Für Wunder der Natur, sogenannte mirabilia, ist die Mehrzahl in epistemologischer Hinsicht seit dem Hochmittelalter konstitutiv, da sie sich ohne Zugehörigkeit zu einer Phänomenkategorie nicht als solche begreifen lassen. Der Plural ist also Voraussetzung für die Herausbildung des Wissens vom Wunderbaren, stellt aber in ästhetischer Perspektive eine Herausforderung dar. Im frühen 13. Jahrhundert geht Gervasius von Tilbury in seinen Otia imperialia knapp auf die Darstellungspotenziale von Mirabilien ein. Er konstatiert, dass mit wunder-Erzählungen der Anspruch verbunden sei, etwas als neu erscheinen zu lassen. Mit diesem Erneuerungsanspruch im Erzählen wird das Wunderbare als Spielfeld ästhetischer Innovationen markiert, und es kommt in den Blick, dass Darstellung und Wahrnehmung von wundern stets an Traditionszusammenhänge gebunden sind: Mirabilien werden als serielles Phänomen kenntlich. Auch religiöse Wunder, so genannte miracula, die bereits historisch-zeitgenössisch als unmittelbar von Gott bewirkte Überschreitungen des gewohnten Laufs der Natur verstanden werden, werden – mit gewissen Abweichungen – immer wieder erzählt. Das lässt sich beispielsweise am legendarischen Erzählen beobachten. Angesichts dieser Korrespondenz erscheint es produktiv, Mirabilien und Mirakel gemeinsam auf ihre spezifische Serialität hin zu untersuchen.
Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Beobachtungen widmete sich der von Jutta Eming und Tilo Renz im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 980 „Episteme in Bewegung“ (Teilprojekt B02 „Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters“) veranstaltete zweitägige Workshop „wunder in Serie. Verfahren der Akkumulation von Mirabilien“ Darstellungs- und Funktionsweisen der Reihenbildung von mirabilia und auch von miracula. Fokussiert wurden Darstellungsverfahren, die auf Abweichung und Varianz in der Wiederholung abzielen, um ihre spezifische Ästhetik und sozialhistorische Funktionalisierung zu erfassen.
Die Vorträge des ersten Tages galten Wunderdarstellungen aus dem Bereich der religiösen Literatur sowie visuellen Repräsentationen von Wundern oder Reflexionen auf ihre visuelle Dimension. Eröffnet wurde der Workshop mit einem Vortrag der Kunsthistorikerin LIVIA CÁRDENAS (Berlin) zu visuellen und narrativen Spiegelungen Nürnberger und Bamberger Reliquien im Spätmittelalter. Cárdenas zeigte, dass die Produktion von Büchern, die Heiltumsweisungen in textueller und visueller Form festhalten und memorierbar machen, sogenannte Heiltumsbücher, im späten 15. Jahrhundert zu starker Konkurrenz zwischen beiden Städten und ihren Reliquien (bzw. in Nürnberg auch der Reichskleinodien) führte. Das erste Heiltumsbuch, das 1487 in Nürnberg zu den Heiltumsweisungen erstellt wurde, listet die bei den einzelnen Gängen der Prozession vorgezeigten Objekte mit einer kurzen Beschreibung auf und stellt sie in stark vereinfachenden Abbildungen dar, die gleichwohl signifikante Merkmale der repräsentierten Objekte enthalten. Die serielle Struktur und auch die enge Verbindung zwischen Text und Bild wurden in Heiltumsbücher übernommen, die anschließend in Bamberg entstanden. Die Abbildungen des zweiten Bamberger Buchs (bei Mair 1493), das Cárdenas vorstellte, folgt der Beschreibung der Heiltümer im Text und nicht etwa den bei Heiltumsweisungen präsentierten Reliquien. Damit zeichnete Cárdenas neben dem Bemühen um das Bewahren der Heiltumsweisungen vor allem die Varianz der Heiltumsbücher in Text und Bild nach und stellte sie in den Kontext einer Konkurrenz der Reichsstädte auf medialer Ebene.
