Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde lange als Geschichte von Fortschritten und Errungenschaften geschrieben. Auf Axel Schildts „Ankunft im Westen“ folgten Erzählungen, die vom „langen Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) bis zur „geglückten Demokratie“ (Edgar Wolfrum) reichen. Alle diese Gesamtdarstellungen deuteten die bundesdeutsche Geschichte affirmativ als eine der Liberalisierung, Pluralisierung und Stabilisierung. An ihre Seite traten einflussreiche Zäsurbeschreibungen wie etwa die Periodisierung „Nach dem Boom“ (Lutz Raphael/Anselm Doering-Manteuffel), die auch aufgrund ihres Erscheinens in der zeitgenössischen Finanzkrise 2008 eine besondere Resonanz entfaltete. Mittlerweile haben neue empirische Studien eine Ambivalenz und Vielfalt betont, die sich kaum mehr in die Formel einer Erzählung „der“ Bundesrepublik pressen lässt. Dass Deutungen der bundesrepublikanischen Geschichte zudem auch immer kritisch vor dem Hintergrund gegenwärtiger Verhältnisse und Krisenwahrnehmungen verhandelt werden, lässt sich gerade an den Jubiläen der Bundesrepublik ablesen. Umgekehrt eröffnet der Versuch einer bundesrepublikanischen Narrativierung bereits ein facettenreiches Panoptikum auf das gegenwärtige Selbstverständnis einer kritischen Zeitgeschichte.
Eine Fachtagung an der Universität Tübingen hat dieses Vorhaben anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2024 umgesetzt. Dass mit Claudia Gatzka und Sonja Levsen zwei namenhafte Vertreterinnen des Fachs zu einer Klärung der Frage, was nun die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ausmache, einluden, ist angesichts des zuvor meist männlich geprägten Blickwinkels auf diese Frage Ausdruck eines Wandels. Gleiches gilt für das paritätisch und international besetzte Tagungsprogramm.
Zu Beginn präsentierten SONJA LEVSEN (Tübingen) und CLAUDIA GATZKA (Freiburg) ihre Ausgangsüberlegungen: Anstatt erneut die Geschichte der Bundesrepublik zu bilanzieren, solle mit der Tagung ein Dialog „zwischen Empirie und Meistererzählung“ angestoßen werden – anhand folgender, analyseleitender Fragen:
1. Wie steht es um die „Meistererzählung Bundesrepublik“ angesichts neuer Forschungserkenntnisse?
2. Welche Vergangenheiten prägten die Bundesrepublik?
3. Welche räumlichen Bezüge tragen zum Verständnis der Bundesrepublik bei?
4. Welche Rolle spielen Strukturen und Akteure?
5. Welche Potenziale bieten neue Zugänge und Methoden?
CAMILO ERLICHMAN (Maastricht) beleuchtete im ersten Panel die Besatzungszeit. Deren historiographische Einordnung habe sich von einer Phase des Übergangs und der Demokratisierung über Impulse zur „Provinzialisierung“ zu einer Geschichte globaler Verflechtungen und gemeinsamer europäischer Nachkriegserfahrungen entwickelt. Über Aushandlungsprozesse zwischen Akteuren und Alltagspraktiken sei so der Fokus auf eine in sich geschlossene Phase aufgebrochen worden. Im zweiten Impuls zur Vereinigungsgesellschaft hob FRANKA MAUBACH (Berlin) die zugehörigen zählebigen und reaktivierbaren Ost-West-Diskurse hervor. Umso wichtiger sei es daher, in der Forschung den eigenen Blickwinkel im Sinne einer biografischen Standortbenennung deutlich zu machen. Mit Blick auf die Transformationsgesellschaft plädierte Maubach für die Beschreibung als eine Krisengeschichte, die durch Teilaspekte wie Migration, Wohnen oder Gewalt neue Impulse erhalte.
