Als einstige Zentralregion des karolingischen Imperiums entwickelte sich der Raum zwischen Rhein und Maas seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts zunehmend zu einer Berührungszone zwischen zwei sich herausbildenden Sprach- und Kulturräumen, stets geprägt von politischen Spannungen, künstlerischen Strömungen ebenso wie spirituellen Reformbewegungen. So bietet dieser Raum ein fruchtbares Untersuchungsfeld, um sich mit Mobilität und Austausch auseinanderzusetzen. Damit beschäftigten sich die Teilnehmer der am 11. und 12. April in Namur stattfindenden Tagung. Anknüpfend an die Tagung „Von Lüttich bis Straßburg. Neue Forschungen zur deutsch-französischen Grenzregion im Hoch- und Spätmittelalter (11.–16. Jahrhundert)“, die 2022 in Trier stattfand, wollte auch diese Tagung wissenschaftlichen Nachwuchs aus verschiedenen Sprachgebieten und historiographischen Traditionen grenzübergreifend zusammenbringen. Grenzen sind auch in der historischen Debatte wieder besonders aktuell; die vormoderne Grenze ist sicherlich alles andere als ein eindeutiges Konzept. Egal ob eine Grenze politisch, kulturell oder religiös ist, sie gibt stets den Anstoß zur Begegnung mit dem anderen. Sich in einem Raum zu bewegen, heißt demnach, Grenzen zu überwinden.
Schon im Impulsvortrag wurden zahlreiche Grenzen überwunden. MATTHIEU PIGNOT (Namur) zeigte, dass die Verbreitung bedeutender augustinischen Schriftsammlungen im heutigen Nordfrankreich, Belgien und Westdeutschland die Grundlage für einen Großteil der späteren mittelalterlichen Überlieferung in Europa bildete. Bücher und Texte bieten Grundlagen für die Zukunft und erlauben es manchen Gemeinschaften auch, sich selbst (besser) zu definieren. CATHERINE ROSBROOK (Gent) stellte dar, wie lotharingische und burgundische Mönche im 10. und frühen 11. Jahrhundert „Narrative des Unterscheidens“ (narratives of distinction) entwickelten, um sich von anderen Mitgliedern der Gesellschaft abzusetzen, etwa durch vertiefte, gleichzeitig aber auch ausgeglichene intellektuelle Arbeit oder eingeschränkte Ernährung. Texte können auch physisch verankert sein, wie es JOHANNES BÜGE (Heidelberg) in Erinnerung brachte. Seine Studie der karolingischen Tituli legte dar, wie vernetzt Dichtung sein konnte und wie Dichter und Auftraggeber auch über politische Grenzen hinweg miteinander in Verbindung traten. Während des Abendvortrags setzte BASTIEN DUBUISSON (Namur) diese Überlegungen fort mit einer Vorstellung der Ergebnisse seiner kürzlich eingereichten Dissertation zur hagiographischen Kultur in der Diözese Trier im Spätmittelalter. Unter Verwendung des Konzepts der „kulturellen Übertragung als Prisma“ untersuchte er, wie eine neue Generation von Mönchen ein mehrere Jahrhunderte altes hagiographisches und historiographisches Erbe den Anforderungen ihrer Zeit angepasst hat. Seine Untersuchungen zeigten, wie die Benediktinergemeinschaft von St. Maximin das Ziel verfolgte, über hagiographische Schriften den Herausforderungen ihrer Zeit entgegenzutreten, die durch den steten Wettbewerb zwischen Heiligtümern geprägt waren, um somit die größtmögliche Anzahl an Pilgern anzuziehen.
