6. Kongress Polenforschung

Organisatoren
Deutsches Polen-Institut (Darmstadt); Technische Universität Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
14.03.2024 - 16.03.2024
Von
Benedikt Stimmer, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien; Agnieszka Zagańczyk-Neufeld, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Ruhr-Universität Bochum

Unter dem breiten Motto „Umbrüche – Aufbrüche“ fand von 14. bis 16. März 2024 der 6. Kongress Polenforschung an der Technischen Universität Dresden statt. Entsprechend breit war auch die inhaltliche Ausrichtung der insgesamt 51 Panels, die, gebündelt in sechs Sektionen, Perspektiven aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zusammenführten und die Frühe Neuzeit dabei ebenso berücksichtigten wie aktuelle politische Fragen unserer Gegenwart, die Literaturwissenschaft ebenso wie Soziologie. Rund 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten sich an der Technischen Universität eingefunden. Beim Eröffnungsabend setzte die stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung, Christiane Hoffmann, das Thema, indem sie von ihrem persönlichen Aufbruch nach Niederschlesien auf den Spuren ihrer Familie sprach. Die folgenden beiden Tage waren angefüllt mit einer Vielzahl von Panels, Diskussionen und Projektvorstellungen. Die Vitalität der deutschsprachigen Polenforschung wurde dabei ebenso deutlich wie die gute Vernetzung mit polenbezogener Forschung in vielen weiteren Ländern. Zahlreiche Panels fanden auf Polnisch oder Englisch statt – Ausweis für die voranschreitende Internationalisierung. Der Kongress wurde unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, die Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung, die Sächsische Staatskanzlei und andere Partner.

Im Folgenden werden zwei dieser Panels vorgestellt.

Mit der Bedeutung des Rechts im Kontext politischer Transformationsprozesse beschäftigte sich das Panel Gesellschaft imaginieren – Gesellschaft neu gestalten, das jenseits einer Auseinandersetzung mit den „großen“ normativen Texten das konkrete Handeln der historischen Akteure in den Blick nahm. Aus kulturhistorischer, rechtssoziologischer wie literaturwissenschaftlicher Perspektive wurden dabei Zeiten des Umbruchs und der Neuorientierung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert beleuchtet und gleichsam als Phasen der Verunsicherung und der Unklarheiten, des Abwägens und Aushandelns im Feld der Rechtskultur in den Fokus gerückt.

AGNIESZKA ZAGAŃCZYK-NEUFELD (Bochum) thematisierte hierbei zunächst Vorstellungen vom „polnischen“ Recht im Kontext der Teilungen Polen-Litauens im späten 18. Jahrhundert sowie der Entstehung der Zweiten Polnischen Republik seit 1918. Indem sie die Koexistenz unterschiedlicher, teils auch konkurrierender Rechtsformen in den Gebieten des späteren polnischen Nationalstaates herausstellte – vom Litauischen Statut über den Code Civil bis hin zu Gewohnheitsrechten und Adelsprivilegien –, machte sie das „polnische Recht“, auf das sich Juristen nach dem Ersten Weltkrieg beriefen, als Konstrukt sichtbar, das dem neuentstandenen Staat rechtshistorische Legitimität verleihen sollte und dessen territoriale Einheit dergestalt naturalisierte. In den kresy wschodnie, den „Ostgebieten“, geriet polnische Rechtspflege damit zugleich zu einem kulturmissionarischen Projekt, das gerade Bürger nichtpolnischer Ethnizität potenziell marginalisierte. Die vom jüdischen Abgeordneten Izaak Grünbaum (1879–1970) in diesem Zusammenhang kritisierte „bürgerliche Ungleichheit“ brach sich mit dem autoritären Sanacja-Regime nach 1926 denn auch verstärkt Bahn.

Im Anschluss plädierte YVONNE KLEINMANN (Halle) für einen entstehungsgeschichtlich-kontextualisierenden Blick auf Prozesse der Verfassungswerdung. Dabei untersuchte sie anhand sogenannter „kleiner Verfassungen“ mit Entwurfs- und Interimscharakter die Verfassungsdiskussionen nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg im diachronen Vergleich. Beiden Kontexten gemeinsam waren die schwierigen, durch soziale Not und enorme Kriegsschäden geprägten Bedingungen, unter denen nach einem politischen Systemwechsel ein „polnischer Staat“ neu geordnet werden musste, mithin also eine rechtliche Liminalität in Phasen soziopolitischer Transformation. Während jedoch die formal als Vertrag des Sejm mit Józef Piłsudski (1867–1935) zu wertende „kleine Verfassung“ von 1919 vor dem Hintergrund einer Fortdauer unterschiedlicher Rechtssysteme aus der Teilungszeit sowie ideologischer Divergenzen in dem neuen, territorial noch nicht klar konturierten Gemeinwesen einen parlamentarischen Minimalkonsens darstellte, war der analoge Prozess ab 1944 durch eine zunehmende Dominanz sowjetischer Akteure geprägt. So blieb denn auch die Verfassung von 1952 – nachdem bereits mit dem Verfassungsgesetz von 1947 ein Abbau demokratischer Strukturen offenkundig wurde – inhaltlich im Entwurfsstadium stecken, da ein gesellschaftlicher Grundkonsens fehlte.

