Der von den Historiker:innen mit Begeisterung aufgenommene spatial turn hat dazu beigetragen, neue Wege zur Erforschung des Raumes zu eröffnen und diesen im Fokus der Forschungsfragen stärker einzubeziehen. Seine Auswirkungen auf den Stellenwert von Karten in der französischen und deutschen Historiographie sind jedoch kontrastreich. Während in Frankreich der Einsatz von Karten als heuristisches Handwerkszeug schon lange zur allgemeinen Praxis der Geschichtsschreibung gehört, auch weil die Geographie dort einen wichtigen Platz im Studium einnimmt, hat sich das erneuerte Interesse am Raum in Deutschland vor allem in einer Zunahme von Studien über historische Karten als Quellen niedergeschlagen. Die Nutzung von Karten als Beobachtungs-, Experimentier- und Demonstrationsinstrumente ist hier nach wie vor eher die Ausnahme. Ziel dieses Workshops für Nachwuchswissenschaftler:innen war es deshalb, die Verwendung von Karten als Quellen und experimentelle Mittel in der methodischen Arbeit und in der Argumentation der Historiker:innen zu erforschen und zu fördern.
Nach Begrüßungsworten der Organisatoren Johannes Paulmann (Mainz) und Falk Bretschneider (Paris/Frankfurt) eröffnete CHRISTOPHE DUHAMELLE (Paris) die erste Sektion zur Arbeit mit Karten mit einem Impulsreferat über die unterschiedliche Stellung der Kartographie in der deutschen und französischen Geschichtswissenschaft. Historische Gründe spielen dabei eine wichtige Rolle: Während die Kartenarbeit in Deutschland lange Misstrauen wegen ihres Missbrauchs durch die Kulturraumforschung im Dienst der nationalsozialistischen Territorialansprüche erregte, erlangte sie in Frankreich, insbesondere in der Folge der Annales-Schule, einen hohen Stellenwert als Mittel zur Visualisierung statistischer Daten und zur historischen Argumentation. Solche Gegensätze zwischen beiden nationalen Historiographien seien auch das Ergebnis struktureller Faktoren wie die Ausbildung der Historiker:innen, institutionelle Beziehungen mit den Kartograph:innen und nicht zuletzt die Organisation der Lehrstühle und der Archive. Diese spiegeln sich letztendlich in der Konzeption historischer Karten wider, die in Deutschland eher auf die detaillierte Darstellung räumlicher Daten im Rahmen der Landesgeschichte und in Frankreich eher auf die Beweisführung im Rahmen begrenzter Forschungsobjekte auf nationaler Ebene abzielt.
JONAS BECHTOLD und MARION ROMBERG (Bonn) stellten die Kartensammlung des Lehrstuhls für Rheinische Geschichte in Bonn vor, die im Keller des Instituts etwa 2.000 Dokumente umfasst, darunter Altkarten, aber auch historische Atlanten, die die Bedeutung der Kartographie in der Kulturraumforschung am Institut für geschichtliche Landeskunde zu Beginn des 20. Jahrhunderts belegen. Die Referent:innen zeigten die Herausforderungen auf, die mit der Aufbereitung dieser Sammlung für eine öffentliche Nutzung verbunden sind, und insbesondere die Notwendigkeit, den ursprünglichen Kontext der oft ungeordneten Dokumente zu rekonstruieren.
BENJAMIN FURST (Mulhouse) kam auf die Herausforderungen des zweisprachigen Atlas zur Geschichte des Oberrheins zurück, der 2019 veröffentlicht wurde und dessen Anliegen es ist, durch die Kartierung eines grenzüberschreitenden Raumes, der sich nicht auf den Rhein beschränkt, neue Fragen zu stellen. Er erläuterte die Schwierigkeiten bei der Zusammenstellung eines ausgewogenen Teams von französischen und deutschen Spezialist:innen sowie bei der Verknüpfung und Harmonisierung oft unterschiedlicher Daten auf beiden Seiten des Rheins. Gleichzeitig betonte er den Wert des Projekts, das insbesondere wertvolle Erkenntnisse über die Konstruktion und Repräsentation von Grenzen (Linien? Punkte? Zonen?) hervorgebracht hat.