In ihrem Kommentar betonte MARIE-BÉNÉDICTE VINCENT (Franche-Comté) die Parallelen beider Papers: erstens die Betonung von Zeitlichkeiten in Form von Zäsuren und Kontinuitäten; zweitens der Zugang über die Mikroebene; drittens die Zeitgeschichte als Epoche der Mitlebenden; und viertens die räumlich-vergleichende Perspektive (national-europäisch/Ost-West). In der folgenden Diskussion wurden vor allem die verwendeten Begrifflichkeiten (etwa der „Vereinigungsgesellschaft“), die Dynamik beider Transitionserfahrungen und ihre Bedeutung für gemeinsame Räume und Gruppenzusammenhänge debattiert.
Im zweiten Panel präsentierte ANDREW PORT (Detroit) einen Blick von außen auf die deutsche Vergangenheitsbewältigung als „a success story with caveats“. Dabei warb er für alternative Zäsuren: Statt 1968 wirkten die späten 1950er-Jahre als Beginn der umfassenden Thematisierung der NS-Zeit; die 1980er-Jahre als Zeit eines viktimisierenden backlash. Im zweiten Vortrag des Panels plädierte DOMINIK RIGOLL (Potsdam) für eine Neubestimmung des Begriffs Nationalismus. Dieser solle einer materialistischen Definition folgen, um so nationalistisches Handeln als „eine Form der Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung, die auf Schaffung, Förderung und Verteidigung einer Nation oder eines Volkes abzielt“, zu begreifen. Nationalismus erlaube so die Analyse verschiedener politischer Phänomene, die unterschiedliche Phasen, Strukturen und Akteure der bundesrepublikanischen Geschichte charakterisieren.
CHRISTINA MORINA (Bielefeld) unterstrich in ihrem Kommentar die komplementären Nachkriegserzählungen der Referenten als „never again“ – „ever again“. Kritisch sei zu überprüfen, ob beim vorgestellten Nationalismuskonzept die Vorstellung von partiellen Anteilen überhaupt sinnvoll sei, da nationale Einstellungen omnipräsent sind – wann werden diese aktiviert oder virulent? In der anschließenden Diskussion wurde der normative Gehalt einer solchen Nationalismusdefinition debattiert und die Bedeutung von Vergangenheitsbewältigung und Nationalismus für die bundesrepublikanische Demokratisierung in den Blick genommen.
Im folgenden Panel setzte BENNO GAMMERL (Florenz) an die Stelle eines Erfolgsnarrativs der kontinuierlichen sexuellen Befreiung die Geschichte der Bundesrepublik als eine der „Gleichzeitigkeit von Stigma, Emanzipation und Normalität“. Besonders für die 1980er-Jahre würde dies mit der Gleichzeitigkeit von Homophobie, Aidskrise und der wachsenden Zusammenarbeit zwischen Bewegungen und staatlichen Behörden deutlich. JANE FREELAND (London) widmete sich in ihrem Vortrag dem Wechselspiel von Kontinuität und Wandel. Die damit verbundene Gleichzeitigkeit unterschiedlicher normativer Rahmungen und Ordnungsvorstellungen beziehe sich nicht nur auf die Geschlechterrollen selbst, sondern ermögliche auch einen veränderten Blick auf Wandlungsprozesse in der Bundesrepublik durch die Perspektive gender. Solche Wechselspiele ließen sich nicht nur institutionell analysieren, etwa mit Blick auf Familienrecht und Verfassung, sondern auch geographisch zwischen Bundesrepublik und DDR.
Die Kommentatorin ISABEL HEINEMANN (Bayreuth) wies auf die Bedeutung der Kategorien sex und gender für die kritische Überprüfung politikhistorischer Periodisierungen hin. Lineare Erfolgsgeschichten würden angesichts von Differenz, Gleichzeitigkeit und Ambivalenz brüchig, neue Akteursgruppen und normative Rahmungen sichtbarer. Dies wurde auch in der anschließenden Diskussion angesichts des häufig normativ besetzten Systemvergleichs DDR-Bundesrepublik betont. Statt wertender Vergleiche könnte ein gesamtdeutscher Blick Verflechtungen ebenso wie zugrundeliegende Normen und Marker von Veränderung offenlegen.