Einen literaturwissenschaftlichen Zugang zur Skizzierung einzelner Aspekte polnischer Rechtskultur in der Zwischenkriegszeit wählte in der Folge ALFRED SPROEDE (Münster). Am Beispiel von Werken Jerzy Szaniawskis (1886–1970), Zofia Nałkowskas (1884–1954) und Witold Gombrowiczs (1904–1969) veranschaulichte er die Auseinandersetzung von Literaten mit Verrechtlichungsprozessen insbesondere zur Zeit der autoritären Sanacja, in der viele Juristen zunehmend gegen Gewaltenteilung und „Verfassungsfetischismus“ polemisierten. Literarische Zeugnisse zeichneten entsprechende Milieubilder, verhandelten juristische Problematiken aber auch auf komödiantische Weise: In Szaniawskis 1929 erschienenem Schauspiel „Der Anwalt und die Rosen“ (Adwokat i róże) tritt der titelgebende Anwalt als Vorkämpfer des „milden“ Richterrechts auf. Der Freispruch des Angeklagten problematisiert dabei insofern die zeitgenössisch übliche Form konzilianter Gesetzesauslegung, als der Protagonist das Verfahren letztlich durch Zurschaustellung seiner „sarmatischen“ Gesinnung für sich zu entscheiden scheint, das geltende Recht mithin vor der historisch-sozialen Autorität des Gutsadels (ziemiaństwo) das Nachsehen hat.

Abschließend warf PAULINA GULIŃSKA-JURGIEL (Halle) einen Blick hinter die großen „Schlüsselmomente“ der polnischen Transformation 1989/90, namentlich auf Nebenschauplätze, die bei der (Vor-)Geschichte der Gespräche am Runden Tisch im Frühjahr 1989 meist außer Acht gelassen werden. Indem sie anhand von Sitzungsprotokollen des Sejm der 9. Wahlperiode (1985–1989) den rechtlichen Kontext und Akteure aus der zweiten Reihe beleuchtete, zeigte sie einen Handlungsrahmen auf, der weit über die bekannte historiographische Narration hinausreicht: Prägend für das Selbstverständnis der Abgeordneten, die sich gegen das Narrativ des Zeitdrucks verwehrten und auf die regulären Abläufe parlamentarischer Arbeit pochten, waren die (idealisierte) Bedeutung der Verfassung für rechtliche Kontinuität sowie die Versuche aller Parteien, eigene Akzente zu setzen und dergestalt einer Geringschätzung des Sejm entgegenzuwirken. Das Handeln der Akteure konstituierte damit einen Demokratisierungsprozess „von unten“, abseits der weithin sichtbaren Gespräche am Runden Tisch, ist für Gulińska-Jurgiel also stärker als Prozess der Selbstermächtigung als einer Selbstentmachtung zu werten.

Wie im Kommentar von CLAUDIA KRAFT (Wien) und in der anschließenden Diskussion hervorgehoben wurde, durchzogen zwei große Fragen die einzelnen Vorträge und Verortungen des Panels: die nach dem „polnischen“ Charakter von Rechtspraktiken sowie jene nach rechtlicher Legitimität – insbesondere in der Verfassungsfrage. Als polnisches Spezifikum erscheint dabei die Beobachtung, dass vom 18. bis zum 20. Jahrhundert Verfassungsentwürfe stets vor dem Hintergrund politisch-militärischer Ausnahmesituationen erarbeitet werden mussten, die Rechtsfindung mithin als komplexer, in gewisser Weise nie abgeschlossener Aushandlungsprozess zu verstehen ist. Eine große Stärke aller Vorträge war ihre konsequente Ausrichtung auf akteurszentrierte Perspektivierungen, die gerade diese Prozesshaftigkeit in den Fokus rückten und im Rahmen von Einzelstudien analytisch sichtbar machten.

Ausgehend von der These, dass die Teilungen Polen-Litauens am Ende des 18. Jahrhunderts einen erheblichen politischen Umbruch in der europäischen Geschichte darstellten, beschäftigte sich das Panel Zwischen Adaption und Marginalisierung: Neue und alte Expertise im geteilten Polen-Litauen (1790–1830) mit der Bedeutung dieses Umbruchs in den Bereichen Wirtschaft und Bildung. Die Referenten legten den Fokus dabei auf Wissenskompetenz(en), da jede neue Herrschaft partiell auch neues Wissen erforderte und sich an vielgestaltige lokale und regionale Kontexte anpassen musste.