NINA NOWAKOWSKI (Mainz) warf anschließend die Frage nach Strategien der Vermittlung von Heil auf, die Erzählungen von den Wundertaten Marias, so genannten Marienmirakeln, durchgespielt werden. Am Beispiel des Magnet unserer lieben Frau (1493, Cgm 626) zeigte sie, dass diese Mirakelreihen eine strukturelle Neigung zu Akkumulation und Serialität aufweisen, die sich auch innerhalb der einzelnen Mirakel zeigt. Die Reihen lassen Variation zu, die, so Nowakowski, als Heilskasuistik zu verstehen ist. Mit diesem Begriff zielte Nowakowski darauf ab, die Varianz dieser Wundererzählungen aus der pragmatischen Einbindung in eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Heilsbedürfnisse der Gläubigen zu erklären.
FALK QUENSTEDT (Greifswald) untersuchte die serielle Darstellung von Schadenszauber-Verbrechen in Text und Bild am Beispiel des Flugblattes Trierer Hexentanzplatz und eines Traktats des Leipziger Protestanten Thomas Sigfrid zur Wirkmacht von Zauberei von 1593. Quenstedt arbeitete neben Parallelen besonders Unterschiede in der Serialitätsdarstellung von Traktat und Kupferstich des Flugblattes heraus. Während im Traktatstext medial bedingt Zauberhandlungen und ihre erstaunlichen Wirkungen lediglich aneinandergereiht werden, lässt das Flugblatt die gleichzeitige Darstellung der Vergehen zu. Diese Synchronizität kann als Innovation verstanden werden, die das Traktat durch das effektvolle Vor-Augen-Führen der Hexereiverbrechen von seiner alleinigen Beweislast befreit. Zudem wird das Wunderbare durch das synchrone Nebeneinander relativiert – die intermediale Wirkabsicht der Serialität zielt hier weniger auf Staunen ab, sondern soll vielmehr die Vielzahl der Hexerei-Vergehen verdeutlichen und die Notwendigkeit ihrer Bekämpfung einsichtig machen.
SUSANNE REICHLIN (München) fokussierte eine Serie von Marienmirakeln im Nürnberger Marienbuch (nach 1410), in der nicht von Maria selbst, sondern von Darstellungen Marias, insbesondere von Skulpturen, die Rede ist. Die Wundererzählungen der Reihe sind, so arbeitete Reichlin heraus, thematisch miteinander verknüpft, indem sie die eingeschränkte Wirkmacht der Marienpilder und ihre Anfälligkeit gegenüber unsachgemäßer Behandlung oder gar Beschädigung behandeln – beide Aspekte fasste Reichlin mit dem Begriff der Vulnerabilität der Mariendarstellungen. Weiter argumentierte sie für einen Ordnungswillen des Kompilators der Mirakel-Serien des Marienbuchs, indem sie die pilder-Reihe mit einer anderen Reihe verglich und hier statt der auf ein Problem (Vulnerabilität) bezogenen Verknüpfung eine kettenartige Verknüpfung der einzelnen Erzählungen beobachten konnte. In der Serie mit den Marienpildern stellt die narrative Gestaltung eine Transformation des pildes zu einem wahren pild dar, dessen materielle Vulnerabilität in Handlungsmacht und Heilsmacht umschlägt: Die pilder bleiben hinter der Handlungs- und Heilsmacht der wahrhaftigen Maria zurück, übersteigen hierin jedoch gewöhnliche pilder.
DANIELA FUHRMANN (Zürich) schloss mit Betrachtungen zu Wunderserien in den sogenannten Schwesternbüchern (14./15. Jahrhundert) an. Sie untersuchte eine Reihe von Wunder- bzw. Gnadenerlebnissen der Klosterschwestern von Engelthal, Katharinental und Töss, die durch andere Schwestern beobachtet und bezeugt werden. Die formale Besonderheit der Perspektive einer Mitschwester auf das religiöse Erleben macht unterschiedliche Darstellungsweisen möglich, die in den Schwesternbüchern durchgespielt werden. Dabei führen die Beobachterinnen eine aktive Teilhabe am Wunder vor, zu der unter anderem gehört, dass die beobachtenden Schwestern ihre Mitschwester nach den religiösen Erfahrungen befragen. Im Zuge dessen kann, was zunächst als äußeres Zeichen der Erfahrung erscheint, mit dem entsprechenden inneren Erleben verknüpft werden. Angesichts der Anschlusskommunikation, die die Erfahrung von Wundern hier nach sich zieht, wies Fuhrmann auf Parallelen bei Darstellungen von Mirabilien hin. Im Herzog Ernst beispielsweise lösen die Exponenten der Wundervölker, die der Protagonist in sein Gefolge aufnimmt, ebenfalls den Austausch zwischen Figuren aus.