Im anschließenden Panel präsentierte LAUREN STOKES (Chicago) zwei gängige, gegensätzliche Erzählungen von Migration für die bundesrepublikanische Geschichte: einerseits die einer positiven Diversifizierung und Integration und andererseits die einer Ausgrenzung und offenem Rassismus. Erst seit kurzem wird über notwendige statistische Aufarbeitungen, aber auch das Weiten des Feldes für Phänomene wie Mobilität als Bewegungsgeschichte diskutiert. Erfahrungsräume von Migration zeigte auch NADJA KLOPPROGGE (Tübingen) zur Kategorie race auf. Ausgehend von ihren Arbeiten zu afroamerikanischen Soldaten in der Bundesrepublik schuf sie Anknüpfungspunkte für eine transatlantische Betrachtung. Aus dieser Perspektive lasse sich erarbeiten, wie die Kategorie race im Kalten Krieg strukturierend wirkte und auch innerhalb vornehmlich homogen gedachter Akteursgruppen zu Differenz führte.
In ihrem Kommentar verknüpfte MARIA ALEXOPOULOU (Mannheim) beide Vorträge, indem sie auf die Bedeutung einer Inklusion der Kategorie race in die Beschäftigung mit Migration verwies. Vorstellungen von Homogenität oder Fremdheit seien rassistisch geprägt; institutionelle wie staatliche Praktiken gegenüber migrantischen Akteuren müssten daher bis in die 1990er Jahre auch als biopolitische Praktiken verstanden werden. In der anschließenden Diskussion wurde diese Perspektiverweiterung um intersektionale und multidirektionale Betrachtungen ergänzt. Kritisch diskutiert wurde zudem die Frage der Repräsentanz und Diversität innerhalb der Historiographie: Muss die Analyse migrantischer Geschichte über eine eigene biographische Standortbestimmung erfolgen? Inwiefern reifiziert Migrationsgeschichte Exklusion und gar Rassifizierung, wenn sie die statistische Kategorie des Migrantischen unkritisch übernimmt?
Im folgenden Panel zeigte FELIX RÖMER (Berlin) auf, dass die Perspektivierung der sozialen Ungleichheit in der Zeitgeschichte lange allenfalls als „add-on“, nicht aber als zentraler Zugriff der Analyse betrachtet wurde. Erst seit den 2010er Jahren gebe es eine zunehmende Verschränkung von materieller und sozialer Dimension, die um ideengeschichtliche Aspekte wie Erfahrungsräume von Differenz ergänzt würde. Die von Römer als ein Teil der Geschichte von sozialer Ungleichheit – nämlich als Bewegungsgeschichte – benannte Linke griff DAVID SPREEN (Harvard) auf. Dabei verdeutlichte er, dass anstelle der „klassischen“ Erzählung von 1968 für die Bundesrepublik eine Spannbreite linker Bewegungen und Akteure zu untersuchen sei, die sich hinsichtlich Programmatiken, Politiken und Praktiken deutlich unterschieden. Während 1968 gerne als Zäsur eines Demokratisierungsschubs genannt werde, lohne der Blick auf die 1980er-Jahre als Zeit der linken globalen Entgrenzung (auch mit Blick auf ähnlichen Aktivismus in der DDR).
DAVID BEBNOWSKI (München) wies in seinem Kommentar auf die Bedeutung der alten Linken für die Geschichte von Demokratisierung und sozialer Ungleichheit in der Bundesrepublik hin. Die symbolische Produktion von Gleichheit in beiden deutschen Staaten wurde in der anschließenden Diskussion aufgegriffen. Dabei wurde besonders die Wissensproduktion staatlicher Institutionen debattiert, die im Falle möglicher internationaler Vergleiche von Ungleichheit lange eine „epistemische Diskonnektivität“ (Römer) aufwies und bis zur Stärkung europäischer Analyseräume durch die EU vornehmlich Binnenanalysen betrieb.