JESSICA MARTIN (Paris) befasste sich mit dem Laboratoire de cartographie et de graphique und seiner Rolle innerhalb der Annales-Schule an der 6. Sektion der École Pratique des Hautes Études (später EHESS) in Paris. Mit der Untersuchung der Arbeitspraktiken und der Korrespondenzen im Vorfeld der Kartenproduktion zeigte sie, dass das Verhältnis zwischen historischer Forschung und Kartographie nicht konfliktlos war. Denn von den Historiker:innen wurde die Herstellung von Karten lange als bloße Illustration ihrer Forschungsergebnisse betrachtet, während die Kartograph:innen des Labors sie bereits als heuristisches Werkzeug und als Mittel der Beobachtung ansahen.
Dieses erste Panel bot sehr konkrete Einblicke in die Archäologie der kartographischen Arbeit und die Bedeutung der verschiedenen intellektuellen, institutionellen und sozialen Kontexte, in denen sie stattfindet. Die Kartenarbeit trägt immer wieder dazu bei, Entscheidungen zu treffen, die anregende methodologische Fragen zur Raumwahrnehmung stellen und in die historische Diskussion einbezogen werden können.
Zu Beginn des zweiten Panels untersuchte UTE SCHNEIDER (Duisburg-Essen) die Beziehung zwischen Text und Bildern und die Rolle der Karten in der historischen Erzählung. Ausgehend von der Feststellung, dass Karten als Quellen in der Geschichtswissenschaft immer noch zu wenig genutzt werden, betonte sie die semantische Reichhaltigkeit dieser visuellen Darstellungen, die immer auch von breiteren diskursiven, materiellen und ideologischen Kontexten zeugen und somit Zugang zu zeitgenössischem Wissen bieten. Das alles sind wichtige Gründe, um sie stärker in historische Narrative zu integrieren.
BERHE FESSEHA (Paris/Mekelle) analysierte die Kenntnisse des Geographen August Petermann, der 1869 mehrere Karten auf der Basis der offiziellen Karte der britischen Militärexpedition in Äthiopien erstellt hatte. Mit der detaillierten Beschreibung der Entstehungsgeschichte dieser Karten konnte er zeigen, dass sie das Ergebnis von Korrespondenzen, Berichten und anderen Formen der Wissenszirkulation waren, welche die gelehrten Beziehungen und die kollektive Beteiligung an der Erstellung solcher Dokumente belegen.
MATTI LEPRÊTRE (Paris) behandelte anhand zeitgenössischer Karten und Umfragen die methodologischen Probleme bei der Kartierung der Produktionsstätten von Heilpflanzen in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die kartographische Arbeit bietet in diesem Fall die Gelegenheit, über die Produktionsbedingungen räumlicher Daten und deren Lücken nachzudenken, wobei Leprêtre betonte, dass diese die Kartenarbeit weniger behinderten als zu neuen Fragen anregten.
ANDREA POJER (Trento) beschäftigte sich mit Diskursen über den Bergraum der Dolomiten. Grundlage seiner Ausführungen waren Darstellungen des Bergmassivs auf Karten des 16. und 17. Jahrhunderts; die meisten von ihnen wurden anlässlich von Grenzkonflikten erstellt und erlauben deshalb eine Untersuchung der räumlichen Praktiken der lokalen Akteure. Pojer demonstrierte, dass die Morphologie der Berge in dieser Gegend bereits vor dem Ende des 18. Jahrhunderts und vor den Anfängen des Alpinismus im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, da sie als Orientierungs- und Bezugspunkt für die Platzierung von Grenzmarkierungen diente.
RAPHAËL TOURTET (Nancy/Metz) widmete sich der Frage, wie man historische Karten nutzen kann, um die Konstruktion protestantischer Beziehungsräume im Elsass im 17. und 18. Jahrhundert zu analysieren. Die Karte als heuristisches Instrument ermöglichte es ihm, die verschiedenen Logiken der Solidarität zwischen Protestanten auszuloten und insbesondere die räumliche Organisation dieser Beziehungen zu beobachten, die sich bei den Lutheranern vor allem auf regionaler Ebene abspielten, bei den Reformierten auch einen überregionalen Raum einbezogen. Dabei zeigte Tourtet jedoch, dass auch andere Formen der Visualisierung, wie z. B. Schemata, wichtige Lösungen für die Analyse historischer Daten bereitstellen können.