Die anschließenden Beiträge zu Mirabilien eröffnete TILO RENZ (Berlin) mit einem Vortrag zum Wunderbaren in der Candacis-Episode eines hoch- und eines spätmittelalterlichen deutschsprachigen Alexanderromans. Renz ging von der Beobachtung aus, dass Gervasius von Tilbury in seinen Otia imperialia das ganz grundlegende Verfahren der Vertauschung von Elementen der Darstellung andeutet, um mit dessen Hilfe Mirabilien als neu präsentieren zu können. Die Überbietung vorausgehender Darstellungen, die mit der Poetik des Wunderbaren häufig verbunden wird, ist ein möglicher Effekt dieser Kombinatorik. Kleinschrittig arbeitete Renz die Verfahren der Rekombination in der Candacis-Episode zunächst des Straßburger Alexander (um 1200) und anschließend des Alexander Meister Wichwolts (kurz nach 1400) heraus. Er machte deutlich, dass in Letzterem die Anzahl staunenswerter Objekte und die Ausführlichkeit ihrer descriptiones zurücktreten, wohingegen der Aspekt der Vertauschung noch stärker betont wird als im Straßburger Alexander. Der Blick auf die literarische Praxis stützt also die Bedeutung von Kombination und Rekombination für die Darstellung des Wunderbaren, die Gervasius’ theoretische Überlegungen andeuten.
JUSTIN VOLLMANN (Jena) stellte Überlegungen zur Serialität des Wunderbaren anhand heroischer, höfischer und schwankhafter Gattungszusammenhänge vor. Da laut Vollmann Erzählungen dem Wunderbaren nicht gerecht werden können, weil seine Exzeptionalität auf syntagmatischer Ebene kaum eingeholt werden kann, muss für die Darstellung des Wunderbaren auf das Paradigma, mithin auf Serialität zurückgegriffen werden. Vollmann attestierte den mit Mirabilien konfrontierten Helden daher einen gewissen Wiederholungszwang. Um diesem auf die Spur zu kommen, müssten die seriell gestalteten Hinweise auf das Wunderbare im gesamten Textverlauf in den Blick genommen werden. Mit einer Analyse der Episode von der Riesin Rome im Wolfdietrich D erläuterte Vollmann seine Überlegungen und zeigte, wie die Bedeutung der Wahrnehmung von Rezipierenden für die Konstitution des Wunderbaren sichtbar gemacht wird.
FABIAN DAVID SCHEIDEL (Köln) beleuchtete die Frage nach der Existenz eines mittelalterlichen Mediävalismus. Er betonte das Vorhandensein eines frühen kulturellen Bewusstseins für ein „Mittleres Alter“ und verstand die Artusliteratur des späten 12. Jahrhunderts als Retrofiktion. Das Auseinanderstreben der eigenen Gegenwart und einer „abgeschlossenen“ erzählten Gegenwart im Artusroman ermöglicht den Zeitgenoss:innen eine gewisse Distanz. Scheidel argumentierte, dass die gemeinsame, ineinandergreifende Darstellung der Artusromane die Artuszeit zu einer abgeschlossenen Zeit macht, die wiederum den Raum für das Wunderbare öffnet. Elemente des Wunderbaren werden auf unterschiedliche Weise für die Retrofiktion funktionalisiert: Mehrfach ergab sich aus Scheidels Beispielen die Gegenüberstellung des beklagenswerten Verlusts der Mirabilien mit ihrer zunehmend kunstfertigen Ausgestaltung.