Da Kerstin Brückweh leider absagen musste, trug allein WINFRIED SÜß (Potsdam) im sechsten Panel vor. Besonders am Wandel von Arbeitswelten hätten sich in den letzten Jahrzehnten wichtige Perspektiven auf die Zeitgeschichte eröffnet; von bereits erwähnten Perspektiven „nach dem Boom“ hin zu einem vertieften Blick auf die 1980er-Jahre als Transitionsphase unter dem Eindruck von Massenarbeitslosigkeit und wachsender sozialer Ungleichheit. Während frühere Forschungen die Geschichte der Arbeit als strukturierendes Merkmal einer von Wirtschaftsaufschwung geprägten bundesdeutschen Geschichte genutzt hätten, dekonstruierten neuere Analysen – etwa der global labour history – Beziehungsebenen in einer männlich geprägten Fabrikwelt.
CHRISTIANE REINECKE (Flensburg) verglich kommentierend die beiden Forschungsfelder Wohnen und Arbeiten. Dabei betonte sie die Erwartungen und Versprechen, die von beiden Sektoren in der bundesdeutschen Gesellschaft ausgingen, und die Dringlichkeit transnationaler Analysen. In der anschließenden Diskussion fiel auf Basis dessen ein besonderes Licht auf die 1980er-Jahre als zur Gegenwart hin offene Phase. Mit der Arbeitswelt verknüpfte Analysezugriffe wie Migration, class, aber auch soziale Ungleichheit und Mobilität ermöglichten veränderte Periodisierungen (etwa der Zäsur 1989/90) und Historisierungen (etwa des Sozialstaats).
Im folgenden Panel verdeutlichte ROMAN KÖSTER (München) den Bedeutungszuwachs des Themas „Umwelt“ in der bundesdeutschen Geschichte und unterschied drei Zugriffswege: die Bewegungsgeschichte, die Körpergeschichte und die Geschichte des Wissens. Über die Analyse von Umweltfragen lasse sich zum einen über gesellschaftlichen Wandel und Wertewandel nachdenken, zum anderen würden Macht- und Strukturfragen auf neue Weise formuliert. SINA FABIAN (Berlin) erhellte anhand verschiedener bundesdeutscher Stationen die Symbolkraft des Autos für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse. Das Autofahren und -besitzen verdeutliche ein dezidiert deutsches, von patriarchalen Strukturen und Freiheitsvorstellungen geprägtes Leitbild, das erst unter dem Eindruck von Ölpreiskrisen, Sicherheits- und Umweltbedenken in den 1970er-Jahren einer Prüfung unterzogen wurde.
In seinem Kommentar hob RÜDIGER GRAF (Potsdam) die 1970er-Jahre als Epoche der Wissensbildung für beide Bereiche, Umwelt und Auto, hervor. Die Sorge über eine Endlichkeit der Ressourcen produzierte damals Überlegungen zu einem environmental management state, wohingegen die heutige Beschäftigung mit Ressourcen- und Umweltfragen zu fundamentalen Erkenntnissen einer planetaren Ausbeutung durch eine Überflussgesellschaft führe. Diese Erkenntnisse riefen wiederum veränderte Historisierungen hervor: Müssten wir uns der bundesdeutschen Geschichte und ihrem Konsum- und Mobilitätsverhalten nicht vielmehr kritisch aus der Perspektive des Anthropozäns nähern? In der anschließenden Diskussion wurde dieses Angebot zum radikalen reframing der bundesdeutschen Geschichte lebendig diskutiert. An Auto und Umwelt zeige sich die kapitalistische Nachkriegsgeschichte, mit der über Fragen von Konsum und Infrastruktur Machtverhältnisse verdeutlicht werden. Diese zielten aber nicht nur auf eine Ausbeutung der Umwelt ab, es gehe auch um die Bedeutung von Freiheit, Distinktion und Teilhabe, die sich für einen guten Teil des Untersuchungszeitraums mit dem Besitz eines Automobils verknüpft habe.