Ein zweites Thema stellte die klösterliche Mobilität dar. Trotz des Zwangs der stabilitas loci wurden die im Kloster lebenden Männer und Frauen von Anfang an zum Austausch mit anderen Gemeinschaften aufgefordert. LENE TEN HAAF (Leuven) ging der Verbreitung von Texten der Augustinerregel im 9. Jahrhundert nach. Einige der Manuskripte wurden wohl in einem erzieherischen Kontext verwendet, möglicherweise sogar aus dem Wunsch heraus, die Lebensweise der Kanoniker zu reformieren. Dies erklärt vielleicht, wieso die Kirchenprovinz Reims eine Vorreiterrolle bei der Auswahl der Augustinerregel als normativen Text im 11. Jahrhundert gespielt hat. QIANYU WANG (Gent) hielt sich ebenfalls im 11. Jahrhundert auf und zeigte, wie die Entwicklung des während der Abtsweihe geleisteten Treueeids gegenüber dem Bischof eng mit den lokalen Beziehungen zwischen einzelnen (Erz-)Bischöfen und ihren klösterlichen Gemeinschaften sowie mit spezifischen, zeitlich begrenzten Umständen verbunden war. So versuchten die Diözesanhirten ein erhebliches Maß an Kontrolle über diese Einrichtungen zu erhalten. Schließlich bot ELISE BIDON (Nancy – Namur) einen Einblick in die vielfältigen und komplexen Interaktionen zwischen den Klostergemeinschaften an der Sprachgrenze des Herzogtums Lothringen und beleuchtete die historische Entwicklung, die Einflüsse der Mönchsorden und die Auswirkungen sprachlicher Faktoren auf diese Interaktionen.
Der Maas-Rhein-Raum war im Mittelalter von einer außergewöhnlichen Dichte an Städten gekennzeichnet. HANNA SCHÄFER (Erlangen) ging der Frage nach, welche Arten von Austausch es zwischen den Bürgern dieser Städte unterschiedlicher Sprach-, Kultur-, Politik- und Wirtschaftsräume gab. Im spätmittelalterlichen Metz und Trier darf, so stellte sie dar, jenseits der politischen Sphäre von einem regelmäßigen wirtschaftlichen und damit einhergehend auch sozialen Austausch ausgegangen werden. Dabei versuchte sie, soziale und kulturelle Momente des Austauschs besonders zu berücksichtigen. Mithilfe der digitalen Netzwerkanalyse veranschaulichte AMÉLIE MARINEAU-PELLETIER (Paris) die Heterogenität der Metzer Führungsgruppen – die sogenannten paraiges – im 15. und 16. Jahrhundert: Dabei handelt es sich in erster Linie um ein System sozialer Herrschaft, nicht um eine geschlossene soziale Gruppe. Die Heiratsstrategien der paraiges waren intern sehr unterschiedlich und wechselten je nach politischer Lage. Besonders in Krisenzeiten intensivierte sich die Gruppenidentität, was sich auch durch eine verstärkt endogame Heiratspolitik auszeichnete.
Wie die städtischen Eliten des späten Mittelalters schon zeigten, ist Mobilität sozial und geographisch auch immer mit Macht sowie der Verstärkung der eigenen Machtposition verbunden. CAMILLE RUTSAERT (Louvain-la-Neuve – Brüssel) wies darauf hin, wie die Reisepolitik der Herzogin Johanna von Brabant (1322–1406) von ihrem ehelichen und politischen Status abhängig war: Als regierende Witwe war sie mobiler als zuvor. Trotzdem standen ihre Reisen auch immer in Zusammenhang mit Freizeit, Religiosität und bevorzugten Wohnorten, auch wenn sich die Stadt Brüssel in ihrer Regierungszeit unbestreitbar als Hauptstadt des Herzogtums herausstellte. CAROLINE GALLA (Aachen) zeigte, wie die bischöflichen Vögte des Hespengau im Fürstbistum Lüttich des 11. und 12. Jahrhunderts versuchten, ihre Macht auszuweiten, indem sie einen festen Beziehungspunkt (die Burg Waremme) in der von ihnen verwalteten Region etablierten, sich andererseits in Bezug auf ihre Aufgaben immer mehr auf die defensio statt auf die Rechtssprache konzentrierten. Dadurch gewannen sie in dieser Periode progressiv an Macht und Prestige, auch wenn die moderne Geschichtsschreibung dies häufig in einem Narrativ des Zerfalls dargestellt hat.