KATHARINA PHILIPOWSKI (Potsdam) präsentierte Überlegungen zur Darstellung des Heiligen Grals in seiner breiten Erzähltradition mit Blick auf französische und deutschsprachige Texte. Philipowski zeigte, dass in der Tradition sukzessive ein Wissenshorizont vom Gral etabliert wird und dass immer wieder auf das Vorwissen der Rezipierenden Bezug genommen wird. Damit kommt dem Gral der Status eines singulären mirabilen Gegenstands zu, der gewisse Nähe zu einer Figur aufweist und fast so etwas wie eine Biografie besitzt. Der besondere Status des Grals führt, so Philipowski weiter, nicht zu zunehmender Fülle der Darstellung oder zu einem Erzählgestus der Überbietung. Vielmehr komme es zu einem Erzählprozess der Arkanisierung, in dem formale Besonderheiten darin bestünden, dass Informationen nachgereicht würden oder vorausgesetzt und daher ganz ausgelassen würden. Das führe schließlich dazu, wie sie am Rappoltsteiner Parzival ausführte, dass das durch den Gral repräsentierte Wunder nicht mehr verwundert, sondern Teil des bekannten Wissens wird.
In der Abschlussdiskussion wurde nochmals die Vielfalt serieller Darstellungsweisen von Wunder und Wunderbarem betont, die in den Vorträgen zutage getreten sind. Trotz hoher epistemischer Anforderungen an Wiedererkennbarkeit und damit auch an die Erwartbarkeit des Wunderbaren konnten die Vorträge Episodenreihen aufweisen, die sowohl über paradigmatische Varianz verfügen als auch über solche, die das Syntagma und andere Merkmale der narrativen Struktur betreffen (etwa die Erzählperspektive). Auch bei den miracula, für die die Notwendigkeit, die pragmatisch-funktionale Einbindung zu berücksichtigen, zum Teil stark herausgestrichen wurde, zeigten sich vielfältige und komplexe, in anderen Darstellungen aber auch nur „flach“ skalierte Varianzen. Aus der Gegenüberstellung von mirabilia- und miracula-Serien auf dem Workshop ergibt sich damit unter anderem die weiterführende Frage, wie ästhetische und funktionale Aspekte im Zuge von Analysen des Wunders und des Wunderbaren produktiv miteinander verknüpft werden können. Weiterhin wurden die graduellen Unterschiede von sukzessiver Darstellung und Tendenzen zur Synchronizität in Text- und Bild-Medien diskutiert, und es wurde auf die Erzählperspektive als formales Merkmal hingewiesen, das Varianz ermöglicht, sowie auf die Bedeutung des Vorwissens um Mirabilien und auf die sich daraus ergebenden Potentiale für das Erzählen, mit der Erwartungshaltung der Rezipierenden zu spielen.
Konferenzübersicht:
Sektion 1
Moderation: Tilo Renz (Berlin)
Livia Cárdenas (Berlin): Konkurrierende Heilige. Narrative und visuelle Spiegelungen Nürnberger und Bamberger Reliquien im Spätmittelalter
Nina Nowakowski (Mainz): Akkumulierendes Variieren. Heilskombinatorik in Marienmirakeln
Sektion 2
Moderation: Judith Klinger (Potsdam)
Falk Quenstedt (Greifswald): Simultanität des Seriellen: Der Trierer Hexentanzplatz in Thomas Sigfrids Traktat von 1593
Susanne Reichlin (München): Serielle Vulnerabilität von Marienpildern im Nürnberger Marienbuch
Sektion 3
Moderation: Hartmut Bleumer (Göttingen)
Daniela Fuhrmann (Zürich): Eine Frage der Perspektive. Zur Relevanz von Beobachtung in geistlichen und weltlichen Wunderserien
Tilo Renz (Berlin): Akkumulation und Kombination. Zum Wunderbaren im Alexanderroman
Justin Vollmann (Jena) Ach herre got der guote, muoz ich aber an die vart? Helden unter Wiederholungszwang in heroischen, höfischen und schwankhaften Kontexten
Sektion 4
Moderation: Jutta Eming (Berlin)
Fabian David Scheidel (Köln) Merveilles quis, maiz nes’ trovai. Mittelalterlicher Mediävalismus und Retrofiktion als Nullpunkt des ‚Mittel-Alters‘
Katharina Philipowski (Potsdam) Arkanisierung, Aufschub und Bestätigung im Erzählen vom Gral