Die Reichswehr als „Staat im Staat“. Ein Schlagwort von Weimar nach 100 Jahren politischer und wissenschaftlicher Debatte

Organisatoren
Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Dokumentationszentrum Topographie des Terrors; Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (Dokumentationszentrum Topographie des Terrors)
Ausrichter
Dokumentationszentrum Topographie des Terrors
PLZ
10963
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
17.04.2024 -
Von
Markus Pöhlmann, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

Die Forschungsstelle „Weimarer Republik“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und das Forschungsprojekt „Reichswehr. Die Republik und ihre Streitkräfte, 1919 bis 1935“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr richteten am 17. April 2024 einen Workshop zum Quellen- und zum politik- beziehungsweise geschichtswissenschaftlichen Forschungsbegriff „Staat im Staat“ aus. Die Ausgangslage für den Workshop bildete die unabhängig voneinander an beiden Forschungseinrichtungen gemachte Wahrnehmung, dass der Begriff „Staat im Staat“ mit Blick auf die Reichswehr gleichermaßen von erstaunlich geringer Prägnanz sowie bemerkenswerter Langlebigkeit ist.

Die Veranstaltung fand im Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ in Berlin statt. Sie bildete dort einen Teil des Rahmenprogramms zur Sonderausstellung „Gewalt gegen Weimar. Zerreißproben der frühen Republik 1918–1923“. Die Leitfragen der Veranstaltung lauteten: Wer sprach wann in welchen Diskurszusammenhängen vom „Staat im Staat“? Was war damit gemeint? Und: Wie ist der analytische Wert für die Forschung zu Militär und Staatlichkeit im 20. Jahrhundert einzuschätzen?

Die einführende Sektion beleuchtete die Grundzüge von Staatlichkeit und zivil-militärischen Verhältnissen in Deutschland sowie die Ausgangslage für die Rede vom „Staat in Staat“ in Weimar. ANDREAS BRAUNE (Jena) plädierte in seinem Vortrag dafür, sich bei der Erforschung der zivil-militärischen Verhältnisse auf das Gewaltmonopol als Leitbegriff zu konzentrieren. PIERRE KÖCKERT (Potsdam) arbeitete heraus, dass der Begriff „Staat im Staat“ bereits in der politischen Debatte des Kaiserreiches fest verankert war. Es beinhaltete die klassische Militarismuskritik und deren Hinweis auf die teilweise extrakonstitutionelle Stellung der Streitkräfte. Dazu zählte aber auch der Vorwurf parallelgesellschaftlicher Abschottungsbestrebungen an den Katholizismus und die Vorstellung, Sozialdemokratie und Gewerkschaften bildeten in der Verschränkung von parteipolitischer, arbeitsweltlicher Interessenvertretung und kultureller Milieubildung einen „Staat im Staat“ aus. Ein solcher Vorwurf konnte aber auch im Zusammenhang mit konkreten wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen von Kartellen und Monopolen formuliert werden. Zudem ließe sich schon für die Epoche von 1871 bis 1918 eine verschwörungserzählerische Tendenz feststellen.

Die zweite Sektion widmete sich der politischen Debatte in der Weimarer Republik selbst. Für die Publizistik des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ vermochte SEBASTIAN ELSBACH (Jena) den Kampfbegriff nicht auszumachen. Stattdessen forderte der republikanische Wehrverband von der Reichswehr ihre Demokratisierung und Neutralität. Elsbach wies darauf hin, dass die Autoren aus dem Umfeld des „Reichsbanners“ auch militärimmanent argumentierten, wenn sie etwa darauf verwiesen, dass eine abgekapselte „Bürgerkriegsarmee“ zur Erfüllung ihres eigentlichen militärischen Auftrags wenig tauge.

AXEL MÖSSINGER (Jena) präsentierte die wehrpolitischen Positionen der politischen Linken, die sich in der Regel von zwei Sehepunkten aus blickend – dem pazifistischen und dem ideologischen – in einer Fundamentalkritik der Reichswehr trafen. Wie auch sein Vorredner verwies Mössinger auf die starke Emotionalität der Debatte, die in Zukunft für eine Militärgeschichte der Gefühle von Interesse sein könnte.