All diese Beiträge konnten aufzeigen, wie sehr der Maas-Rhein-Raum von Mobilität und Austausch geprägt war. Die beiden namensgebenden Flüsse waren vielmehr Vektoren der Mobilität als Grenzen. Vor allem im Spätmittelalter scheint die Sprachgrenze schwieriger überwindbar zu sein, besonders im Süden der betrachteten Region. Wenn auch nicht ganz neu, tritt zudem die Bedeutung von kirchlichen Einrichtungen für (überlieferte) Mobilität und Austausch hervor. Auch wenn das Mittelalter lange Zeit von Vorstellungen einer latenten Immobilität geprägt gewesen ist, erscheint es hier deutlich als Epoche der Mobilität, egal ob man den Anfang oder das Ende des Mittelalters betrachtet. Genau diese Mobilität hat die Identität der Menschen und Institutionen dieser Region häufig geprägt und hat es erlaubt, deren Einfluss und Macht zu festigen und, in manchen Fällen, weiter auszubauen.
Konferenzübersicht:
Jean-François Nieus (Namur): Begrüßung
Robin Moens (Aachen – Namur), Matthias Rozein (Lüttich), Éléonore Venturelli (Louvain-la-Neuve – Poitiers): Einführung
Matthieu Pignot (Namur): Impulsvortrag „Augustine’s pastoral works in circulation across the Carolingian world in the ninth and tenth centuries“
Sektion „Literarischer Austausch und Identitätsbildung“
Mod.: Matthias Rozein (Lüttich)
Catherine Rosbrook (Gent): What Maketh the Monk? Reflections and Debates on Monastic Identity in Central-Medieval Lotharingia
Johannes Büge (Heidelberg): Tituli zwischen Rhein und Maas. Literarische Innovation und Rezeption der Poesie des Frühmittelalters
Sektion „Monastische Mobilität“
Mod.: Eléonore Venturelli (Louvain-la-Neuve – Poitiers)
Lene Ten Haaf (Leuven): Manuscripts on the Move: The Exchange of Normative Texts Supporting the vita canonical in the Church Province of Reims (9th–12th Century)
Qianyu Wang (Gent): The Earliest Cases of Abbatial Profession of Obedience in the Ordination: A Comparative Study of Northern France and Burgundy
Elise Bidon (Nancy – Namur): Entre prière et échanges. Les interactions entre communautés monastiques à la frontière linguistique du duché de Lorraine (XIIe–XVe s.)
Bastien Dubuisson (Namur): Abendvortrag „Une culture hagiographique en transmission. Textes, manuscrits et hagiographes à Trèves (ca. 1450–ca. 1520)“
Sektion „Städtischer Austausch“
Mod.: Antoine Lazzari (Luxemburg)
Amélie Marineau-Pelletier (Paris): Metz, les paraiges et l’aristocratie lorraine (1350–1550). Les stratégies matrimoniales au prisme des humanités numériques
Hanna Schäfer (Erlangen): Interurbaner Kontakt und Austausch in der spätmittelalterlichen Moselregion: Fallstudien aus Trierer und Metzer Quellen des 15. Jahrhunderts
Sektion „Mobilität und Macht“
Mod.: Robin Moens (Aachen – Namur)
Camille Rutsaert (Louvain-la-Neuve – Brüssel): Jeanne de Brabant (1322–1406) à travers ses terres. 84 ans de voyages dans les principautés des Pays-Bas
Caroline Galla (Aachen): Die Etablierung der Vogtei vom Hespengau im Hochmittelalter (Ende 10.–12. Jahrhundert)
Lina Schröder (Salzburg): Schlussbetrachtung