Anhand verschiedener Sozialfiguren und stereotyper Darstellungen illustrierte MARCUS BÖICK (Cambridge) die vielfältigen Diskurse zum Ost-West-Verhältnis. Besonders durch die Selbstbeschreibungen seit 1990 geprägt, würde der Ost-West-Diskurs durch den Blick auf Disparitäten und Ungleichzeitigkeiten charakterisiert. Anstelle einer Reproduktion bestimmter Topoi (Täter-Opfer; Generationenerfahrung; Modernisierung als Verwestlichung), die sich aus diesen Disparitäten ergäben, sollte eine Historisierung der Ost-West-Beziehungen auf räumliche in-betweens (etwa im gemeinsamen Raum Europa) abzielen. Mit einer globalen Perspektive präsentierte FRANK BÖSCH (Potsdam) verschiedene Skalierungen des ‚Raums‘ Deutschland. Beispiele wie die Imagination Chinas als Markt oder die Projektionsfläche Nicaragua als Demokratieprojekt innerhalb der deutschen Linken verdeutlichten, wie eine globale Perspektive sich wandelnde Selbst- und Fremdbeobachtungen herausarbeiten könne.
In seinem Kommentar betonte MARTIN DEUERLEIN (Tübingen) die produktive Kraft einer Entgrenzung des Containers Deutschland durch den Blick auf imagined geographies und zugehörige Praktiken. Wo lagen Bundesrepublik oder DDR? Die Überprüfung solcher Verortungen sollte nicht nur zeithistorisch geschehen, sondern auch eine Selbstreflexion von Historiker:innen mit sich bringen. Die Rolle von (deutschen) Verortungen wurde anschließend diskutiert, etwa indem die Einbindung nichtdeutscher Historiker:innen in die kritische Reflexion von Meistererzählungen gefordert wurde. Umgekehrt eröffnete die supranationale Perspektive auch die Frage, welche Spezifika eine solche Geschichtsschreibung für eine nationale Geschichte Deutschlands herausarbeiten sollte. Erlaubt diese Perspektive einen Rekonfiguration des Nationalen, oder werden so bundesdeutsche Sonderfälle/in-betweens, etwa Ostdeutschlands als „Kontaktzone“ innerhalb Europas, erarbeitet?
Im letzten Panel betonte CLAUDIA GATZKA (Freiburg) die enge Verschränkung früherer wie aktueller demokratiegeschichtlicher Ansätze mit laufenden politischen und gesellschaftlichen Prozessen. Demokratie als Herrschafts- und Lebensform, aber auch als Anspruch und Selbstbeschreibung wurde immer wieder gegen die bundesrepublikanische Entwicklung gespiegelt und ihre Institutionen wie Akteure an Vorstellungen von Demokratie gemessen. Auch wenn die neuere Geschichtsschreibung Demokratie als ein Projekt in den Mittelpunkt rücke, hätten Narrative einer prozesshaften Demokratisierung im Sinne einer Liberalisierung, Zivilisierung oder Modernisierung weiterhin Konjunktur. Demgegenüber verdeutlichte SONJA LEVSEN (Tübingen) mit verschiedenen analytischen Vignetten zur Gewalt deren ebenfalls kontinuierlich in die Bundesrepublik eingeschriebene, jedoch häufig an den Rand gedrängte Präsenz. Gewalt als konstanter Bestandteil politischer und gesellschaftlicher Ordnung, im öffentlichen wie privaten Raum lasse sich über verschiedene Zugänge wie Körper-, Moral- oder Alltagsgeschichte analysieren. Gerade eine Beschäftigung mit verschiedenen Phasen intensiver Gewalt – etwa der Besatzungszeit oder den frühen 1990er Jahren – widerlege das bundesdeutsche Narrativ einer linearen Stabilisierung und Zivilisierung bei gleichzeitiger Marginalisierung von Gewalt.
Als „moving targets“ bezeichnete PETRA TERHOEVEN (Göttingen/Rom) in ihrem Kommentar die Begriffe Demokratie und Gewalt, da diese immer als Analysekategorien von den ihnen zugrundeliegenden Quellenbegriffen zu unterscheiden seien. Demokratie wie Gewalt ließen sich als gegensätzliche Pole eines bundesrepublikanischen Projektes verstehen, mit denen sich neue Erkenntnisse zu der Transformation der Bundesrepublik erbringen ließen. In der anschließenden Diskussion wurde für möglichst weite Begrifflichkeiten plädiert, um Latenz- oder Transformationsphasen besser fassen zu können.
