält die Briefe an Memmius, den Sohn des Symmachus. Als theoretisch-konzeptionellen Zugang verwendete Blaas ein Modell der Literatursoziologie, nach dem Briefe als die konkrete Performanz der sozialen Praxis des Briefeschreibens verstanden werden. Eine vorherige Studie von Salzman zeigt, dass die Hauptthemen der Briefe, emotionale Bindung, gemeinsames literarisches Interesse und das Familienvermögen, anhand von Bordieus Kategorien des sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals analysiert werden können.

In ihrem Dissertationsprojekt beschäftigt sich ANTONIA LAKNER (Tübingen) mit Menschenmassen als Element des politischen Imaginaire im Osten des römischen Reiches. Ziel der Arbeit ist es, die Rolle von Menschenmassen in politischen Prozessen anhand literarischer Quellen herauszuarbeiten. Es soll eine Terminologie identifiziert werden, die zur Beschreibung von Massen verwendet wird. Ziel ist eine Kategorisierung des Handelns von Massen unter Berücksichtigung von Ort und Kontext sowie die Analyse der Eigenlogik der Darstellung von Massen im jeweiligen Werkkontext. In einem zweiten Schritt sollen dann werkübergreifende Rollen von Menschenmassen analysiert werden. Erste Ergebnisse lassen durch Bildung vermittelte Rollenbilder erkennen. Die Masse taucht als Machtfaktor, als Publikum und als Angstphänomen auf und wird bezogen auf spezifische Figurentypen wie den Philosoph oder den Hirten. Das Projekt bietet sowohl einen Einblick in die politische Bildersprache der Kaiserzeit als auch einen möglichen Ausblick darauf, was die verwendeten Topoi über die politischen Strukturen und Praktiken im hellenistischen Osten aussagen.

Im Panel „Identität und Fremdheit“ beschäftigte sich JOHANNA NICKEL (Köln) im Rahmen der interkulturellen literarischen Hermeneutik damit, Mechanismen von Fremdheitsbestimmungen beschreibbar zu machen. Interkulturalität wird dabei definiert als Formen des Austausches von Individuen, bei denen die Partner sich als unterschiedlich kulturell geprägt identifizieren. Wichtig ist der Konstruktionscharakter von Kultur und die Rolle der Handelnden, ohne die es keine Kultur als Sinnsystem, auf das referiert und mit dem gearbeitet wird, geben kann. Speziell in Bezug auf die Fremdheit als Rahmenbegriff sind sprachliche Eigenarten zu beachten, da das Bedeutungsspektrum des deutschen Begriffs „fremd“ anders funktioniert als die Begriffe alienus oder ξένος(xenos). Waldenfels/Leskovec bilden eine Typologie des Fremden, wobei zwischen alltäglichem Fremden innerhalb der eigenen Wirklichkeitsordnung, strukturellem Fremden, das „unübersetzbar“ und nur in der Paraphrase greifbar bleibt, und radikalem Fremden, das jegliche Ordnungen überschreitet, unterschieden wird. Als Textbeispiel wählte Nickel Lukians Dialog Anacharsis, in dem der Skythe nach Athen kommt und verschiedene Typen von Fremdheitserfahrungen erlebt. Nickel hob dabei die ästhetische Qualität der Kategorie der Fremdheit hervor. Fremdheit wird bei Lukian dabei nicht nivelliert, sondern lediglich modelliert. Der Anschein der Homogenität wird dekonstruiert und multiple Identitäten sowie unterschiedliche Fremdheitszuschreibungen bleiben nebeneinander bestehen.

