Zweite Nachwuchstagung der Österreichischen Mediävistik 2024

Zweite Nachwuchstagung der Österreichischen Mediävistik 2024

Organisatoren
Christian Jaser, Universität Kassel; Stephan Nicolussi-Köhler, Universität Innsbruck; Lienhard Thaler, Universität Wien
Veranstaltungsort
Innsbrucker Stadtarchiv
PLZ
6020
Ort
Innsbruck
Land
Austria
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
16.05.2024 - 17.05.2024
Von
Felix Schulz, Institut für Geschichte und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck

Die 2024 zum zweiten Mal stattfindende Nachwuchstagung der Österreichischen Mediävistik hat es sich zum Ziel gesetzt, Promovierenden an österreichischen Universitäten oder mit einem engen thematischen Bezug zum österreichischen Raum im Bereich der mittelalterlichen Geschichte eine Plattform zu bieten, ihre Promotionsprojekte vorzustellen. Das Format ist darauf ausgerichtet, die Teilnehmenden bei der Gestaltung der Tagung aktiv einzubinden: Auf eine kurze Präsentation folgt eine ausführliche Diskussion auf Basis jeweils eines Peer- und eines Senior-Kommentars, welche sich an vorab eingereichten Projektbeschreibungen orientieren. Neben der intensiven Diskussion der Projekte können die Teilnehmer:innen Erfahrungen in der Moderation einer Sektion und im Verfassen eines Peer-Kommentars sammeln. Der Austragungsort rotiert jedes Jahr, die diesjährige, von der Universität Innsbruck organisierte Tagung fand im Innsbrucker Stadtarchiv statt.

Das Projekt von CARINA SIEGL (Wien) hat es sich zum Ziel gesetzt, den gemeinsamen Hofstaat von Maria von Habsburg und Anna Jagiello in Innsbruck im Zeitraum von 1515 bis zu ihren endgültigen Vermählungen mit Ludwig Jagiello und Ferdinand von Habsburg 1521 bzw. 1522 zu untersuchen. Die Arbeit entsteht im Teilprojekt „Gendering Maximilian“ im Rahmen des vom FWF geförderten Spezialforschungsbereichs „Managing Maximilian“. Ausgehend von im Tiroler Landesarchiv und im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv lagernden Quellenbeständen (Hofordnungen, Hofamtslisten, Korrespondenzen etc.) soll der Hofstaat der beiden jungen Fürstinnen mit dem Frauenzimmer im Zentrum im Hinblick auf Geschlecht, soziale Netzwerke und Personen-Objekt-Beziehungen untersucht und dabei nach ihren Handlungsspielräumen gefragt werden. Als zentrale Analysekategorie soll dabei das Geschlecht als ein Faktor dienen, der sich in allen Handlungsfeldern und auf alle Praktiken der sich in ihnen bewegenden Personen auswirkte. Eine prosopografische Auswertung der Quellen soll die sozialen Verflechtungen, die soziale Mobilität und die Handlungsspielräume der agierenden Personen am Hof sichtbar machen. Die Diskussion verdeutlichte das innovative Potential des Projekts, da der Vergleich zweier Fürstinnen aus unterschiedlichen Situationen eine ganze Reihe von Fragestellungen ermöglicht. Die Analysekategorien Geschlecht – Netzwerke – Objekte müssen jedoch noch in ein übergeordnetes Erkenntnisinteresse eingebettet werden.

