Am zweiten Wochenende im April fand der 11. Workshop zur Jugendbewegungsforschung auf Burg Ludwigstein statt. Die jährlich stattfindende Veranstaltung wird selbständig organisiert von und für Nachwuchswissenschaftler:innen, unterstützt von dem Archiv der deutschen Jugendbewegung und der Jugendbildungsstätte Ludwigstein. Unter der Leitung von Julia Bartels, Lieven Wölk und Max-Ferdinand Zeterberg nutzen in diesem Jahr acht Personen die Gelegenheit, um laufende oder bereits abgeschlossene Projekte zum Forschungsfeld „Jugend“ vorzustellen und zur Diskussion zu bringen. Die meisten Vorträge thematisierten die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die beiden letzten führten schließlich über die bundesrepublikanische Nachkriegszeit bis in die Gegenwart.
CAROLA DIETZE (Jena) eröffnete die Tagung mit einem Vortrag über den deutschen Philosophen Helmuth Plessner (1892–1985). Im Mittelpunkt stand hierbei dessen Schrift über die „Grenzen der Gemeinschaft“, die 1924 publiziert wurde und die Verhältnisse der Weimarer Republik reflektierte. Plessner setzte sich intensiv mit dem Gemeinschaftsbegriff auseinander, der von völkisch-nationaler wie von kommunistischer Seite überhöht wurde, und auch in der deutschen Jugendbewegung dieser Zeit eine wichtige Rolle spielte. Dem „sozialen Radikalismus“ der Zwischenkriegszeit setzte er ein anthropologisch begründetes Plädoyer für eine bürgerlich-liberale Gesellschaftsordnung entgegen, die ihren Mitgliedern Privatheit und Distanz, und damit auch Raum für individuelle Freiheit und Persönlichkeitsentwicklung erlaubt. Die Skepsis gegenüber totalisierenden Gemeinschaftsentwürfen hing auch mit eigenen Erfahrungen von Ausgrenzung und Solidarität zusammen, wie Carola Dietze zeigen konnte: In seiner Biographie und in seinem Denken war Plessner lutheranisch und preußisch geprägt und hatte sich selbst nicht als Jude definiert, wurde aber dennoch als solcher angesprochen, ausgegrenzt und 1933 ins Exil getrieben. In der Diskussion zeigte sich die Aktualität der Schrift im Kontext neuer Krisenerscheinungen, kritisch angemerkt wurde aber auch die fehlende Berücksichtigung von sozialer Ungleichheit in kapitalistischen Industriegesellschaften, die ebenfalls zur Einschränkung individueller Handlungsräume führen kann.
HALYNA ROSHCHYNA (Hamburg) präsentierte am folgenden Samstag ihr Promotionsprojekt zur ukrainischen Pfadfinder-Organisation „Plast“ (1911–1939). In einer Zeit, in der das Territorium der heutigen Ukraine unter der Herrschaft der Donaumonarchie Österreich-Ungarn und des Russischen Kaiserreiches stand, formierte sich in den ukrainisch-sprachigen Landesteilen beider Imperien eine Jugendbewegung nach britischem Vorbild. Die Organisation übernahm hierbei typische Aktivitäten der Scouts, etwa paramilitärische Übungen, Wanderungen und Sommercamps, sie nahm aber von Anfang an auch weibliche Mitglieder auf und entwickelte außerdem ein spezifisches Programm zur Förderung der ukrainischen Sprache und Kultur. Mit ihren grenzübergreifenden Aktivitäten, so die zentrale These, habe „Plast“ eine bedeutende Rolle in der ukrainischen Nationalbewegung gespielt. Bemerkenswert sind vor allem die Fahrten in jene ukrainisch-sprachige Regionen, die im Zuge der territorialen Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg zu Rumänien, Polen und zur Tschechoslowakei gekommen waren. Ob diese Organisation, die im Laufe der 1920er und 1930er Jahre zunehmend in die Illegalität gedrängt wurde, eher als demokratisch oder als autoritär-nationalistisch einzuschätzen wäre, war Thema der regen Diskussion; die Referentin wies dabei auf den strömungsübergreifenden Charakter des Verbandes hin, unter dessen Dach verschiedene national ausgerichtete Gruppierungen zusammentrafen.