CASPER DE JONGE (Leiden) begann seinen Vortrag über die Rolle der Migration in der Antike mit der Feststellung, dass viele der antiken Schriftsteller wie Herodot, Lysias, Quintilian und Martial selbst Migranten waren. Gerade die Kaiserzeit kann als „age of migration“ betrachten werden, in dem Personen unterschiedlicher Schichten aus verschiedenen Gründen nach Rom immigrierten. Dabei sind es nicht nur die Migranten selbst, die sich interkulturell bewegen, sondern auch ihre Erzählungen. Im Unterschied zur gegenwärtigen Migrantenliteratur werden diese Texte nicht unbedingt in der Sprache der neuen Heimat verfasst, sondern meist auf Griechisch. In den Texten spielt Mobilität eine Rolle und es wird ein gewisses Maß an sogenannter „in-betweenness“ deutlich, wenn z. B. Dionysius sowohl die griechische als auch die römische Datierung von Ereignissen angibt. Außerdem sind die betreffenden Texte ambivalent und können sowohl positiv als auch negativ gelesen werden. De Jonge betonte zudem, dass ein Dialog zwischen dem antiken und dem modernen Phänomen entstehen sollte, auch wenn heute relevante Aspekte in Bezug auf den Raum wie Staatsgrenzen für die antike Migration keine Rolle gespielt haben.

MONICA BERTI (Leipzig) ging unter dem Oberthema der Digitalität auf theoretische und praktische Probleme aus dem Bereich der digitalen Philologie und der Rezeption von griechischen und lateinischen Texten im digitalen Zeitalter ein. Sie benannte mehrere Fragen, mit denen sich die Klassische Philologie beschäftigen sollte, um moderne Konzepte der digitalen Philologie anzuwenden. Dabei muss auch diskutiert werden, welche der vielfältigen Theorien und Methoden der digitalen Geisteswissenschaften übernommen werden sollen. Berti zeigte Beispiele für die Verwendung von ChatGPT und Google Bard, um das Potential, aber auch die Gefahren der künstlichen Intelligenz für die klassische Philologie zu veranschaulichen. Sie betonte die Verantwortung der Philologen, den Umgang mit diesen Werkzeugen zu lernen und neue Daten aus antiken Quellen zu generieren, die von künstlicher Intelligenz verstanden und korrekt verarbeitet werden können. Im zweiten Teil des Vortrags präsentierte Berti das Verfahren der linguistischen Annotationen und der Named Entity Recognition (NER) zur automatischen Identifikation und Klassifikation der bibliographischen Zitate in alten Quellen. Ziel dieser Methoden ist es, Hinweise auf Autoren und Werke in den griechischen und lateinischen Quellen zu analysieren, um neue Ergebnisse zu erzielen, die im Zeitalter der gedruckten Editionen nicht möglich waren.

Konferenzübersicht:

Keynote II

Thomas Schmitz (Bonn): Rezeptionsgeschichte

Panel 6: Autor und Text

Lisa Cordes (Berlin): Moderne (und antike) Autorschaftskonzepte: Performanz von Autorschaft in den Cicero-Dialogen

Regina Höschele (Toronto): Intertextualität

Dissertationsprojekte I

Johanna Schubert (Jena): Von Apophthegma bis Zitat. Formen der Heteronomie in Aulus Gellius' Noctes Atticae

Panel 7: Leser und Kognition

Felix Maier (Zürich): Kognitive Theorien zur Rekonstruktion von antiken Entscheidungsfaktoren

Panel 8: Diskurs und Gesellschaft

Meike Rühl (Osnabrück): homo fortiter miser. Gender Studies am Fallbeispiel (Seneca, Consolatio ad Helviam matrem)

Dissertationsprojekte II

Katharina Blaas (Tübingen): Macht und Familie. Intergenerationelle Relationen in den Briefen des Q. Aurelius Symmachus

Antonia Lakner (Tübingen): Masse und Elite im politischen Imaginaire des hellenistischen Ostens im 1. und 2. Jh. n. Chr.

Panel 9: Identität und Fremdheit

Johanna Nickel (Köln): Interkulturelle literarische Hermeneutik: Fremdheit als thematischer Aspekt und ästhetische Qualität von Texten

Casper de Jonge (Leiden): Migrantenliteratur in der frühen Kaiserzeit

Panel 10: Digitalität

Monica Berti (Leipzig): Digitale Philologie und die Rezeption von griechischen und lateinischen Texten im digitalen Zeitalter

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