Der erste Tag des Workshops endete mit einer Podiumsdiskussion zu anthropologischen Perspektiven auf die Kartographie. HANS-PETER HAHN (Frankfurt am Main) hinterfragte die Vorstellungswelt der Karten, denen in der westlichen Tradition oft eine führende Rolle bei der Enthüllung verborgener Wahrheiten zugewiesen wurde, und vertrat die Auffassung, kartographische Produktionen besäßen eine Tendenz zur Organisation und Hierarchisierung und damit zur Reproduktion von bestehenden Herrschaftsverhältnissen. Ihre emotionale und ästhetische Kraft sollte seiner Meinung nach nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in Wirklichkeit nur ein Wissen unter vielen sind und immer einen situierten Standpunkt ausdrücken.
Eine andere Perspektive nahm EMMANUEL DÉSVEAUX (Paris) ein, der über die Abkehr von der Kartographie in neueren anthropologischen Studien nachdachte. Anhand mehrerer Arbeiten über die indianische Bevölkerung Nordamerikas und über Siedlungen in den Alpen zeigte er, dass Karten nicht nur als Analyseinstrumente, sondern auch als Inspirationsquelle für die Fragestellungen von Forscher:innen dienen können. Dabei plädierte er dafür, in anthropologischen Arbeiten wieder stärker das Augenmerk auf die räumlichen Dimensionen der untersuchten Phänomene zu richten und die Raumerfahrungen der Akteur:innen ernst zu nehmen.
LUCA SCHOLZ (Manchester) eröffnete am zweiten Tag des Workshops die dritte Sektion über die Herstellung von Karten mit einem Impulsreferat über kartographische Darstellungsweisen in der Geschichtswissenschaft. Anhand zahlreicher Beispiele vor allem aus britischen und amerikanischen Forschungsarbeiten zeigte er unterschiedliche Argumentationsweisen mit Karten auf, etwa die Darstellung der räumlichen Dimensionen emotionaler Erfahrungen oder Möglichkeiten der Analyse von Raumbezügen historischer Akteur:innen durch topologische statt topographischer Visualisierungen. Solche innovativen Emic-Karten machten es möglich, zum Beispiel Erfahrungen wie Gewitter in der Frühen Neuzeit neu zu lesen und durch ihre kartographische Erfassung besser zu verstehen.
In dieselbe Richtung zielte der Vortrag von ÉMILIEN ARNAUD (Paris) und HIPPOLYTE SOUVAY (Freiburg) über Kartogramme und sogenannte Anamorphosekarten, die die geographische Gestalt eines Territoriums in Abhängigkeit von bestimmten Objekten (zum Beispiel der Geschwindigkeit, mit der Informationen zirkulieren) verändern. Am Beispiel der Einwanderung nach Straßburg zwischen 1500 und 1509 und der ungleichen Verbreitungsgeschwindigkeit von Gesetzen in Frankreich während des Direktoriums (1795-1798) unterstrichen beide die Wirksamkeit dieser Darstellungsform.
YULIIA KONIVA (Rouen) untersuchte, wie sich die Eingliederung der Sloboda-Ukraine in das Russische Reich ab 1765 auf die Organisation des Straßennetzes auswirkte. Anhand von historischen Karten, die in einem Geographischen Informationssystem (GIS) georeferenziert wurden, stellte sie detailliert die zeitgenössische Vielfalt von Straßen und ihre kommunikative Funktion dar.
MAUDE WILLIAMS (Saarbrücken) stellte ein Projekt vor, mit dessen Hilfe zukünftig Karten in die musealen Präsentationen der Maginot- und Siegfried-Linien integriert werden sollen. Sie zeigte die Herausforderungen auf, die damit verbunden sind, wies aber gleichzeitig auf die zahlreichen Potentiale einer solchen Darstellungsform hin, die es erlaubt, allgemeine Daten mit Ego-Dokumenten zu verknüpfen, Kriegserfahrungen interaktiv darzustellen und sie gleichzeitig in die Umweltgeschichte der jeweiligen Orte einzubinden.
NATHANAËL VALDMAN (Paris) interessierte sich schließlich für die Möglichkeiten, die die kartographische Arbeit mit einem GIS eröffnet, um die Straßenpraxis der Fürsten im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich anhand der Reiseroutenrollen des Kurfürsten August von Sachsen (1553-1586) zu untersuchen. Das Experimentieren mit verschiedenen kartographischen Darstellungen macht in diesem Fall die fließende Verbindung zwischen der Nutzung der Hauptstraßen und der Praxis von sekundären und lokalen Wegen anschaulich und stellt methodische Fragen zum Umgang mit einem besonderen Datenmaterial. Intensiver ging Valdman auch auf die Entstehungsgeschichte dieser außergewöhnlichen Dokumente ein.