Der im Tagungstitel genannte Topos der „Sehepunkte“ entpuppte sich als vielgenutzte produktive Anregung, die eigene Standortbestimmung zu reflektieren. Hinsichtlich einer „Meistererzählung“ der Bundesrepublik hat die Tagung plausibel wichtige Verschiebungen bisheriger Narrative gefordert. Die 1980er-Jahre wurden an vielen Stellen als grundlegende Transformationsphase aufgegriffen und unter dem Eindruck gegenwärtiger Krisen als Vergleichsfolie und Vorgeschichte der Gegenwart herangezogen; die Geschichte der DDR wurde als drängendes Desiderat dieser „Meistererzählung“ in so gut wie allen Papers benannt. Ob eine solche Integration der DDR über den Vergleich, die Verflechtung oder andere Zugriffe erfolgen kann – all dies eröffnet neue methodische Herausforderungen. Trotzdem ist es mehr als begrüßenswert, dass die deutsche Geschichte nach 1945 nicht mehr automatisch auf den westdeutschen Staat reduziert wird. Auch der anklingende Appell, nicht die „eine“ Geschichte der Bundesrepublik, sondern stattdessen die Vielfalt, Mehrdimensionalität, Entgrenzung und Ambivalenz der zeithistorischen Beschreibungen zu betonen, mag die Zeitgeschichte auf den ersten Blick nicht schneller zum Ziel einer Nationalgeschichte führen. Die präsentierten Papers haben jedoch gezeigt, dass sich aus der Vielstimmigkeit ihrer jeweiligen Felder ähnliche Perspektiven und Beobachtungen ableiten lassen, die uns ein Bild, oder besser ein Panorama „der“ Bundesrepublik, seiner Politik, Kultur und Gesellschaft durchaus vermitteln können.
Konferenzübersicht:
Claudia Gatzka (Freiburg) / Sonja Levsen (Tübingen): Keine Bilanz. Zur Einführung
Panel 1: Transitionen
Camilo Erlichman (Maastricht): Besatzungszeit
Franka Maubach (Berlin): Vereinigungsgesellschaft
Marie-Bénédicte Vincent (Franche-Comté): Kommentar
Panel 2: Nation und Vergangenheit
Andrew Port (Detroit): „Nie wieder“
Dominik Rigoll (Potsdam): Nation und Nationalismus
Christina Morina (Bielefeld): Kommentar
Panel 3: Geschlecht
Benno Gammerl (Florenz): Sexualität(en)
Jane Freeland (London): Gender
Isabel Heinemann (Bayreuth): Kommentar
Panel 4: Fremdheit
Lauren Stokes (Chicago): Migration
Nadja Klopprogge (Tübingen): Race
Maria Alexopoulou (Mannheim): Kommentar
Panel 5: Ungleichheit
Felix Römer (Berlin): Soziale Ungleichheit
David Spreen (Harvard): Alte Linke, neue Linke, radikale Linke
David Bebnowski (München): Kommentar
Panel 6: Lebensverhältnisse
Kerstin Brückweh (Frankfurt/Oder): Wohnen
Winfried Süß (Potsdam): Nicht/Arbeiten
Christiane Reinecke (Flensburg): Kommentar
Panel 7: Ressourcen
Roman Köster (München): Umwelt
Sina Fabian (Berlin): Autofahren
Rüdiger Graf (Potsdam): Kommentar
Panel 8: Imaginäre Geographien
Marcus Böick (Cambridge): Ost und West
Frank Bösch (Potsdam): Global
Martin Deuerlein (Tübingen): Kommentar
Panel 9: Ziviles Miteinander
Claudia Gatzka (Freiburg): Demokratie
Sonja Levsen (Tübingen): Gewalt
Petra Terhoeven (Göttingen/Rom): Kommentar