Zunächst untersuchte BENEDIKT STIMMER (Wien) die Auswirkungen des Endes polnischer Eigenstaatlichkeit auf Bildungsinitiativen. Dabei wurden das gängige Germanisierungsparadigma infrage gestellt und der Umgang mit der Sprachenfrage und der Integration polnischer Gebiete in Preußen und in der Habsburgermonarchie genauer betrachtet. In verschiedenen Bildungsprojekten gingen die Teilungsmächte mit der Problematik der Erziehung durch Vermittlung der deutschen Sprache unterschiedlich um, wobei besonders in den ersten Jahren nach den Teilungen Versuche unternommen wurden, die neue Bildungslage möglichst konfliktfrei zu gestalten. Anhand von Quellenbeispielen konnte Stimmer demonstrieren, wie Spannungen zwischen Unifizierungsansprüchen und gegenseitiger Anpassungsbereitschaft pragmatisch vor Ort gelöst werden konnten. Dabei wurde an einigen Stellen deutlich, dass trotz politischer Umbrüche bestimmte Kontinuitäten in der Bildungspolitik verzeichnet werden können.

Der Beitrag von MARKUS NESSELRODT (Frankfurt (Oder)) widmete sich der Biographie des heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Bankiers Samuel Anton Fränkel (1773–1833). Fränkel stammte aus einer angesehenen jüdischen Bankiersfamilie aus Berlin. Nach der Dritten Teilung Polens und der folgenden Integration Warschaus in die neu geschaffene Provinz Südpreußen zog Fränkel an die Weichsel, wo er in die wohlhabende Familie Zbytkower-Jakubowicz einheiratete. Diese hervorragenden Startbedingungen verhalfen dem Neuankömmling zu einer bemerkenswerten beruflichen Laufbahn. Nesselrodt bezeichnete Fränkel als international sehr gut vernetzt, risikofreudig, engagiert und in die für ihn neuen polnischen Verhältnisse bald gut integriert. Infolge des Einzugs der französischen (1806) und der russländischen Armee (1813) konnte Fränkel seine Geschäfte dank internationaler Kontakte in einer Zeit politischer Umbrüche sogar ausbauen und sich als angesehener Bürger der Stadt Warschau etablieren. Fränkels Lebensweg könne mithin als gutes Beispiel für neue (wirtschaftliche) Expertise im geteilten Polen-Litauen gelten.

Der Kommentar von YVONNE KLEINMANN (Halle) und die nachfolgende Diskussion konzentrierten sich auf die Auswirkungen der Teilungen auf die Gesellschaft und ihre verschiedenen Interessensgruppen sowie auf die Rolle von Großnarrativen wie beispielsweise der „Germanisierung“ für eine mikrohistorisch orientierte Forschung. Gerade die Fokussierung einzelner Lebensläufe oder Institutionen erlaube es, Kontinuitäten zu verfolgen, die in diesen Großnarrativen strukturell ausgeblendet werden. So zeigte sich etwa, dass weniger nationale oder konfessionelle, sondern viel mehr ökonomische Aspekte zu den wichtigsten Merkmalen gehörten, die die damaligen Gesellschaften organisierten. Anregend war die Schlussfolgerung, dass in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch keine umfassende Welle der Nationalisierung spürbar war, wie sie das spätere Jahrhundert prägte – eine Beobachtung, die den Anstoß für ein weiteres Nachdenken über Forschungskategorien geben kann, die diesem frühen Zeitraum des „langen“ 19. Jahrhunderts gerecht werden.

Konferenzübersicht:

Panel IV.5: Gesellschaft imaginieren – Gesellschaft neu gestalten. Akteur:innen des Rechts in Zeiten politischer Transformation
Yvonne Kleinmann (Halle) / Paulina Gulińska-Jurgiel (Halle): Sektionsleitung

Agnieszka Zagańczyk-Neufeld (Bochum): Recht und „Volksgeist“. Debatten über „polnisches“ Recht nach den Teilungen Polen-Litauens und nach 1919 am Beispiel des russischen Teilungsgebiets

Yvonne Kleinmann (Halle): „Meilensteine“. Verfassungsentwürfe und „kleine Verfassungen“ in der polnischen Geschichte

Alfred Sproede (Münster): Aufhaltsame Verrechtlichung. Billigkeit (słuszność) und Rechtsnihilismus in politischen und literarischen Medien der Zweiten Republik

Paulina Gulińska-Jurgiel (Halle): Recht als Mittel zur Selbstentmachtung. Nebenschauplätze der polnischen Transformation am Beispiel des Sejms der 9. Wahlperiode

Claudia Kraft (Wien): Kommentar

Panel VI.3: Zwischen Adaption und Marginalisierung. Neue und alte Expertise im geteilten Polen-Litauen (1790–1830)
Markus Nesselrodt (Frankfurt (Oder)): Sektionsleitung

Markus Nesselrodt (Frankfurt (Oder)): Transnationale Netzwerke und lokale Verankerung. Der Bankier Samuel Anton Fränkel in Warschau (1800–1830)

Benedikt Stimmer (Wien): „Toleranz und allgemeinen Bürgersinn verbreiten“. Aufklärerische Bildungspraktiken in den habsburgischen und den preußischen Teilungsgebieten Polen-Litauens um 1800

Kateryna Pasichnyk (Halle): Medical Tradition during Shifts in Political Rule. Jewish Barbers in the Southwestern Lands of the Russian Empire (entfallen)

Yvonne Kleinmann (Halle): Kommentar