Mit Generaloberst Hans von Seeckt, dem Chef der Heeresleitung in den Jahren 1920 bis 1926, stellte CHRISTIAN STACHELBECK (Potsdam) den vermeintlichen Spiritus rector der Reichswehr als „Staat im Staat“ vor. Dieser habe zwar mit seiner Unterscheidung von „Politik“ und „Parteienpolitik“ einen klassischen Topos der konservativen Demokratiekritik bedient. Stachelbeck empfahl aber, neben den bis heute wirkmächtigen militärpolitischen Schriften Seeckts und der methodisch problematischen Biografie von Friedrich von Rabenau stärker auch normative militärische Quellen aus der Konsolidierungsphase der Reichswehr wie etwa Vorschriften und Handreichungen zur politischen Bildung zu berücksichtigen. Aus diesen ließe sich durchaus eine staatspolitische Annäherung der Reichswehr an die Republik herauslesen.

Einen Überblick über konservative und rechte Positionen bot dann DENNIS WERBERG (Potsdam). Mit Ausnahme der frühen national-revolutionären Schrift von Helmut Franke „Staat im Staate. Aufzeichnungen eines Militaristen“ von 1924 traten Vertreter aus diesem politischen Spektrum in der Regel dem Vorwurf, die Streitkräfte würden sich von der Republik bewusst abkapseln, entgegen. Dies ergab sich schon aus ihrer eigenen politischen Verortung. Konservative und rechte Politiker und Wehrpublizisten standen zwar der Republik kritisch oder ablehnend gegenüber. Gleichzeitig war ihr Bekenntnis zum Staat als solchem aber meist so fundamental, dass ihnen dies die Vorstellung einer Absonderung des Soldaten beziehungsweise des Militärs vom Staat verbat.

Die Wiederkehr des „Staat im Staat“ in der politischen Debatte in der Bundesrepublik untersuchte CHRISTOPH NÜBEL (Potsdam). Hier seien eindeutige Konjunkturen festzustellen, zu denen die Wehrdebatte der Jahre 1952–1957, die Kontroverse um entsprechende Warnungen des damaligen Wehrbeauftragten Hellmuth Heye 1964 und die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 zählen. Nübel arbeitete für die bundesdeutsche Debatte drei Kennzeichen heraus: erstens die alarmistische Intention der frühen Jahre mit der Warnung vor einer möglichen Rückkehr alter Eliten im Militär; zweitens die Einordnung in die größere „Bonn ist nicht Weimar“-Debatte; und drittens die neuartigen internationalen Bezugnahmen, die sich aus der Rezeption der Theorie zivil-militärischer Beziehungen – namentlich Samuel P. Huntington – speisten.

Die erkrankte Dorothee Hochstetter verwies in ihrem schriftlichen Impuls außerdem auf die Forschungen zur Diskurslinguistik. Wenn man den „Staat im Staat“ als Topos verstehe, dann ließe sich dessen Entwicklung zum argumentativen Gewohnheitswissen erklären, das heute weitgehend ohne Bezug auf Weimar oder die Reichswehr auskomme.

Mit Blick auf die frühe Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik stellte DENNIS WERBERG (Potsdam) fest, dass die historiografischen Konjunkturen denen der parlamentarischen Debatte weitgehend entsprachen. Zwei nachhaltig die Forschung beeinflussende Publikationen, die Quellenedition „Heer und Republik“ von Otto-Ernst Schüddekopf von 1955 und Francis L. Carstens „Reichswehr und Politik 1918–1933“ von 1964 verwendeten beide prominent und einigermaßen unreflektiert den Quellenbegriff der Weimarer Jahre.

Die Forschungen von Michael Geyer bedeuteten dann Anfang der 1980er-Jahre für die Reichswehr-Forschung eine bedeutende Zäsur, wie FRANK REICHHERZER (Potsdam) in seinem Beitrag feststellte. An die Stelle der Annahme einer starken zivil-militärischen Dichotomie trat nun das Augenmerk auf einen prinzipiellen Wehrkonsens, die Ausrichtung der Streitkräfte auf den Krieg und die Tendenzen der Selbstermächtigung von zivilen Experten im Feld des Militärs. Reichherzer plädierte deshalb dafür, stärker sektorale Autonomien und Prozesse der Kopplungen zu beforschen.

Die Diskussionen im Workshop eröffnete schließlich den Weg zu einer politik- und geschichtswissenschaftlichen Arbeitsdefinition: Der Begriff „Staat im Staat“ bezeichnet demnach im weiteren Sinn das Ergebnis der Bestrebungen von sozialen Gruppen, sich innerhalb einer gegebenen staatlichen Ordnung autonome Regelungsbereiche zu schaffen. Dieser Prozess vollzieht sich hier oftmals klandestin sowie usurpierend und bietet daher Anlass zur politischen Skandalisierung beziehungsweise zur Verschwörungserzählung. In der Regel handelt es sich bei dem Begriff um eine kritische Fremdzuschreibung.