BERNHARD HERTLEIN (Wuppertal) stellte seinerseits ein Promotionsvorhaben vor, das im Fach Germanistik angesiedelt ist und Indienbilder in der deutschsprachigen Jugendliteratur (1918–1945) zum Thema hat. Bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert hatten sich deutsche Gelehrte wie Johann Gottfried Herder oder August Wilhelm Schlegel mit Sprachen und Religionen des indischen Subkontinents befasst, spätestens zur Wende des 20. Jahrhunderts schlug sich dieses Interesse auch in populären Jugendzeitschriften und Jugendbüchern nieder. Ausgehend von Edward Saids Konzept des „Orientalismus“ verwies der Referent auf die Kontinuität von kolonialen Themen und Motiven im Untersuchungszeitraum, er machte aber auch auf das Aufkommen neuerer Bilder zwischen 1918 und 1945 aufmerksam, die aus gesellschaftlichen Transformationen und interkulturellen Kontakten resultierten. Als Beispiele führte er die Deutschlandbesuche von Rabindranath Tagore in den 1920er Jahren an, die den Nobelpreisträger unter anderem auf die Jugendburgen Waldeck, Hohenstein und Stahleck geführt hatten, ebenso die Publikation von ersten Biographien zu Mohandas Karamchand Gandhi, die zu einem wachsenden Interesse an der indischen Nationalbewegung beigetragen hatten. Die tiefste Zäsur habe aber die Unterstützung des NS-Regimes für die Indian National Army von Subhash Chandra Bose dargestellt, die von der Verbreitung entsprechender Landser-Hefte flankiert worden sei.
ASYA KURTULDU (Berlin) stellte ihre noch laufende Masterarbeit zur Diskussion, in der sie sich mit den Eheleuten Lisbeth (1885–1971) und Ludwig (1888–1971) Ankenbrand befasst. Bekanntheit hatten die beiden durch eine Weltreise zu Fuß erlangt, die im Februar 1912 begann und über Italien, Ägypten und Palästina bis nach Ceylon führte, wo die Ankenbrands schließlich im Zuge des Ersten Weltkrieges in britische Gefangenschaft gerieten. Die Reise kann als geschickt inszenierte Wallfahrt verstanden werden, die durch zahlreiche Briefe und Fotografien dokumentiert, sowie durch mehrere Firmen im Umfeld der Lebensreformbewegung finanziert wurde. Im Anschluss an die Arbeiten von Julia Hauser, Anna Danilina und Leela Gandhi nahm die Referentin die spirituelle und körperliche „Selbstarbeit“ der Ankenbrands in den Blick, die auf die Erneuerung der individuellen Lebensweise („Lebensreform“), und damit letztlich auch auf eine Veränderung der modernen Gesellschaft zielte. Von Interesse war in dieser Hinsicht die publikumswirksame Inszenierung dieser Zivilisationskritik, die sich die Reichweite des modernen Publikationswesens zu Nutze machte – in der anschließenden Debatte wurde hier einerseits auf ältere Traditionslinien in der Reiseliteratur, andererseits auf neuere Formen der Lebensratgebung in sozialen Netzwerken verwiesen. Während die (Selbst-)Darstellung von Ludwig Ankenbrand für die Weltreise bestimmend war, trat Lisbeth im Laufe der 1920er Jahre als eigenständige Autorin von Gesundheits- und Schönheitsratgebern in Erscheinung.