Ganz am Anfang seiner Forschungen steht DANILO HORVATH (Maribor). Die angestrebte Dissertation will die Lebenswelt des hochmittelalterlichen Rittertums (12.–14. Jahrhundert) im slowenischen und österreichischen Raum in den Blick nehmen. Ziel ist es, die Kultur der ritterlichen Gesellschaft, ihre Sitten und Gebräuche unter Berücksichtigung konkreter Einzelfälle darzustellen. Als Quellengrundlage für die Untersuchung soll mithilfe bereits existierender Dokumentensammlungen nicht nur Archivmaterial recherchiert und ausgewertet, sondern auch literarische Quellen wie die Steirische Reimchronik des Ottokar aus der Gaal, der Parzival Wolframs von Eschenbach oder die Dichtungen Ulrichs von Liechtenstein („Frauendienst“, „Frauenbuch“) herangezogen werden. Die Arbeit verfolgt somit einen interdisziplinären Zugriff und eine Kombination geschichtswissenschaftlicher und germanistischer Methoden. In der Diskussion wurde zunächst davor gewarnt, die Diskrepanz zwischen dem stark fiktionalisierten Bild der Literatur und dem Alltag der Ritter zu unterschätzen. Auch eine stärkere Auseinandersetzung mit den verwendeten Begrifflichkeiten erscheint ratsam. Mögliche Analysekategorien für eine stärkere Systematisierung stellen das Selbstbild der Ritter, ihre Ausübung der Grundherrschaft sowie ihre Frömmigkeitspraxis dar.

Weiterentwickelt hat sich das Projekt von SELINA THOMALLA (Berlin), die ihre Arbeit bereits auf der Ersten Nachwuchstagung vorstellte und nun erste Fortschritte präsentiert hat. Untersuchungsgegenstand sind die prosopografischen und topografischen Entwicklungen des Wiener Widmerviertels zwischen 1500 und 1527, die auf Basis der erhaltenen Steuerregister sehr gut erschlossen werden und Einblicke zum Beispiel in das Steuerwesen und die wirtschaftliche Konstitution der Einwohner dieses Viertels geben können. Durch einen Abgleich mit den Grundbüchern können Transaktionen, Besitzwechsel, Verwandtschaftsverhältnisse, topografische Veränderungen beispielsweise durch Brände und die Gewerbe der Personen rekonstruiert werden. Innovativ ist auch die Nutzung digitaler Methoden: Nach der Identifizierung der in den Steuerregistern genannten Liegenschaften und der Verortung in einem Geoinformationssystem wird für jedes untersuchte Jahr ein Layer erstellt, in dem die Häuser beziehungsweise die genannten Personen verortet werden. Die in der Diskussion ausgemachte Herausforderung liegt vor allem darin, die oft sehr kleinteiligen Befunde in ein übergeordnetes Narrativ einzufügen. Die Erkenntnisse zu alleinstehenden Frauen könnten künftig noch stärker in den Fokus gerückt werden, auch an einen Vergleich der Gewerbe mit anderen Städten ist zu denken.

OLIVIA MAYER (Kassel) richtet in ihrer Dissertation den Blick über den österreichischen Raum hinaus und setzt sich aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive mit Magieanschuldigungen gegen hochadlige Frauen in England und Frankreich im Spätmittelalter auseinander. Konkret stehen die einzelnen, meist politisch motivierten Anschuldigungen und deren Zusammenhänge im Fokus, um zeitgenössische und aktuelle Geschlechterstereotype offenzulegen. Dabei werden nicht nur Unterschiede zwischen England und Frankreich deutlich, sondern auch Handlungsspielräume der Fürstinnen, gegen diese Verleumdungen vorzugehen, sowie juristische und mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen (zum Beispiel die in England erst ab 1441 mögliche Anklage einer adligen Frau vor einem kirchlichen Gericht). Basis der Untersuchungen ist eine ausgiebige Recherche in englischen und französischen Archiven. Mayer präsentierte ihre Konzeption und Methodik exemplarisch am Fall der Elizabeth Woodville, Königin von England (1464–1483), die im berühmten Titulus Regius von 1484 der Magie beschuldigt wurde. Die Diskussion drehte sich vor allem um die Sinnhaftigkeit des verwendeten Magiebegriffs, wobei keine überzeugende Alternative gefunden werden konnte. Auch eine stärkere Einbettung in die zeitgenössische Wissenskultur ist möglich.