Im engeren militärpolitischen Diskurszusammenhang der Weimarer Republik versteht man unter „Staat im Staat“ das vermeintliche Ergebnis der Bemühungen der Reichswehrführung, sich der Demokratisierung der Streitkräfte und damit dem Primat der Politik zu entziehen.

Wer im zeitgenössischen politischen, aber auch im wissenschaftlichen Zusammenhang mit „Staat im Staat“ argumentiert, verweist meist auf das Festhalten an paralegalen Strukturen, auf die Praxis der Personalauswahl im Offizierskorps und die Bemühungen um eine personelle sowie materielle Rüstung, die aufgrund ihrer Nichtvereinbarkeit mit den Bestimmungen des Friedensvertrags von Versailles in Teilen nicht der verfassungsmäßigen parlamentarischen Kontrolle unterlag und in der innenpolitischen Debatte daher als „Geheimrüstung“ kritisiert werden konnte.

Die Rede vom „Staat im Staat“ kann daher zunächst einmal als Indiz für die Verdichtung von Staatlichkeit, vor allem aber für Regelungslücken beziehungsweise Krisen in den zivil-militärischen Verhältnissen gewertet werden. Als Topos in der deutschen Debatte zeichnet sich „Staat im Staat“ durch seine Langlebigkeit und seine wachsende inhaltliche Beliebigkeit aus. Weitgehend Einigkeit bestand darüber, dass er damit als Analysebegriff für die Forschung und die historische Bildung gleichermaßen untauglich ist.

Für die Geschichtswissenschaft mahnte Christoph Nübel eine stärkere Rezeption der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschungen zu zivil-militärischen Beziehungen an. Rüdiger Bergien regte an, sich mit Blick auf Weimar stärker mit dem Konzept des „Tiefen Staates“ zu befassen. Der Vorteil liege dabei in der Zentralität von militärisch-administrativen Netzwerken sowie in der Betonung der Gleichzeitigkeit von öffentlicher und geheimer Praxis.

Mit Blick auf die Reichswehr erschien „Staat im Staat“ auch deshalb als Forschungsbegriff untauglich, weil damit die vermeintlichen militärischen Aspirationen bestenfalls für einen sehr begrenzten Zeitabschnitt angesprochen werden können – nämlich nur für die Jahre 1924 bis 1928. Markus Pöhlmann wies darüber hinaus darauf hin, dass der Topos vom „Staat im Staat“ auch nur für eine sehr geringe Zahl von militärischen Handlungsfeldern formuliert werde, nämlich einzelne Sonder- und Nebenrechte sowie die personelle und materielle Rüstung. Die sehr viel weiterreichende Qualifizierung der Reichswehr als „Staat im Staat“ lasse sich so schwerlich begründen. Schließlich wurde in der Diskussion eine stärkere Berücksichtigung der zivil-militärischen Verhältnisse in anderen Staaten angemahnt, wodurch sich mögliche nationale Besonderheiten, aber auch internationale Übereinstimmungen präziser bestimmen ließen. Im Ergebnis diente der Workshop also einer präziseren Begriffsbestimmung des Quellenbegriffs „Staat im Staat“ und resultierte gleichzeitig in einer weitgehenden Infragestellung seines Wertes als Forschungsbegriff.

Konferenzübersicht:

Staatlichkeit und zivil-militärische Verhältnisse unter besonderer Berücksichtigung der Weimarer Republik

Andreas Braune (Jena): Das Gewaltmonopol in Deutschland

Pierre Köckert (Potsdam): Die politische Debatte im Deutschen Kaiserreich

Die politische Debatte in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus

Sebastian Elsbach (Jena): Reichsbanner und republikanische Positionen

Axel Mössinger (Jena): Linke Positionen

Dennis Werberg (Potsdam): Konservative und rechte Positionen

Christian Stachelbeck (Potsdam): Die Position des Chefs der Heeresleitung Hans von Seeckt

Die politische und Forschungsdebatte in der Bundesrepublik

Christoph Nübel (Potsdam): Die wehrpolitische Debatte in der frühen Bundesrepublik

Dennis Werberg (Potsdam): Die frühe bundesdeutsche Geschichtsschreibung nach 1945

Frank Reichherzer (Potsdam): Geschichtsschreibung unter dem Bellizismus-Paradigma