JANIKA SCHMIDT (Jena) sprach über die Ergebnisse ihrer abgeschlossenen Bachelorarbeit, deren Gegenstand die Antimilitaristische Erziehung bei der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde (RAG) und der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) zwischen 1922 und 1933 war. Beide Verbände wurden 1922/23 im Zuge des (unvollständigen) Zusammenschlusses von SPD und USPD aufgebaut und verfolgten innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung das Ziel, Kinder und Jugendliche im Sinne der Sozialdemokratie zu politisieren. Zum Umgang mit dem Themenfeld „Krieg“ unterschied die Referentin zwischen pazifistischen und antimilitaristischen Ansätzen: Erstere schlössen Gewalt als politisches Mittel kategorisch aus, zweitere zielten auf die Überwindung der Klassengesellschaft zur Vermeidung neuer Kriege. Vor diesem Hintergrund zeichnete Janika Schmidt ein differenziertes Bild von SPD, SAJ und RAG: So habe es zwischen der Parteiführung und ihrer Jugendorganisation erhebliche Unterschiede bei der Frage gegeben, ob Krieg durch schiedliche Vermittlung nationaler Interessen, oder aber durch eine (gegebenenfalls gewaltsame) Überwindung der Klassengesellschaft zu verhindern wären. In der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde wiederum habe man sich zwar an antimilitaristischen Theorietraditionen orientiert, dennoch sei in der pädagogischen Praxis vor allem eine moralisch begründete, das heißt prinzipiell gewaltfreie Friedensgesinnung vermittelt worden.
Das Thema der Staatsexamensarbeit von FRIEDERIKE WILKENS (Jena) bewegte sich ebenfalls in der Zeit der Weimarer Republik, lenkte aber noch einmal die Aufmerksamkeit auf die Lebensreform im Allgemeinen und die Reformpädagogik Walter Fränzels (1889–1968) im Speziellen. Fränzel war vor dem Ersten Weltkrieg mit den Ideen von Jugendbewegung, Freistudentenschaft und Sera-Kreis in Kontakt gekommen, arbeitete nach Kriegsende zunächst als Geschäftsführer der Volkshochschule Jena und gründete schließlich 1927 das „Lichtschulheim Lüneburger Land“ bei Glüsingen. Auf der Grundlage von Fränzels Nachlass im Archiv der deutschen Jugendbewegung konnte die Referentin nachzeichnen, wie sich seine pädagogischen Vorstellungen zwischen 1919 und 1927 veränderten: Während er an der Volkshochschule noch das Ziel einer klassenübergreifenden Volksgemeinschaft verfolgte, die durch eine Erziehung des Geistes und eine breitere Teilhabe an der Bildungstradition des Bürgertums realisiert werden sollte, modifizierte er dieses Konzept mit zunehmendem Interesse an Vegetarismus und Naturismus dahingehend, dass die Bildung des (nackten) Körpers durch Licht, Luft und Sport zum Schwerpunkt seiner Schulpädagogik wurde. In der späteren Diskussion fand der Umgang mit Sexualität besondere Aufmerksamkeit, auch mit Blick auf die jüngere Thematisierung sexualisierter Gewaltfälle in der deutschen Jugendbewegung; für Fränzels „Lichtschulheim“ konnte die Referentin eine restriktive Sexualmoral feststellen, in den gesichteten Quellenbeständen gebe es aber keine Hinweise auf gewaltsame Übergriffe.
Mit der Errichtung eines Stadtjugendhauses auf der Nürnberger Burg beschäftigte sich CORNELIA THIELMANN (Bamberg), wobei es sich hierbei um einen Ausschnitt ihres Promotionsprojektes zur identitätspolitischen Inanspruchnahme von Burgenrestaurierungen in der Bundesrepublik handelte. Die Nutzungsgeschichte der Nürnberger Burg verweist in diesem Zusammenhang auf die deutsche Jugendbewegung und ihre spezifische Aneignung mittelalterlicher Anlagen („Jugendburgen“), aber auch auf die (mangelnde) Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit. In Nürnberg diente die markante Doppelburg als Hintergrund für die Reichsparteitage der NSDAP, ein größerer Teil der Anlage, die sogenannte Kaiserstallung, wurde auch ab 1937 zur Jugendherberge ausgebaut und als Quartier für die Hitlerjugend genutzt. Schwere Schäden im Zweiten Weltkrieg verhinderten zunächst eine Weiternutzung, ab 1950 begannen Wiederaufbau und Umwidmung der Kaiserstallung als Stadtjugendhaus. Eine bauliche Distanzierung von der NS-Geschichte fand dabei nicht statt, wie die Referentin hervorhob: So sei mit Julius Lincke derselbe Architekt beauftragt worden, der bereits die Planungen für die Jugendherberge in den 1930er Jahren verantwortet hatte. Gleichwohl habe das städtische Nutzungskonzept nun auf die Weimarer Republik und die mittelalterliche Stadtgeschichte rekurriert, also Bezüge auf eine vermeintlich unbelastete Vergangenheit hergestellt: Von daher habe das Stadtjugendhaus auch für eine identitätspolitische Neuorientierung in der Nachkriegszeit gestanden, so Cornelia Thielmann.
SUSANNA KUNZE (Hamburg) schlug schließlich einen Bogen zur Gegenwart, indem sie über ihre Forschungsarbeit zur jüdischen Schulbildung im 21. Jahrhundert berichtete. Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts wurden Eltern und Lehrkräfte, Schüler:innen und Direktorinnen zweier staatlich anerkannter Privatschulen befragt, die jeweils von jüdischen Gemeinden in Frankfurt am Main und Hamburg getragen werden. Auf Grundlage dieser leitfadengestützten Interviews konnte die Referentin über spezifische Erwartungen und Erfahrungen informieren, die mit dem Besuch jüdischer Schulen verbunden sind: So gehörten zu den wichtigsten Schulwahlmotiven die erleichterte Ausübung der Religion, das Erleben von jüdischer Zugehörigkeit und der Schutz vor antisemitischen Angriffen, aber auch ganz typische Privatschulfaktoren wie der Wunsch nach kleinen Klassenverbänden und einem guten Sozialklima. Zum Schulalltag wiederum zählten koschere Mahlzeiten in der Mensa und verbindliche Hebräisch- und Religionsstunden, aber auch umfassende Sicherheitsmaßnahmen auf dem Schulgelände. Susanna Kunze verwies einerseits auf das größer werdende Angebot jüdischer Bildungseinrichtungen seit den 1990er Jahren, das mit der gestiegenen Nachfrage infolge von jüdischen Migrationsbewegungen aus ehemaligen Sowjet-Republiken korrespondierte, andererseits machten die Interviews auch die alltägliche Gefahr durch Anfeindungen und Gewalttaten deutlich, die zuletzt durch den Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 und den folgenden Krieg im Gaza-Streifen weiter zugenommen hat.
Insgesamt hat der Workshop einmal mehr die thematische Ausdifferenzierung und Erweiterung des Themenfeldes „Jugendbewegung“ gezeigt. Wie in der historischen Forschung insgesamt gewinnen trans- und internationale Perspektiven an Gewicht, hervorzuheben ist auch die Bereicherung durch Vorträge aus den Gebieten der Philosophie, der Literaturwissenschaft und der Denkmalpflege. Eine Vertiefung des interdisziplinären Austauschs, vor allem auch in Hinblick auf verschiedene Ansätze in Theorie und Methodik, wäre sicherlich ertragreich und begrüßenswert.
Konferenzübersicht:
Keynote & Diskussion
Carola Dietze (Jena): „Los von der Zivilisation, empor zur Gemeinschaft“. Jugendbewegung und die Grenzen von Gemeinschaft in Helmuth Plessners Sozialphilosophie
Vorträge
Halyna Roshchyna (Hamburg): Die ukrainische Pfadfinder-Organisation „Plast“ (1911–1939)
Bernhard Hertlein (Wuppertal): Indienbilder in der deutschsprachigen Jugendliteratur (1918–1945)
Asya Kurtuldu (Berlin): Lisbeth und Ludwig Ankenbrand
Janika Schmidt (Jena): Antimilitarismus bei der Sozialistischen Arbeiterjugend und der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde (1922–1933)
Friederike Wilkens (Jena): Kulturerneuerung durch gemeinschaftliche Selbsterziehung
Cornelia Thielmann (Bamberg): Die Errichtung des Stadtjugendhauses auf der Nürnberger Burg im Geflecht jugendbewegter Ideen und Motive
Susanna Kunze (Hamburg): Jüdische Schulbildung im 21. Jahrhundert – Erfahrungen und Perspektiven jüdischer Jugendlicher in Frankfurt und Hamburg