Eine hilfswissenschaftliche Arbeit aus dem Bereich der Sphragistik präsentierte DEJAN JUHART (Maribor). Anhand einer detaillierten Analyse der Siegel der führenden Familien von Maribor im Zeitraum von 1164 bis 1349 strebt das Dissertationsprojekt an, ein erweitertes genealogisches Bild der Herren von Maribor zu entwerfen. Entscheidend ist dabei die Frage, ob Maribor und sein Adel den aktuellen Trends des ostalpinen oder europäischen Raums im Bereich der Siegelnutzung folgten, was Aufschluss über die Bedeutung der Stadt und ihre Vernetzung mit wichtigen Orten, Institutionen und Personen in der weiteren Umgebung erlaubt. Die Ermittlung der relevanten Siegel erfolgt auf Basis von bereits existierenden Quellensammlungen zur Geschichte Maribors (Joze Mlinaric), die Analyse selbst wird vor Ort in slowenischen, österreichischen, deutschen und tschechischen Archiven vorgenommen. Nach der Einarbeitung in die Thematik befindet sich die Arbeit aktuell im Stadium des Verzeichnens der Siegel und ihrer Analyse. Die Teilnehmenden lobten den interdisziplinären Ansatz der Arbeit, empfahlen aber eine Ausweitung um rechts- und verfassungsgeschichtliche Fragen und eine stärkere Differenzierung der Siegeltypen und –aussteller sowie die Beachtung regionaler Unterschiede im Siegelbild.

Auch bei LEONHARD ENGELMAIER (Wien) steht mit St. Pölten eine Stadt im Zentrum der Untersuchung; der Fokus richtet sich hier jedoch auf die Agrarproduktion. Für den Zeitraum von 1367–1611 wird untersucht, was in und um die Stadt von wem wo unter welchen Bedingungen für wen angebaut wurde. Eine Antwort auf diese Fragen ermöglichen die in regelmäßigen Abständen erhaltenen Urbare St. Pöltens, ergänzt durch weitere Quellen wie Stadt-, Geschäfts- und Schuldbücher. Neben der Bodenverteilung und den –märkten sind dort auch Informationen über die Eigentumsverhältnisse sowie in Ansätzen Spezialisierungen der Agrarproduktion enthalten. Obwohl im untersuchten Zeitraum eine demografische Stagnation einsetzt, lassen sich Hinweise auf eine gewisse Kommerzialisierung finden. Auch hier betonten die Kommentare das Potential des Projekts, das sich durch eine Verbindung verschiedener Ansätze (Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Prosopografie, Stadt-Land-Beziehungen) auszeichnet. Weitere Hinweise bezogen sich auf die Notwendigkeit einer differenzierteren Terminologie und der Einbeziehung in die Untersuchung von Landmärkten mit komplementären Leihformen.

Zuletzt präsentierte NORBERT HUNOR ORBÁN (Wien) sein Dissertationsprojekt zur Darstellung der Kumanen in spätmittelalterlichen historiographischen Quellen. Am Beispiel jenes sich unter König Bela IV. in Ungarn ansiedelnden und schnell zu einer politisch-militärischen Elite aufsteigenden nomadischen Reitervolkes wird untersucht, welche Darstellungskonventionen und Topoi sich in der christlichen chronikalischen und annalistischen Überlieferung des 13., 14. und 15. Jahrhunderts in Ost-Mitteleuropa bzw. im Herzogtum Österreich hinsichtlich der Kumanen ausmachen lassen und welche Funktion die Kumanen in den jeweiligen Chroniken bzw. Annalen einnehmen. Die Analyse der Semantik und der Narrative in Bezug auf das Fremde gibt Aufschluss über die stereotypen Denkmuster der zeitgenössischen Gesellschaft. Aufgrund der Fülle an Nennungen konzentriert sich die Analyse auf die diesbezüglich ergiebigsten Werke, zum Beispiel die Gesta Hungarorum, die sogenannte Dalimil-Chronik oder die Steirische Reimchronik. Zur Ergänzung sollen auch bildliche und archäologische Quellen in die Untersuchung mit einbezogen werden. Die Diskussion bewertete auch dieses Projekt sehr positiv, kritische Hinweise bezogen sich hauptsächlich auf eine Problematisierung der verwendeten Begriffe und eine mögliche stärkere Betonung von Bildpolemiken.