Die verschiedenen Beiträge und die anregenden Diskussionen des Workshops haben deutlich werden lassen, wie vielfältig die Einsatzmöglichkeiten von Karten sind und wie hoch ihr heuristischer Wert für die historiographische Arbeit ist. Dabei zeigen Formate wie die Emic-Visualisierungen, dass Kartenarbeit nicht nur eine Form der experimentellen Visualisierung von Raumbezügen ist, sondern auch Inspirationsquelle für Historiker:innen sein kann, um neue Blicke auf die Geschichte zu gewinnen. Die Tagung bot deshalb auch eine Gelegenheit, um neu über die Stellung und den Einsatz von historischen Karten, Geschichtskarten und Geographischen Informationssystemen bei der historischen Erzählung nachzudenken. Dazu gehörte auch eine Thematisierung der in Deutschland und Frankreich unterschiedlichen Beziehungen zwischen Historiker:innen und Kartograph:innen sowie des Verhältnisses zu den technischen Voraussetzungen der Kartenarbeit im Forschungsprozess. Schließlich regte der Workshop zu einer Horizonterweiterung an: Er verdeutlichte nicht nur die Fruchtbarkeit des Austauschs zwischen französischer und deutscher Geschichtswissenschaft, sondern machte auch auf die Aktualität und die Dynamik angloamerikanischer Forschungen und Zeitschriften im Bereich der digitalen Geschichtswissenschaft aufmerksam. Auch hier bieten sich Historiker:innen heute neue Möglichkeiten zur Nutzung von GIS und zur Visualisierung historischer Daten.
Konferenzübersicht:
Johannes Paulmann (Mainz) und Falk Bretschneider (Frankfurt am Main/Paris): Einführung
1. Sektion: Mit Karten arbeiten
Christophe Duhamelle (Paris): Cartes et sciences historiques: une perspective franco-allemande
Jonas Bechtold (Bonn) / Marion Romberg (Bonn): Kartographische Rheinlandforschung in Bonn. Bestand, Tradition, Neu-Erschließung
Benjamin Furst (Mulhouse): De l’Alsace au Rhin supérieur: les enjeux d’un atlas historique transfrontalier
Jessica Martin (Paris): Un laboratoire de cartographie et de graphique (LG) au service de la recherche historique ou des historiens? Le LG à la VIe section de l’EPHE/EHESS (1954-2000)
2. Sektion: Über Karten arbeiten
Ute Schneider (Duisburg-Essen): Ein Blick reicht niemals aus – oder – jede Karte braucht mehr als 1000 Worte
Berhe Fesseha (Paris/Mekelle): August Petermann’s 1869 Reproduced Maps of the Official Map of the British Expedition to Abyssinia
Matti Leprêtre (Paris): Connected Workscapes: Mapping the Delocalization of Medicinal Plants Cultivation and Harvesting in the German Empire, 1884-1945
Andrea Pojer (Trento): Vor der Entdeckung der Dolomiten: kartographische Wahrnehmungsperspektiven auf eine alpine Grenzlandschaft
Raphaël Tourtet (Nancy-Metz): Représenter les espaces relationnels protestants en Alsace (XVIIe-XVIIIe siècles)
Podiumsdiskussion
Emmanuel Désveaux (Paris) / Hans-Peter Hahn (Frankfurt am Main): Anthropologische Blicke auf die Kartographie
3. Sektion: Karten machen
Luca Scholz (Manchester): Kartographisches Argumentieren und digitale Geschichtswissenschaft
Émilien Arnaud (Paris) / Hippolyte Souvay (Freiburg): Shedding light on history through spatial distortion: Creating cartograms to display quantitative historical data
Yuliia Koniva (Rouen): GIS and its role in studying roads in Sloboda Ukraine in the second part of the 18th century
Maude Williams (Saarbrücken): Deutsche-französische Grenzen und Kriegserfahrungen während der „drôle de guerre“ (1939-1940): Ein Plädoyer für den Einsatz von Historical GIS in Digital Public History
Nathanaël Valdman (Paris): Les itinéraires princiers à l’épreuve de l’expérimentation cartographique (Saint-Empire, XVIe-XVIIe siècles)