Neben dem durch die einzelnen Vorträge aufgezeigten innovativen Potential der aktuell unternommenen Forschungen in verschiedenen Disziplinen lässt sich abschließend besonders der große Wert der Öffnung für die slowenische Forschungslandschaft betonen, da sich dies als große Bereicherung für die Diskussion erwiesen hat. Das Format, zu jedem Thema einen Peer- und einen Seniorkommentar zu verfassen, wird auch in Zukunft beibehalten. Das diesjährige Rahmenprogramm umfasste einen Besuch im Tiroler Landesarchiv und im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. Die Dritte Nachwuchstagung der Österreichischen Mediävistik findet 2025 in Salzburg statt.

Konferenzübersicht:

Führung im Tiroler Landesarchiv

Stephan Nicolussi-Köhler (Innsbruck) / Lienhard Thaler (Wien) / Christian Jaser (Kassel): Begrüßung

Sektion 1

Carina Siegl (Wien): Nach der Doppelhochzeit: Eine prosopografische, objektorientierte und geschlechterhistorische Analyse des Innsbrucker Hofes der Habsburgerin Maria und der Anna Jagiello.

Moderation: Norbert Hunor Orbán (Wien)

Peer-Kommentar: Olivia Mayer (Klagenfurt)

Senior-Kommentar: Christina Antenhofer (Salzburg)

Danilo Horvath (Maribor): Das mittelalterliche Rittertum im slowenischen Raum.

Moderation: Olivia Mayer (Klagenfurt)

Peer-Kommentar: Norbert Hunor Orbán (Wien)

Senior-Kommentar: Tanja Skambraks (Graz)

Sektion 2

Selina Thomalla (Berlin): Anatomie eines Stadtviertels. Das Wiener Widmerviertel im frühen 16. Jahrhundert.

Moderation: Danilo Horvath (Maribor)

Peer-Kommentar: Leonhard Engelmaier (Wien)

Senior-Kommentar: Christina Lutter (Wien)

Sektion 3

Olivia Mayer (Klagenfurt): Magieanschuldigungen und –anklagen gegen adlige Frauen im spätmittelalterlichen England und Frankreich.

Moderation: Selina Thomalla (Berlin)

Peer-Kommentar: Danilo Horvath (Maribor)

Senior-Kommentar: Martin Bele (Maribor)

Dejan Juhart (Maribor): Die Geschichte von Maribor im Licht der Siegelforschung

Moderation: Leonhard Engelmaier (Wien)

Peer-Kommentar: Selina Thomalla (Berlin)

Senior-Kommentar: Walter Landi (Bozen)

Sektion 4

Leonhard Engelmaier (Wien): Die Agrarproduktion der Stadt St.-Pölten und ihres Umlands, 1367–1611.

Moderation: Carina Siegl (Wien)

Peer-Kommentar: Dejan Juhart (Maribor)

Senior-Kommentar: Thomas Ertl (Berlin)

Norbert Hunor Orbán (Wien): Heiden – Dämonen – Blutschänder? Die Kumanen in der Darstellung chronikalischer und annalistischer Textzeugen des 13. – 15. Jahrhunderts in Ost-Mitteleuropa.

Moderation: Dejan Juhart (Maribor)

Peer-Kommentar: Carina Siegl (Wien)

Senior-Kommentar: Christian Jaser (Kassel)

Besuch des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum